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Ausgabe:

1950 Nr. 7

Spalte:

440

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Quervain, Alfred de

Titel/Untertitel:

Humanismus und evangelische Theologie 1950

Rezensent:

Siegfried, Theodor

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 7

440

Versuch nicht aufgegeben zu werden braucht, das Dasein als
Zeitlichkeit zu verstehen. Nur wird diese Aussage jetzt die
Schemenhaftigkeit philosophischer Formalität verlieren und
die Inhaltlichkeit des Lebens Jesu gewinnen. So wird man
auch aus dem unverbindlichen Zwischenreich philosopischer
Möglichkeiten herauskommen und auf der einen Seite für die
Aussagen exakter Wissenschaft frei werden und auf der
anderen Seite zur Verbindlichkeit des Kerygmas der Kirche
gelangen.

Wir danken dem Verf. des vorliegenden Buches die Arbeit
an einem entscheidenden Problem der Gegenwart. Besonders
erfreuen die Abschnitte über Dilthey und Nietzsche. Sein
philosophisches Gespräch mit der Existenzphilosophie ist beachtlich
, und er vermag ihr schon ein eigenes philosophisches
Existenzsystem entgegenzustellen. Nur scheint es, daß der beabsichtigte
Beitrag für das Gespräch mit der Existenzphilosophie
theologisch gewichtiger würde, wenn die oben aufgezeigte
Schwierigkeit überwunden wäre.

Die schier unübersehbare Fülle der durchgearbeiteten
Probleme macht das Buch eines gründlichen Studiums wert.

Erfurt Heinrich Benckert

Williams, Daniel Day: God's Grace and Man's Hope. New York: Har-
pers <S Brothers 1949. 215 S. Geb. $2.75.

Prof. Williams hat der theologischen Wissenschaft ein
ausgezeichnetes Buch beschert, das angesichts des gar zu buntscheckigen
Gebrauchs der Bezeichnungen ,.liberal" und „orthodox
" in besonnen abwägender Weise mit Liberalismus und
Neu-Orthodoxie klar und gründlich abrechnet. Die acht inhaltreichen
Kapitel hätten einfach „Gott der Schöpfer und
Erlöser" benannt werden können. Mit Recht sieht Verf. nicht
nur auf dem amerikanischen Hintergrund der kirchlichen und
theologischen Arbeit die Gegensätzlichkeit der beiden erwähnten
Standpunkte nicht derart, daß eine schlichte Wahl
zwischen ihnen zu treffen ein einfaches Geschäft wäre. Er
meint vielmehr, daß eine solche Wahl gar nicht in Betracht
kommen könne, ehe nicht beiderseits die auf beiden Seiten
ganz verschieden verkehrte, die christliche Grundidee nicht
achtende Stellungnahme zur Erlösung bereinigt wäre. Denn
beide entbehren gerade des Momentes, durch dessen Einfügung
in das Programm ihrer Theologie eine gegenseitige Abgrenzung
möglich würde. Beide Schulen übersehen, wie Williams ausführt
, den eigentlichen christlichen Glaubenspunkt, daß Gott
nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Erlöser ist; wobei
wiederum nicht übersehen werden sollte, daß die erlösende
Gnade ebenfalls die richtende ist.

Demgemäß wird der Leser zunächst mit der Frage befaßt
, wieso der Liberalismus überhaupt das Bedürfnis nach
Erlösung nicht kennt, während die „Neu-Orthodoxie" bei ausdrücklicher
Anerkennung dieses Bedürfnisses für die tatsächliche
Auswirkung der Erlösung, sei es im Individuum oder in
der Gesellschaft, keinen Raum behält. Gerade die Neu-Orthodoxie
behandelt den Erlösten genau wie den Unerlösten, sofern
er kein wesenhaft geändertes Verhältnis zu Gott besitzt.
Da nun aber, wie Verf. eindringlich erhärtet, nur dann die Erlösung
etwas Tatsächliches, etwas dem Begriffe Entsprecheudes
bedeutet, wenn die vollständige Umänderung der menschlichen
Existenz vollzogen oder im Vollzug begriffen ist, so muß
jede christliche Theologie die Möglichkeit behandeln, daß der
Mensch auf die machtvoll in ihm wirkende Gnade in der Weise
antwortet, daß er all sein Sinnen und Trachten auf das Gottesreich
richtet. Sie wird das zu behandeln haben im Zusammenhange
mit der Lehre von dem neuen Menschen, der an die
Stelle des alten gesetzt worden ist. Dies eben ist nach Verf. der
Punkt, den die Neu-Orthodoxie (z. B. Barth, Niebuhr) nicht
zentral zu sehen vermag und weshalb sie das Jesusgebot von
der Vollkommenheit abschwächt und die Neu-Ritschlsche
(Ausdruck nicht vom Verf.) Kritik am Pietismus übt.

Von verschiedenen Gesichtspunkten aus, besonders von
den Anforderungen des öffentlichen Lebens, betont Williams,
daß, wenn die menschliche Existenz keinen Sinn hat ohne die
Voraussetzung, daß sie durch Gottes Gnade erlöst ist bzw.
wird, die Neuheit des Daseins das wichtigste Thema für uns
ist. Er zeigt sodann, daß solcher Neuzustand selbstverständlich
nicht durch „christliche Imprägnierung" der weltlichen
Unordnung zustande kommen kann. Mit Bezug auf diese Neuheit
kann Verf. das kühne Wort, das er selbst sofort als eine
„radikale Behauptung" bezeichnet, schreiben: „Der Gott, welcher
uns gegenwärtig ist, kann durch unsere Erfahrung von
ihm erkannt werden".

Ausdrücklich bekennt sich Verf. zu der These der Neu-
Orthodoxie, daß der Mensch, der sich in der Gefolgschaft
Christi befindet, nie über Versuchungen erhaben ist. Ferner
will er stärkstens betonen, daß es keinen geradlinigen Aufstieg

in dem Fortgang des neuen Lebens gibt. Er nimmt hierbei Gelegenheit
, das Reich Gottes mit den Reichen der Welt zu kontrastieren
, indem er die ethischen Paradoxien innerhalb der
den Personen gegebenen Berufe, nicht zuletzt die im politischen
Leben entstehenden bespricht, die sich gerade aus dem entschlossenen
Eintritt in das Reich der Erlösung hier auf Erden
immerfort ergeben. Aber er erörtert, nicht minder weit ausgreifend
, seine Uberzeugung, daß es für den Christen möglich
ist, die Gnade und Güte Gottes dadurch zu beantworten, daß
er ihre umwandelnde Macht auf sich wirken läßt. Dabei wird
besonders hervorgehoben, daß trotz der neuartigen Lebensrichtung
die Kontinuität mit dem Alten bestehen bleibt, auch
wenn die selbstgenugsamen Kreaturen derart umgewandelt
werden, daß sie ihre Hasser lieben können.

Williams' Grace and Hope, das die lebenswichtigsten
Probleme mit festem Griffe anpackt und weite Gesichtsfelder
aufrollt, dürfte Anlaß zu lebhaften Aussprachen über die
Grundlagen christlichen Glaubens und Handelns werden.

Chicago Karl Beth

Quervain, Alfred de, Prof. d.: Humanismus und evangelische Theologie
. Mainz: Kupferberg 1947. 23 S. 8" = Mainzer Universitäts-Reden
H 10. DM 1.50.

Der Verf. entwickelt einleitend ebenso umsichtig als aufgeschlossen
den Typus des christlichen Humanismus, wie er
von katholischer Seite heute besonders eindrücklich und tiefgründig
von dem großen französischen Philosophen Maritain
vertreten wird. Auf diesem Hintergrund fragt der Verf. nach
der Stellungnahme der evangelischen Theologie zum Humanismus
. Es soll der Humanismus nicht etwa als solcher abgelehnt
werden, sondern die evangelische Theologie hat an je
einen bestimmten Humanismus bestimmte Fragen zu stellen.
„Es ist aber ein Zeichen der Unfreiheit, wenn eine Theologie
ihre Aufgabe darin erblickt, den Humanismus Piatos oder
den Humanismus Goethes und Humboldts oder den französischen
Humanismus der Gegenwart oder den noch weniger
bekannten russischen Humanismus als Illusion zu brandmarken
, wer so handelt, spricht nicht in der Verantwortung
des evangelischen Theologen, sondern in der Bindung an ein
anderes, dem humanistischen Gesetz widersprechenden Gesetz
" (S. 12). Wenn es im Anschluß au diese Worte heißt, daß
„die Theologie der bekennenden Kirche" vor solchem Anti-
liumanismus gewarnt und es aufs schärfste abgelehnt habe,
in eine antihumanistische Kampfesfront sich einreihen zu
lassen, so kann freilich die Frage an den Verf. nicht unterdrückt
werden, wo die Theologie der bekennenden
Kirche als einheitliche Größe zu finden sei. Ganz abgesehen
von bekannten theologischen Spannungen innerhalb der Bekennenden
Kirche müssen wir hier den Verf. an denjenigen
Typus von Bekenntnistheologie erinnern, der sich jene Verfemung
von Humanität, Sozialethik und politischer Ethik zu
eigen machte, welcher auf Grund solcher theologischen Voraussetzungen
an Juden- und Komnmuistenverfolgungen keinen
Anstoß nahm, weil sie nicht den Raum der Kirche betrafen
und weil denn doch das Ganze des Lebens schlechthin unter
Gericht und Gnade falle, kräftig und prinzipiell und existentiell
den Antihuinanismus förderte.

Es mag angehen, daß der Verf. in Auseinandersetzung mit
dem Katholizismus stets uneingeschränkt „die evangelische
Theologie" sprechen läßt, aber es ist damit die doppelte Gefahr
verbunden, daß einesteils die inuerprotestantische Diskussion
, die zur Not, aber auch zum Wesen des Protestantismus
gehört, einfach niedergeschlagen wird und daß auch die
lebendige Auseinandersetzung mit dem Katholizismus nicht
so fruchtbar geführt wird; als es geschehen könnte. Die Frage
nach dem Naturrecht und ebenso die Frage nach dem Verhältnis
von Glaube und Vernunft können nicht in der Art, wie
der Verf. es tut, einfach abgeschüttelt werden. Wenn de Quervain
mehrmals betont, daß der Christ mit dem Humanismus
verschiedenster Prägung eine erhebliche Strecke Wegs gemeinsam
gehen könne, so muß dazu ja im Wesen der Christusbot-
schaft der Grund gelegt sein. Diese Linie, die durch denVerf.
selber prinzipiell ins Recht gesetzt ist, ist leider nicht durchgeführt
. Es wäre dankenswert und fruchtbar, wenn der Verf.
an dieser Stelle das Gespräch mit dem von ihm zitierten, aber
nicht behandelten Vertreter des östlichen Christentums, Berd-
jajew, aufnehmen würde. Wenn der enge Rahmen eines Vortrages
das zunächst nicht zuläßt, so fordert doch die Sache
gerade diese Auseinandersetzung, und wir glauben, daß in
solchen Gesprächen de Quervain auch das hinter seiner Vorlesung
stehende Zentralthema der Menschwerdung Christi
noch substantieller und umfassender entfalten wird.

Marburg/Lahn Th. Siegfried