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Ausgabe:

1950 Nr. 7

Spalte:

427-429

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Michel, Otto

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Hebräer 1950

Rezensent:

Käsemann, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 7

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Michel, Otto, Prof. Lic: Der Brief an die Hebräer übers, u. erki. 2. Lfg.
Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1949. X, 373 S. gr. 8 = Kritisch-
exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Begründet v. H. A. W.
Meyer. 13. Abt. 8. Aufl. Je Lfg. DM 10.50; geb. zus. DM 24.—.

Die neue Auflage hat dem Kommentar ein anderes Gesicht
gegeben, obgleich man die Kontinuität zur alten immer
wieder bis in die Einzelheiten hinein verfolgen kann. Das gilt
schon äußerlich, sofern das Werk um mehr als die Hälfte seines
früheren TJmfangs gewachsen ist. Es gilt vor allem von der
Darstellungsweise. Lag vorher das Schwergewicht auf der zuweilen
das Erbauliche streifenden Entfaltung des Kerygmas,
liegt es nunmehr auf der historischen Analyse, der die Erweiterung
— zumal in vielen Anmerkungen — fast ausschließlich
zugute kam. Die straffer zusammengefaßte theologische
Betrachtung hat darunter nicht gelitten, sondern ist nur
stärker und besser verankert. Mir scheint die Änderung ein
großer Gewinn für den Kommentar wie seine Leser zu sein.
Die aufgewandte außerordentliche Mühe verdient unsern
Dank. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß sich bei
der Umarbeitung eine Reihe von sich stoßenden, ja widerspruchsvollen
Aussagen im einzelnen eingeschlichen haben,
auf die bei einer etwaigen künftigen Auflage geachtet werden
sollte.

Genaueres Zusehen ergibt, daß die Exegese von 7, 4 bis
10, 18 nach Inhalt und Gestalt am meisten die alte Form bewahrt
. Dagegen beanspruchen Einführung und Interpretation
des ersten Briefteils je doppelt so viel Raum wie früher, die
Schlußkapitel um die Hälfte mehr. Das besagt praktisch, daß
die begriffs-, motiv- und religionsgeschichtliche Problematik
thematisch angefaßt und gefördert worden ist, daß M. sich
zweitens in den Kreis derer reiht, welche den Bekenntnisformulierungen
und geprägten Traditionen liturgischer und
katechetischer Art in unserm Brief intensiv nachgehen, und
daß er drittens der Schlußparänese erhöhte Aufmerksamkeit
gewidmet hat.

Der von mir vorgetragenen These gnostischen Einflusses
bzw. christlicher Abwandlung gnostischen Gutes steht er reserviert
und kritisch gegenüber. Dazu veranlaßt ihn sowohl das
leidenschaftliche Interesse daran, daß die Bedeutung der Geschichte
Jesu für den Brief und die Kirche nicht durch die
Annahme mythischer Einschläge in die Christologie gefährdet
wird, wie die Uberzeugung, daß Hebr. in der „exegetischen
Tradition" des Rabbinates steht. Das erste Anliegen begreife
ich zwar, kann ihm jedoch den von M. behaupteten Platz im
Brief selber nicht einräumen. Wie bei Paulus, Johannes und
der Apokalypse verschwinden ja die wirklichen Hinweise auf
das Leben Jesu im Kerygma vom Christus. Tod und Auferstehung
werden zwar als historische Fakta vorausgesetzt,
aber die Verkündigung stellt nicht ihre Faktizität, sondern
ihre eschatologische Bedeutsamkeit für die Gemeinde heraus.
Auch die Bevorzugung des absolut gebrauchten Jesusnamens
im Hebr. bezeugt nicht eigentlich historisches Interesse, weil
sonst doch in stärkerem Umfang synoptischer Stoff herangezogen
werden müßte, sondern die Identität von Gekreuzigtem
und Erhöhtem, also in Antithese zu antiken Heilanden
und mythischen Erlösern die Realität des Geglaubten. Nach
meiner Meinung können allein die Anspielungen auf Gethsemane
in 5, 7 und auf Jesu Sterben vor dem Tor als Argumente für
ein konkretes Wissen um das „Leben Jesu" und die synoptische
Tradition gewertet werden. Selbst sie sind nicht über
jeden Verdacht erhaben, zum mindesten nicht völlig eindeutige
Reminiszenzen und werden nur paränetisch verwendet
. Der Historiker muß sich mit der Tatsache abfinden,
daß die Urchristenheit weithin dem historischen Jesus merkwürdig
uninteressiert gegenüberstand, weil sie des erhöhten
Herrn und seiner Gegenwart gewiß war. Gerade darum rückt,
wie M. zugesteht, die am Kreuz beginnende Inthronisation des
Christus in den Mittelpunkt des Briefes. Daß es im Hebr.
wirklich und ausschließlich um den geschichtlichen Jesus geht
(S. 346), vermag ich deshalb nicht anzuerkennen, wenn das
mehr besagen soll, als daß die Identität des Erhöhten mit dem
historischen Jesus selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Komplizierter ist die Frage der „exegetischen Tradition"'
Vielleicht darf zunächst hervorgehoben werden, daß die sachliche
Ubereinstimmung erstaunlich weit geht, weiter auch, als
M. in seinen Äußerungen zum Thema der Gnosis erkennen
läßt. Sein Kommentar ist ein neuer Beweis dafür, daß der alte
Gegensatz zwischen „Rabbinisten" und „Hellenisten" grundsätzlich
antiquiert genannt werden darf, so gewichtige methodische
und sachliche Differenzen uns im einzelnen jeweils
trennen mögen. Der Anspruch ausschließlicher Geltung wird
auf keiner Seite mehr erhoben. Emig sind wir in der Behauptung
, daß apokalyptische Tradition des Judentums und helle- |

nistische Terminologie und Motivation Hebr. in den Horizont
der Diasporasynagoge und ihr entstammender Christenheit
stellen, einig auch in der Präzisierung dieses Urteils, sofern
wir Philos Spiritualismus und Psychologisierung in Hebr. nicht
entdecken können, jedoch auf vorderorientalisches Erbe verweisen
müssen. Solcher consensus dürfte wesentlicher als der
deshalb noch nicht verleugnete dissensus sein.

Trotz mancher programmatischer Äußerung und einzelner
überzeugender Analysen (etwa zu 3, iff. oder c. 11) scheint
mir bei M. das Problem nicht in gebotener Schärfe und Abgrenzung
angefaßt zu sein, inwiefern über die Diasporasynagoge
palästinisches Gut übernommen wird, — ein Problem,
dessen Tragweite für das ganze NT sich wohl erst abzeichnet
und dessen Schwierigkeiten noch unübersehbar sind. Im vorliegenden
Fall spitzt sich das konkret auf die Frage zu, mit
welchem Recht M. so betont Apokalyptik und Gnosis zu scheiden
versucht, obgleich er esoterische Lehren des Rabbinats
und gnostische Elemente in der Apokalyptik kennt (S. 5. 16.
121) und seit LXX eine hellenistische Apokalyptik voraussetzt
(S. 6of.), vielfach auf Parallelen und Berührungen zur Gnosis
hinweist, hellenistisch-orientalische Erlöserlehre (S. 77), Verwandtschaft
mit Kol., Apk., Joh. (z. B. S. 79), mit 3. Henoch
oder den Testamenten der 12 Patriarchen konstatiert, unsern
Brief judaistische Gnosis abwehren (S. 340. 370) und selber
Christus-Gnosis vortragen läßt (S. 5. 341. 370). Wie kann
dann das Ergebnis lauten, daß es eigentlich gnostische Züge
in Hebr. nicht gibt (S. 68), sondern nur ein vorgnostisches
apokalyptisches Denken, das jedoch gnostische Parallelen hat
und die Gnostik seinerseits beeinflußt (S. 69) ? Fallen wie
anderswo in Hebr. der zukünftige und der transzendente Äon
zusammen, läßt sich Dualismus doch nicht einfach bestreiten
(S. 285). Er ist nur eigenartig gebrochen So kennzeichnet die
Diastase „himmlisch-irdisch" ja den ganzen Brief bis in die
Paränese hinein. Das wird freilich verwischt, wo man himmlisch
und vom Himmel kommend identifiziert (S. 148), die
„Ruhe" nicht transzendentes Gut bleiben läßt (S. 104) und
die sehr fragwürdige Kategorie des Gleichnisses oder Bildes
diesem Terminus wie andern gegenüber anwendet (S. 103. 203.
229), die Sündlosigkeit Jesu — den Charakter des Offenbarers
als des Himmelsmenschen! — aus der synoptischen Tradition
ableitet (S. 125f.). So muß man auf die Frage nach der Beziehung
von 7, 3 zum Urmensch-Mythos (S. 162) doch einfach
auf die Negationen des Textes hindeuten, und kann man
die Oden Salomonis doch nicht eine der Gnosis parallele
Weiterbildung des Psalters nennen (S. 86). All das begreift
sich nur aus der Angst vor dem Mythischen, das der Gnosis
reserviert bleiben soll. Aber mythisch ist der Struktur nach
jede apokalyptische Aussage. Auch der Rückgriff auf alttesta-
mentlich-jüdische Tradition nützt hier nicht. Selbst wenn man
das „Gesetz der Exegese" (S. 96) und „biblizistisches Denken"
(S. 193 Anm. 1) im Hebr. anerkennt, ist nicht zu übersehen,
daß die Häresie ebenfalls Exegese treibt, die alttestamentliche
Tradition teils legendarisch erweitert aufgegriffen, teils wie
Ps. 8, 6 in 2, 8ff. gnostisch interpretiert wird, ja selber erheblich
mythisch bestimmt ist. Unter solchen Umständen müßte
die Behauptung, daß die Exegese in Hebr. sich von der syna-
gogalen, der hellenistisch spiritualisierenden und gnostisch
mysteriösen unterscheidet (S. 48), in ständiger, aufs genaueste
differenzierender Analyse als berechtigt erwiesen werden, während
das eigentlich nur Philo gegenüber geschieht. Ebenso
müßte gezeigt werden, inwiefern die exegetische Methode als
solche wie nach der von ihr behandelten Tradition vor der
Gnosis schützen, von ihr distanzieren konnte. So gern ich hier
dazugelernt hätte, ist mir an dieser Stelle nur die Schwäche
in M.s Argumentation bewußt geworden. Doch kann ich wohl
darauf verzichten, diese Kritik von der Grundpositiou aus
zu den Einzelheiten vorzutreiben.

Auch die Untersuchung der liturgisch-hymnischen Uberlieferung
und der Paränese soll nicht explizit behandelt werden,
da sich dabei die Sonderprobleme häufen, abschließende Resultate
vorläufig kaum zu erwarten sind und ich im allgemeinen M.
nur zustimmen kann. Es stehe dahin, ob man 1, 3. 4, 12L 7, 3.
26 und überzeugender 13, 20 als Gedichtfragmente bezeichnen
darf. Jedenfalls hat M. hier wie zu 13, 14 sorgfältig und eindrücklich
Bekenntnisformulierungen nachgewiesen. Von einer
sich in Hebr. bekundenden christlichen Kultsprache wird man
tatsächlich nicht bloß zu 13, 15ff. zu sprechen haben (S. 358),
Die Charakteristik „gesammelte Tradition" (S. 369) trifft die
Eigenart des Briefes wirklich. Die Analyse der Schlußparänese
ist vortrefflich und führt über bisherige Einsichten weit hinaus
. Daß auf dieser Paränese, nicht auf der theologischen Beweisführung
das Hauptgewicht ruhe (S. 5), kann ich nur unterstreichen
. Allerdings ziehe ich daraus die Konsequenz, daß
nicht die Entfaltung des christologischen Kerygmas, sondern