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Ausgabe:

1950 Nr. 6

Spalte:

365-367

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Baumann, Marianne

Titel/Untertitel:

Der Traum im Werk von Jeremias Gotthelf 1950

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 6

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idealistischen Gesinnung, die mit dem Christentum ernst
macht. So etwa am 5. XI. 1878:

„Seht, der Wind dreht sich; die alten Götter leben noch. Unsinn. Das
Christentum ist nicht tot. Es steckt uns unvertilgbar im Geblüt (anima naturaler
christiana!), und wir haben uns nur darauf zu besinnen. Jeder, der sich
prüft, wird einen Rest davon in sicli entdecken. Und diese Reste müssen Keime
2" neuem Leben werden."

Es ließe sich noch vieles dazu sagen. Doch brechen wir
aP mit dem nochmaligen Dank an den verehrten Verf., der
einen Dichter der Gegenwart in kirchengeschichtlicher Schau
betrachten half.

Berlin Otto Lerche

Baumann, Marianne: Der Traum im Werk von Jeremias Gotthelf.

Bern: Paul Haupt 1945. XII, 119 S. gr. 8°. Kart. Sfr. 6.—.

Das dichterische Werk Jeremias Gotthelfs ist erst mit
Hilfe der neueren Tiefenpsychologie tieferem Verständnis erschlossen
worden. Walter Muschg hat 1931 in seinem genialen
Gotthelf-Buch (Gottheit, Die Geheimnisse des Erzählers; München
: Beck), die Balm gebrochen und den Weg zu der Tiefen-
s.chicht gewiesen, die unter der bäuerlich-bürgerlich-pfarrer-
Jichen, veniiinftig-nioralisch-religiösen Oberfläche des Dichters
liegt, und damit zu dem Wesen und Sinn seiner Dichtung,
nie aus diesen Tiefen herausgebrochen ist. (Vgl. dazu Wilhelm
Knevels: Eine sensationelle Deutung Jeremias Gotthelfs in:
^eisteskampf der Gegenwart; Gütersloh: Bertelsmann 1933,
J39—148.) Eine Untersuchung über den Traum bei Jeremias
gotthelf müßte uns auf diesem Wege weiterbringen, denn im
irauni enthüllt sich ja die geheime unbewußte Welt. Aller-
uuigs schildert Gotthelf keine von ihm selbst geträumten
iräunjg (wie etwa Jean Paul) außer einem allerdings sehr aufschlußreichen
(in einem Brief an Hagenbach: Jer. Gotthelf
und K. R. Hagenbach, Briefwechsel 1841—1853, hrsg. von
*■ Vetter, Basel 1910, S. 21), den ich jedoch nicht (wie
Muschg) als beispielhaft für seine Traumgewohnheit ansehen
möcllte- Was wir bei ihm lesen, sind gedichtete Träume,
Mucke seiner Dichtungen, Mittel seiner dichterischen Darstellung
. Es steht keineswegs fest, ob eigene Träume (oder
Tjräume anderer) ihm das Muster dafür abgegeben haben — es
Konnte sehr wohl sein, daß er sein eigenes Traumleben absichtlich
nicht benutzt und enthüllt hat! —, wenn auch gleiche
-lotive, übrigens allgemein verbreitete, in jenem von ihm erzählten
eigenen Traum und den Träumen in seinen Dichtungen
auftreten. Aber daß wir bei den vielen Träumen, die er ausführlich
schildert (Marianne Baumann erwähnt etwa 40 von
jni ganzen 50), und vielleicht noch mehr bei seinen vielen
kürzeren Schilderungen von Träumen und Erwähnungen von
V^nnimotiven, da bei diesen am wenigsten bewußte Gestaltung
vorliegt, seinen Untergründen, seinem Innersten und
Geheimsten nahe sind, kann nicht zweifelhaft sein. Eine Untersuchung
darüber müßte erhellen, r. inwiefern Gotthelf die
Träume als dichterische Mittel verwendet hat — und das gilt
für alle, nicht nur für „Ein Traum" in den Kalendergeschich-
'en —. was sie also im Rahmen seiner Dichtung bedeuten
w n' und 2. was sie an sich verraten und welche unbewußten
Welten an ihnen ablesbar oder erspürbar sind, denn zeigen
sich diese auf jeder Seite seines Gesatntwerkes, so werden sie
gewiß besonders da in Erscheinung treten, wo er Träume
schildert oder von Träumen spricht, auch wenn es nicht seine
eigenen sind. Es wäre also zu fragen: nach der Verwendung
Träumen und Traummotiven im dichterischen Werke
Gotthelfs und nach ihrem Urinhalt bzw. Tiefensinu.

Marianne Baumann widmet sich hauptsächlich dem ersten Fragen-
I omplex. Mit einem meisterlichen Überblick führt sie in die Fülle der in den Dich-
^ungen Jeremias Gotthelfs erscheinenden Traumwelt ein und teilt die Träume
" solche' d'e Wünsche, Befürchtungen, frühere Erlebnisse, Zweifelslagen
' ersP'egeln, solche, In denen die „Gedankengänge" gemischt sind, und
o che (wohl besonders zu beachtenden), in denen das Gewissen spricht und
ren Gegenstand ein verborgenes Wissen bildet, das im Gegensatz zur bewußten
Einstellung steht. Sie zeigt, außerordentlich plastisch, wie alle Träume
irgendwie das innerste Wesen von Menschen enthüllen und aufdecken, und wie
'es der Dichter bei ihrer Darstellung beabsichtigt, wobei er nicht müde wird,
zu betonen, wie wenig der (bewußte) Mensch sich selber (und andere) kennt.

arianne Baumann zeigt sehr lebendig, welchen verborgenen Gehalt die
^räume hierin zu Tage [fördern, und sie schildert dann die seelische
irkung, die sie ausüben. Auf diese kommt es im Zusammenhang der
Dichtung offensichtlich an: Die Erwachten sind erschreckt, beglückt, er-
f uttert, gestärkt, erquickt, in Reue versetzt, ja in eine veränderte Lebensrichtung
gewiesen. Hierbei bricht eine Frage hervor, die m. E. die Kernfrage
■ und die Marianne Baumann nicht scharf genug stellt: Übt der Traum selbst
e Wirkung aus und bestimmt also der Trauminhalt (d. h. ein Unbewußtes)

macht sich den Traum in seiner Weise nach seinen bewußten Maßstäben zunutze
?

Einerseits stellt Marianne Baumann bei Jeremias Gotthelf fest, daß
Menschen dem Traum willenlos ausgeliefert seien, daß in dem Unbewußten,
das im Traum zum Ausdruck kommt, die geheime Werkstätte unseres Wohles
und Wehs, der fruchtbare Schoß unserer Worte und Taten sich befinde, daß
in Träumen ein unbewußtes (richtigeres) Wissen hervorkomme, daß in die
Traumwelt hinein Gottes Kraft Licht spende und daß, wie Gotthelf immer
wieder sagt, der Traum eine göttliche Schickung und Fügung darstelle. Andererseits
betont sie außerordentlich stark, daß der Mensch nach der Ansicht Gotthelfs
mit den Träumen (wie mit allem von Gott Gegebenen) als mit einem
„Pfunde" „wuchern" müsse und daß das Wachbewußtsein, die Einstellung
und die Überlegung des wachen Menschen den Traum zu bearbeiten und zu
benutzen habe. Beide Gedankengänge sucht sie zu kombinieren (wobei aber
der erste gegenüber dem zweiten verschwindet): es stehe letzten Endes im
freien Vermögen des Menschen, Meister seiner Gedankenwelt (und Traumwelt
) zu werden; der Mensch habe „eine gewisse Möglichkeit, kraft des Bewußtseins
auch die unbewußten Gedanken- und Vorstellungswelten in sich
zu lenken, zu bestimmen und frei darüber zu verfügen, — das Unbewußte,
das die Möglichkeit zum Guten wie zum Bösen in sich birgt und dies dicht
nebeneinander gleich zwei verschiedenen ,Minen', die darauf warten, entzündet
zu werden" (S. 74).

Uns erscheint — im Gegensatz dazu, nach dem, was in
den Dichtungen zum Ausdruck kommt, die erste Gedanken-
reihe den Vorrang zu haben und damit die zweite ausgeschlossen
zu sein. Der Traum bei Gotthelf gibt tatsächlich ins wache
Leben Weisung und Lenkung, und wenn er das Innerste offenbart
, so offenbart er es mit einer bestimmten Zielrichtung.
Wie der Traum anzuwenden ist, das bestimmt der Traum
selbst; das, was als Lehre aus ihm gezogen werden soll, steckt
in ihm schon drin. Die Änderung z. B., die der Erwachte nachher
vornimmt, ist im Traum schon da. Der Erwachte braucht
nicht den Traum zu studieren und auf Grund seiner eigenen
Ethik oder der Lehren der Bibel zu deuten, sondern der Traum
setzt sich sozusagen ins wache Leben fort, bricht ins Bewußtsein
und schafft seine Wirkung. Religiös gesprochen, ganz im
Sinne des Dichters: Die Stimme Gottes spricht im Unbewußten,
im Traum.

Zur Erläuterung: Ein Tierquäler könnte etwa träumen, daß er mit
Wonne Menschen quäle, dadurch sein Wesen erkennen und „sich ändern".
Bei Gotthelf aber leidet der Rohling im Traum die Qualen der mißhandelten
Tiere, ist also im Traum kein Quäler, sondern ein Gequälter, dem das, was er
bisher getan hat, wehtut und also bereits leidtut, und wenn sich der Erwachte
ändert, so ist sein Traumleben einfach ins Wache übergegangen („Reisetagebücher
"). Der Schnapstrinker tobt sich im Traum nicht etwa aus, sondern
muß die Hülle, zu der der Schnapsteufel gehört, erkennen, also als Qual erdulden
, was ihm bisher Spaß gemacht hat; er ist daher im Traum schon bekehrt
(Dursli). Jakobli erlebt die schwarzen Richtergestalten und damit den
Abscheu vor der Sünde im Traum selbst („Anne Bäbi Jowäger"). Der an der
Trauer um Tote Zerbrechende bekommt im Traum neue Kraft und fühlt sich
schon beim Erwachen körperlich gesundet („Ein Silvestertraum"). Die Mutter
wird im Traum zur Opfertat aufgefordert („Schwarze Spinne"). Dem Mädeli
droht Christus im Traum. Dies und ähnliche unmittelbar (ohne Symbol) übersinnliche
Inhalte von Träumen, auch Vorwegnahme von Zukünftigem, sind
im Sinne Gotthelfs ernster, sozusagen wörtlich zu nehmen als Beispiele für
seine Auffassung: Träume sind von Gott gesandt, Gott selbst senkt Traumbilder
in die Herzen der Menschen. Dabei bleibt natürlich vorbehalten, daß
Menschen sich gegen den im Traum zum Ausdruck kommenden Gotteswillen
sperren, den Schatz göttlicher Liebe und Weisheit, der in einem Traum liegt,
nicht heben; aber auch in dieser Negation sind sie Getriebene, aus dem Unbewußten
Lebende. So Uli, der Knecht, der von seiner Art nicht loskommt
und daher, die Warnung des Traumes überhörend, in ihm Zukunftsvoraus-
sagungen über das, was er gerade meiden soll, sucht.

Der Traum bei Jeremias Gotthelf ist nicht nur Gegenzeuge
gegen den menschlichen Allmachtswahn (S. 81), sondern auch
gegen den Primat des Bewußtseins, nicht nur Beweis für die
Existenz eines geistigen Seins (S. 77 ff.), sondern göttlicher
Wurzelboden für die Entfaltung der menschlichen Gesamt-
person. Ist er auch Dichtung und Darstellungsniittel in der
Dichtung, so entspricht er doch dem inneren Tatbestände, der
tatsächlichen Haltung und dem wirklichen Wesen Gotthelfs.
Mag G. auch die Macht des freien Willens proklamieren, so sind
doch die unbewußten Mächte stärker. Seine Devise: Vom Tier
zum Engel (S. 54) darf nicht mit Marianne Baumann im Sinne
der fortschreitenden Bewußtwerdung verstanden werden. Die
objektiven Maßstäbe sind bei ihm nicht entscheidend, jedenfalls
nicht im Sinne einer Heteronomie. Er — oder sein „Es" —
holt aus der Bibel (unter auffallender Bevorzugung des AT,
auch in seinen Predigten), aus Christus und aus der „Natur"
(aus der sich ja bestimmt nichts Eindeutiges ergibt) das ihm
Gemäße heraus. Gotthelf lebt und schafft aus einer unergründlichen
Tiefe, aus der ihm fast bewußtlos das Größte zufloß

den Menschen? Oder schaltet der Erwachte frei mit dem Trauminhalt und | (vgl. S. 71). Marianne Baumann bringt dazu viele Belege und