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Ausgabe:

1950 Nr. 6

Spalte:

329-336

Autor/Hrsg.:

Burgwitz, Martin

Titel/Untertitel:

Geschichtsdeutung als theologisches Problem 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 6

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und durch die Tat sichtbar zu machen, daß es für sie kein
anderes Gesetz gibt als die Bindung an ihren Gegenstand.
Mutig hat sie den anderen Wissenschaften voran vorzustoßen
zu dem Grundsatz der reinen Sachbestimmtheit, der strengen
vsachgebundenheit. Sie tut das dann, wenn sie wirklich theologische
Wissenschaft ist, die sich als gläubige Theologie, als
Kirchliche Theologie, als in Gebundenheit und Freiheit lebende
ineologie der Wirklichkeit Gottes in seinem Offenbarungswort
stellt. Angesichts der Bedrohung der wissenschaftlichen
Methode hat die theologische Wissenschaft tapfer den Kampf
anzusagen dem falschen Dogma der Voraussetzungslosigkeit
und sich offen zur Offenbarung Gottes als ihrer großen Voraussetzung
zu bekennen. Hat den Kampf anzusagen der
Pseudowissenschaftlichen Forderung der Neutralität und unbeteiligten
Objektivität und hat sichzum Glauben als der allein
mrem Gegenstande gemäßen Haltung zu bekennen. Hat den
. amP/ anzusagen der Vereinzelung, der freischwebenden Subjektivität
des Forschers und hat sich offen zur Kirche als ihrem
Lebensraum zu stellen. Angesichts des Verlustes der Bezogen-
At al'er Dul8e au^ Gott hat die theologische Wissenschaft die
Aufgabe, durch ihre Arbeit ein Hinweis, eine Beunruhigung

und damit in aller wissenschaftlichen Sachlichkeit eine Verkündigung
zu sein von dem Gott, der die Mitte alles Seins ist
und der uns in Jesus Christus sein Angesicht zugewandt hat.
Wir wissen uns in guter Arbeitsgemeinschaft mit Christen an
Universitäten aller Welt, wenn wir die schöne Formel aufgreifen
, die der Engländer Sir Walter Moberly geprägt hat
von der creative minority, der schöpferischen Minderheit.
Nicht die Universität zu evangelisieren ist der theologischen
Wissenschaft befohlen, wohl aber durch ihr Dasein und ihr
Wirken als echte theologische Wissenschaft solche Beunruhigung
, solcher Hinweis, solche Verheißung zu sein.

So stehe am Schluß der Satz, daß die theologische Wissenschaft
, weil sie an den Glauben, an die Kirche, an die Welt, an
die Wissenschaft gewiesen ist, ganz Theologie sein muß, gebunden
an die Offenbarung Gottes, und ganz Wissenschaft,
hi dieser Gebundenheit verpflichtet zur Offenheit und Freiheit
des Forsches und Lehrens. Im Blick auf die Größe der Aufgabe
vergeht uns jede Lust, die Antwort auf die Frage „Warum
theologische Wissenschaft?" zu geben in Selbstrechtfertigung
und Selbstbespiegelung. Vielmehr ziemt uns die Stille vor der
Größe des Auftrages und der Verheißung.

Geschichtsdeutung als theologisches Problem

Von Martin Burgwitz, Bitterfeld

1 Ii v ^au^c des r9- Jahrhunderts und im Zuge einer immer

ebendiger und umfassender werdenden Geschichtsforschung
t wiederholt die Meinung vertreten worden, man könne die

istonschen Darlegungen auf einer objektiv-wissenschaftlichen
^rundlage so aufbauen, daß eine Wertung der Ereignisse ausschaltet
sei. Ja es sei geradezu ehi wesentliches Interesse

echter Geschichtsforschung, sich auf eine solche neutrale
r' orni zu beschränken, weil allein auf diese Weise echte Ergeb-
ni?.s^zu erzielen seien, die von allen subjektiven Einflüssen
möglichst frei blieben. Es mag in der Tat auch einige Randgebiete
geben, für die sich ein solches Prozedieren zu emp-

enien scheint, und im einzelnen mögen hier und da Forschungsergebnisse
erbracht worden sein.

~, Eme Prüfung solcher Ergebnisse führt jedoch zu dem
* atDestand, daß ein tiefgreifender Unterschied zwischen einem
naturwissenschaftlichen und einem geschichtswissenschaft-
nciien Erkennen besteht. Bei dem ersteren ist allein die Ratio
tatig Sie versucht aus der Vielheit des Gegebenen das zugrunde
hegende Gesetz der Einheit herauszuschälen. Die Wirklichkeit
, um deren Erkennen es geht, liegt außerhalb des Men-
^üen. Es geht nicht an, hier nach dem Sinn des naturhaften
^escheheus zu fragen. Zwar vollzieht sich auch auf dieser
ne al'es nicht ohne eine Zweckmäßigkeit; aber die Frage
hiernach überschreitet schon das Gebiet des eigentlichen naturwissenschaftlichen
Erkennens. Diesem Typus der exakten
Wissenschaften steht nun aber jener andere Typ der „ungenauen
" Wissenschaften gegenüber, bei dem die zu bearbeitende
Wirklichkeit nicht lediglich außerhalb des Menschen
h soudcrn aus dem menschlichen Denken und Handeln
geboren ist und darum selbst wieder durch den Menschen in
seinem Sinnzusammenhang erkennbar wird. Hier bliebe es ungenügend
, wenn das forschende Ich lediglich feststellend und
registrierend dem handelnden Ich gegenüberstehen würde. Geschichtliches
Erkennen entstellt vielmehr nur da, wo das forschende
Ich zu dem handelnden Ich als einem Du in Beziehung
tritt. Es muß also eine Gemeinschaftsbeziehung vorliegen
, die das Ich aufnimmt. Solches Erkennen erstreckt sich
dann einerseits auf das Allgemeine, Zusammenhangmäßige
und Ubergeordnete, — eine Funktion, die dem naturwissenschaftliehen
Erkennen und seinen Funktionen nahe kommt,
■fyidererseits muß das Besondere, Produktive, Subjektive
eines Vorgangs oder einer Epoche einbezogen werden. Erst mit
üieser letzteren Funktion wird historisches Erkennen möglich;
tenn ^ie Sinnverknüpfungcn des Besonderen machen verständlich
, was aus den großen allgemeinen Zusammenhängen
schlechterdings unverständlich bliebe.

Das wird insbesondere dann deutlich, wenn sich ge-
schichtsmächtige Kräfte einem offenbar lebenskräftig und verheißungsvoll
fließenden Strom der Entwicklung entgegenstellen
, ihn mit Erfolg aufhalten, ihn in andere Bahnen lenken,
, urz: mi Dienst einer widrigen Geschichtsmacht zu stehen
scheinen. Eine Aneinanderreihung des Tatsächlichen würde in
einem solchen Falle besonders wenig bedeuten. Es würde selbst
das Spezifische des geschichtswidrigen Einbruches kaum erkennbar
machen. Deshalb muß gewertet werden, eine Einordnung
, Prüfung, Abstufung, Kennzeichnung erfolgen, damit
aus den Tatbeständen ein Erkennen werde.

Eine objektive Technik gegenüber den zu erforschenden

Gegenständen und Zusammenhängen kann also noch nicht zu
einem historischen Erkennen führen. Es ist vielmehr die
große Kunst des Verknüpfens der treibenden Gedanken, Formen
und Geschehnisse, die die entscheidende Arbeit des Historikers
ausmacht. Je stärker das kongeniale Einfühlungsvermögen
in Personen- und Sachgebiete, in die Handlungen und
Vorgänge ist, um so genauer und überzeugender wird das
Urteil sein. Für eine solche Affinität gegenüber dem zu erforschenden
Gegenstand bedarf es eines geistigen Apriori,
einer inneren Bereitschaft, der Leidenschaft des Eros, um der
Sache in ihren mannigfaltigen Verflechtungen gerecht zu werden
. So kommt zu einer rechten Analytik des Forschens die
verbindende Kraft des synthetischen Urteils.

Jede Sinndeutung der Geschichte hat nun verständlicherweise
einen bestimmten Maßstab, nach welchem alles zu
messen ist. Zudem ist es geistesgeschichtlich von hoher Bedeutung
, daß im Verlaufe der christlichen Gedankenbildung
die logischen Aspekte der Antike grundsätzlich einer teleologischen
Wertung der Dinge gewichen sind. Die tragische Unmöglichkeit
der Antike, etwa die Fragen um das Leid des
Lebens zu beantworten, haben hier ihren Grund. Das Urteil
also, um das es geht, ist irgendwie weltanschaulich bedingt.
Jede „Größe" oder „Vorbikllichkeit" einer geschichtlichen
Persönlichkeit kann nur als solche gekennzeichnet werden,
wenn dahinter unausgesprochen oder auch deutlich hervortretend
ein Ideal steht, welches den Maßstab für solche Kategorien
darbietet. Freilich wird der Forscher in Erkenntnis des
subjektiven Elementes, das hiermit in seine Forschungen hineinkommt
, seine Wertungen sorgfältig, vorsichtig und fern
aller vorschnellen Willkür vollziehen, aber eine Trennung von
Forschung und Wertung erweist sich als unmöglich; sie würde
letzlich die Forschung selbst aufheben. Auch ist ferner zu bedenken
, worauf oft hingewiesen worden ist, daß niemand sich
der geistigen Solidarität mit der eigenen Zeitepoche entziehen
kann. Damit ist eine weitere subjektive Bindung gegeben. Daß
die Renaissance besonders der Antike offen war, in der Refor-
mationszeit der Rückgang auf das Neue Testament ein so
starkes Echo fand, Schleiermacher die Welt Piatos kongenial
aufzuschließen wußte, hat auch in der jeweiligen geistigen Lage
seine Gründe. Goethe war der Meinung, daß er, zehn Jahre
früher oder später geboren, ein wesentlich anderer Mensch geworden
wäre, — und zwar um der strukturellen Eigenart des
Lebens willen. Der jeweilige ideologische Hintergrund derZeit-
epoche bestimmt also ebenfalls den Forscher in der Sinndeutung
der Geschichte.

Da ferner geschichtliche Tatsachen oft nicht eindeutig
sind, so ist ihre Wertung im einzelnen, sobald es über die rein
chronistischen Angaben hinausgeht, sehr unterschiedlich. Das
gilt nicht nur bezüglich der handelnden Personen, sondern
auch von der zentralen oder polaren Ideologie des Zeitabschnittes
, für welchen die Wertung stattfindet. Es gehört zum
Beispiel zum Wesen jeder immanenten Weltanschauung, daß
sie eine Immanenzgröße zum entscheidenden Wert erhebt, auf
den hin und von dem her alles ausgerichtet ist. Damit gewinnt
auch die Sinndeutung des historischen Erkennens jeweils
irgendwie die gleiche Ausrichtung und damit auch ihre Unterschiedlichkeit
. Freilich kann die Sinndeutung geradezu zur
Sinnentstellung werden, — dann nämlich, wenn das Span-