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Ausgabe:

1950

Spalte:

299-306

Autor/Hrsg.:

Müller, Alfred Dedo

Titel/Untertitel:

Seminaristische Ausbildung für Seelsorge 1950

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299

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

300

Ohne die lebenweckende Bezeugung des lebendigen
Christus fallen die theologischen Disziplinen
denjenigen Wissenschaften zu, denen sie
ihrem Inhalt nach anzugehören scheinen.

Die Praktische Theologie nützt die Ergebnisse
aller theologischen Disziplinen. Sie ist „die Wissen
schaft vom Aktuellwerden aller wissensc haftlich
enTheologiefürdiePraxisderKirc he" (Fendt).

In der Diskussion wurde auf das „Kaleidoskopische" bei
Schleiermacher hingewiesen und der Frage nachgegangen, wieso
Schleiermacher die Pr. Th. als „die Krone des theologischen
Studiums" bezeichnen wollte — und warum seine Nachfolger
diese „Krone" verloren.

A. Dedo Müller skizzierte den Neuaufbau der Pr. Th.
an einem Teilgebiet, der Lehre von der Seelsorge, in seinem
Vortrag: „Seminaristische Ausbildung für Seelsorger".

Das Problem einer seminaristischen Ausbildung für Seel
sorge ist so vielschichtig und enthält in sich so viele Perspektiven
und Möglichkeiten, daß es mir bei der Kürze der verfügbaren
Zeit geraten erscheint, nicht den Weg der grundsätzlichen
Erörterung, sondern unter Verzicht auf Vollständigkeit
den des historischen Berichts zu wählen und gleich von der
ganz konkreten Situation auszugehen, in der das Problem in
Leipzig in Angriff genommen wurde. Dazu gehört nun schon
die Einsicht, in die Unmöglichkeit der Flucht vor der hier gestellten
Frage und Aufgabe in den imaginären Raum des Predigerseminars
, die naturgemäß so gerne angetreten wird, wo
es sich um Mängel der praktisch-theologischen Universitätsausbildung
handelt. Das hängt damit zusammen, daß in
Leipzig seit 1862 das lau deskirchliche Predigerseminar, das
Predigerkolleg St. Pauli, in enger Arbeitsverbindung mit der
Fakultät steht. Es war nun ganz deutlich, daß in dem traditionellen
Lehrplan des Predigerseminars für die scelsorgerliche
Ausbildung im großen und ganzen genau so wenig geschah,
wie auf der Universität. Die Frage einer Intensivierung der
seelsorgerlichen Ausbüdung war also offenbar grundsätzlicher
Natur. Es mußten neue Wege versucht werden. Nun könnten
die leicht einsehbaren und ja auch kaum geleugneten Mängel
der Universitätsausbildung für Seelsorge in zweierlei liegen.
Sie könnten in einem Mangel an theoretischer Belehrung, und
sie könnten in einem Mangel an praktischer Übung begründet
sein. An dem Beispiel, mit dem Walter Hoch seine „Seelsorge"
beginnt, kann das leicht deutlich werden. Der junge Pfarrer
Hoch wird danach gebeten, zu einem sterbenden Großvater
zu kommen. Diese Aufforderung versetzt ihn in die peinlichste
Verlegenheit. Er sieht hilfesuchend die stattliche Reihe von
Lehrbüchern stehen, die er von der Universität in das Amt
mitgebracht hat. Sie lassen ihn völlig im Stich. Er erinnert sich
nicht, während seiner ganzen Universitätsausbildung von
einer auch nur annähernd ähnlichen Verpflichtung gehört zu
haben. Diese Verlegenheit könnte nun zwei Gründe haben.
Entweder hat er tatsächlich davon nichts gehört, oder er versteht
das Gehörte nicht auf seine Lage anzuwenden. Im ersten
Fall müßte die theoretische Belehrung breiter und kasueller
angelegt werden, im zweiten Fall könnte nur durch seminaristische
Übungen abgeholfen werden.

Nun sei gleich hier angemerkt, daß die Ausbildung weder
im einen noch im anderen Fall die Erfahrung in eigener Praxis
ersetzen kann, und es ist unter allen Umständen geraten, sich
an Schleiermachers Grundbestimmung zu erinnern, daß praktische
Theologie noch nicht die Praxis, sondern nur eine Theorie
der Praxis sein kann. Selbst eine Einrichtung, wie sie im Predigerkolleg
St. Pauli getroffen wurde, daß nämlich jedem Kandidaten
ein Mentor zugewiesen wird, der neben der persönlichen
seelsorgerlichen Betreuung die Aufgabe hat, ihn am
praktischen Beispiel in alle Zweige der Amtsarbeit und so auch
in die seelsorgerliche Praxis einzuführen, bleibt notgedrungen
innerhalb dieser Schranke. Hier kann zwar der Mentor seinen
Kandidaten geeignetenfalls zu seelsorgerlichen Besuchen mitnehmen
und ihn über den Verlauf des Einzelfalles fortlaufend
unterrichten, so daß es sich hier immerhin um Anschauung
seelsorgerlicher Praxis, statt nur um Belehrung darüber handelt
. Aber auch dieses Verfahren setzt die Fälligkeit zur Deutung
und Behandlung des einzelnen Falles voraus, für die eine
seminaristische Vorübung unerläßlich erscheint.

Bleiben denn also doch nun nur seminaristisch geartete
Übungen während der Studienzeit übrig, so ergeben sich hier
drei Möglichkeiten. Die Einübung kann sich auf die grundlegende
Problematik, auf die theologische Methodik
und auf die Kasuistik der Seelsorge beziehen.

1. Für Leipzig empfahl sich nun von der Möglichkeit der
Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Institut her zunächst
der erste Weg, und zwar in Form von Übungen
über den Zusammenhang von Psychologie und Seelsorge
. Wir begannen also mit einer psychologischen Grundausbildung
für Seelsorger. Der Direktor des Psychologischen
Instituts, Felix Krueger, hatte das lebhafteste In-

Seminarisüsche Ausbildung für Seelsorge

Von Dedo Müller, Leipzig

teresse an der Arbeit und stellte dafür den ausgezeichneten
Charakterologen, jetzigen Münchener Professor der Psychologie,
August Vetter, zur Verfügung, der dafür nicht nur die besten
fachlichen Voraussetzungen, sondern auch die denkbar größte
Aufgeschlossenheit für die besondere theologische Problematik
mitbrachte. Die Übungen beschäftigten sich demgemäß
mit den charakterologischen Voraussetzungen der Seelsorge
und suchten vor allem in das Strukturproblem in seiner
Bedeutung für die Seelsorge einzuführen. Im übrigen mußte
die Arbeit durch mancherlei politische Gefährdungen hindurch -
getragen werden. Felix Krueger verlor wegen einer Bemerkung
über den „anständigen Juden Hertz" im Kolleg Rektorat und
Professur, August Vetter mußte ebenfalls aus politischen
Gründen aus der Universität ausscheiden. Unter Kruegers
Nachfolger in der Leitung des Psychologischen Instituts,
Philipp Lersch, hatte sich der politische Druck auf die theologische
Fakultät derart verstärkt, daß sie vom Reichsstatt-
halter zweimal geschlossen und dem Psychologischen Institut
eine offene Zusammenarbeit mit dem Seminar für praktische
Theologie unmöglich gemacht wurde. Völlig unterbrochen
wurde die Arbeit nie. 1937 hatte August Vetter noch vor seinem
Weggang an das Berliner Institut für Psychotherapie erstmals
über die Arbeit berichtet.

Es handelt sich um zwei Aufsätze in der „Zeitwende" im
Januar 1937: „Charakterkuude im Dienste der Seelsorge" und
„Das religiöse Erleben im Aufbau des Charakters" sowie um
einen Aufsatz im Sächsischen Kirchenblatt von 1937 Nr. 33
und 34: „Welchen Dienst darf die Seelsorge von der Charakterkunde
erwarten?" Entscheidend ist dabei der realistische
Gesichtspunkt des „Zuganges zur Wirklichkeit der Seele"
(S.Kbl.). Theologie und Medizin seien beide darum bemüht.
Aber „trotz aller ernstlich bemühten und verdienstvollen Zusammenarbeit
zwischen Theologen und Medizinern entsteht
für den unbefangenen Beurteiler immer wieder der Eindruck
einer tiefen Kluft zwischen christlicher und naturalistischer
Auffassung vom seelischen Leiden, zwischen „Sünde" und
„Neurose", wie auch zwischen dem göttlichen Heil der Seele
und ihrer menschlichen Heilung". (Ebenda S. 235.) Nach der
Auffassung Vetters fällt der Charakterkunde, „dem jüngeren
Bruder der Psychologie" in dem Widerstreit zwischen medizinisch
-naturalistischer und seelsorgerlich-theologischer Auffassung
eine „vermittelnde Aufgabe" zu, einmal weil sie um
Zusammenschau und Gesamtwürdigung der in der seelenkund-
lichen Forschung aufgedeckten seelischen Sachverhalte bemüht
und dann weil sie „keineswegs eine nur theoretische
Wissenschaft" ist, sondern in ihrer Ausbildung „eine weitverzweigte
und verantwortliche Tätigkeit" zum Ziel hat, wie Berufsberatung
, gerichtliche Begutachtung und Erziehungshilfe.

Die Seminarübung kann mm den Blick des Theologiestudenten
für die „Mannigfaltigkeit der natürlichen Artung im
Aufbau der Persönlichkeit" (S. 236) schärfen und ihn davor
warnen, die Fülle des Wirklichen in allzu einfache und allzu
summarische Unterscheidungen wie „gesund und krank oder
fromm und sündig" einfangen zu wollen. Sie kann die Notwendigkeit
einer ganzheitlichen Betrachtung an Beispielen dartun
, wobei Felix Kruegers Strukturlehre, Erbgut der Mystik
und Romantik, erfahrungswissenschaftlich durchformend, im
„Gefühl die zusammenschließende Fähigkeit der Seele, im
Gemütsleben ihr eigentliches Wirkungszentrum und in den
Werthaltungen den tragenden Grund des persönlichen Ge-
füges wie auch der Gemeinschaft erblickt" (S. 236). Dabei
deutet Gegensätzlichkeit auf Gemütstiefe und Spannung
macht die Grundbestimmung der Seele überhaupt aus, an der
sie zerbrechen, durch die sie aber auch wachsen kann.

Es ist gut, wenn in diesem Zusammenhang dem Theologiestudenten
auch die Verantwortung zum Bewußtsein gebracht
wird, die die Theologie für die Vertiefung und Ausweitung der
Problemstellung in der Seelenforschung hat. Daß im allgemeinen
die Psychologie bis zur Gegenwart, von C. G. Jung
abgesehen, „den Grundfragen geistlicher Seelenleitung" (S.236)
noch so wenig Aufmerksamkeit schenkt, liegt ja neben den