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Ausgabe:

1950

Spalte:

279-282

Autor/Hrsg.:

Jannasch, Wilhelm

Titel/Untertitel:

"Abendländische Tradition"? 1950

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279

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

280

Die Verhandlungen der Pr.-th. Sektion leitete W. Trill-
haas mit überlegener Sachkenntnis und Ruhe. Es handelte
sich in den Vorträgen und Diskussionen geradewegs um den
Neubau der Universitätsdisziplin „Praktische Theologie". Die
beiden Sitzungen der Pr.-th. Sektion am Dienstag und Donnerstag
hatten jedenfalls das Resultat, die Pr. Th. als die vom
Evangelium (und so von den anderen theologischen Diszi-

PRAKTISCH-THEOLOGISCHE SEKTION

(Bericht vou Leonhard Fendt, Bad Liebenzell)

plinen) her zu übende Kritik an der kirchlichen Praxis der Gegenwart
zu zeichnen. Das Problematische der „Einübung" der
kirchlichen Praxis durch die Pr. Th. trat zutage. Aus all dem
wurden die Konsequenzen für das theologische Examen gezogen.

W. Jannasch eröffnete die erste Sitzung mit einem Vortrag
über das Thema: „Die evangelische Kirche als
Wahrerin der abendländischen Tradition?"

„Abendländische Tradition"?

Von Wilhelm Jannasch, Mainz

Die Zeiten, in denen der Krater eines, wie es schien, senil
und untätig gewordenen Vulkans wieder erheblich zu rauchen
und zu rumoren — und endlich auch zu speien und überzufließen
und das umliegende Land zu verschütten beginnt,
sind für seine Umwohner weder gemütlich, noch für ihre
Äcker fruchtbar. Wenn im Bereiche der Theologie sich die
Tiefen wieder einmal regen, unsichtbare Kräfte das Land
heben und unerwartet neue Krater bilden, wenn es dann endlich
zu brodeln beginnt und der glühende Strom sich über
die Hänge ergießt, dann ist's zwar ebenfalls, so interessant dies
alles ist, für die Beteiligten zumeist recht ungemütlich, was
im einzelnen nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, aber
daß dann für unsereinen fruchtbare Zeiten sind, und daß es
unseren Feldern dann ganz anders ergeht, als denen am Fuße
eines Ätna oder Vesuv, werden wir nicht bestreiten wollen.
Die Theologie macht in solchen Zeiten eine seltsame Erfahrung
, die übrigens die Uberlebenden der genannten Naturkatastrophen
auch machen könnten, wenn sie zu derlei Kraft
und Muße hätten; sie sieht: es sind immer wieder die alten
Elemente der Tiefe, die in den vulkanischen Katastrophen
der Kirchen- und Theologiegeschichte ans Licht gefördert werden
; die elementaren Probleme und Fragen von vor zweitausend
und tausend und vierhundert oder hundert Jahren
sind auf einmal wieder — aller ihrer wohlgeordneten musealen
Existenz in den Schränken der Dogmen- und Theologiegeschichte
zum Trotz — uralt und ewig jung, sei es noch als
zähflüssige und ein wenig heiße Lava, an die man sich zunächst
ungern heranwagt, sei es schon wieder als grobe Klötze,
die auf Behauung und Schliff warten, der grau gewordenen
Theologie zu Füßen. Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner
zu tun; und wenn der König, dem auch die Tiefen gehorchen
müssen, sein Land bewegt, bekommen auch die Theologen
neue Arbeit.

Zwar ist es meine Uberzeugung, daß wir in unserer Theologie
wirklich eine vulkanische Epoche erlebt haben (wer weiß,
ob sie schon zu Ende ist ?); aber mein Ehrgeiz geht in dieser
Stunde nicht etwa dahin, Ihnen zu zeigen, daß in meiner beachtlichen
Werkstatt ein wenn auch noch so bescheidener Urgesteinssplitter
bereits wieder Glätte und Glanz bekommen
hat. Mir geht es lediglich darum, auf einen recht alten, einen
angeblich schon von den Reformatoren unschädlich gemachten
Brocken zu weisen, der heute wieder auf dem Felde der evangelischen
Theologie liegt und auf fleißige Hände aus allen theologischen
Werkstuben, nicht nur aus der unserer Disziplin,
wartet. Ich wäre glücklich, wenn Sie mir zugäben, daß er
wirklich da liegt und wartet, so, wie er wirklich im vulkanischen
Geschehen der letzten dreißig Jahre Theologie- und
Kirchengeschichte mit an die Oberfläche kam.

Ihn so, wie er da liegt, mit dem Stück im Museum zu
vergleichen, belustigt beinahe. Wie harmlos berührt heute,
was Tschackert in der RE trotz aller gediegenen dogmen-
geschichtlichen Ausführungen über Tradition zu sagen hatte.
Wie seltsam untheologisch klingt das aus, was Krüger in der
RGG, auch wieder nur dogmengeschichtlich und in nur zwei
Spalten, zum gleichen Thema meldet! Inzwischen fing es
bekanntlich in der alt- und neutestamentlichen Einleitungs-
wissenschaft ganz selbstverständlich zu werden an, in langen
Paragraphen von der mündlichen Tradition zu reden, die dem
Aggregatzustand des geschriebenen Bibelwortes voranging,
und damit ein Stück biblischer Vorgeschichte zu behandeln,
für das in der die Tradition angeblich ablehnenden reformatorischen
Theologie nicht so leicht der rechte Platz und die
rechte Form zu finden ist. Inzwischen tauchten in der
Dogmatik die ersten Versuche auf, jenen Platz und jene
Form zu finden, sei es, daß sie die genannten historischen
Erkenntnisse der Bibelwissenschaft auch für ihr Gebiet ernst
nahm, ohne sie freilich damit schon zu bewältigen, sei es,
daß die reformatorische Entscheidung gegen die Tradition
, dogmengeschichtlich bis in die Gegenwart hinein soli-
dest unterbaut, als die notwendige Entscheidung einer evangelischen
Kirche und Theologie von heute neu formuliert,

d. h. aber antirömisch und antimodernistisch vollzogen wurde.
Endlich aber gibt es — und auch hier spielt das Problem
der Tradition eine Rolle — heute zwei Arten von Kirchen-
geschichtsschreibung: Die einen leben schlicht dem immer
ehrwürdigen und notwendigen Dienste, auch in der Kircheu-
geschichte festzustellen und darzulegen, wie es eigentlich gewesen
ist, wobei sie im Blick auf die Zukunft ihrer Disziplin
entweder mit ein wenig Neid oder in mitleidiger Wehmut
der Enkel gedenken, die bei weiterem Fortbestand der abendländischen
Wissenschaft einmal den Strom der Geschichte und
die Fülle ihrer Gesichte durch KG VI, VII, VIII und folgende
werden hiudurchleiteu müssen. Daneben aber gibt es
andere, die ihre Wissenschaft in einer dem Gegenstände, eben
der Kirche, entsprechenden Kritik höchsten Ranges betreiben
möchten, d. h. immer im Gedanken au den Ursprung, von dem
die Kirche ausgeht, und an den unablässigen Kampf mit alter
wie mit stets sich neu gebärender Tradition, die sie diesem
Ursprung fortwährend zu entfremden trachtet.

So ist in all diesen Disziplinen ein uraltes, höchst gewichtiges
, aber auch höchst zweideutiges und gefährliches Element
christlicher Theologie, die Tradition, wieder da, wird schon
wieder angepackt, ist vielleicht erst im zweiseitigen kollegialen
Gespräche von Mann zu Mann erneut mit seinem echten
Namen benannt, wird aber — daran zweifle ich nicht —, wenn
unsere Theologie ihre Lage als Wissenschaft einer die Barmer
Erklärung rezipierenden und darüber hinaus mit Rom erneut
konfrontierten Kirche ernst nimmt, bald genug ausgesprochenermaßen
eines der Probleme sein, um die ein wirklich gegenwartsbezogenes
theologisches Denken und Arbeiten kreist.

Was tut die Praktische Theologie in diesem
Augenblick ? Wer mit den Strömungen und Menschen nicht
vertraut ist, wer einen für alle nimmt, wer die Dinge der Theologie
nur von außen sieht und sehen muß, der wird meinen —
und es ist mein Kummer, daß er wohl nicht umhin kann, es
zu tun —, daß die Praktische Theologie in Sachen der Tradition
heute weiter sei, als alle anderen theologischen Disziplinen.
Es wird den Eindruck haben, das Wort „Tradition" werde hier
nicht mehr nur geflüstert; der ungefüge Urgesteinsbrocken
liege nicht mehr unheimlich im Weg; man habe nichts mehr
aufzuräumen und zu säubern nach dem letzten Vulkanausbruch
; die viel gerühmten sanften Auen seien schon wieder
zum Vorschein gekommen, mit atavistischen Blumen und gregorianischem
Herdengeläut und mit einer Umzäunung, die
nach der Seite der katholischen Praktischen Theologie hin auffallend
niedrig ist und mehrere einladende Durchgangspforten
hat. Natürlich! Denn die Praktische Theologie der Evangelischen
Kirche hütet ja nach dieser Auffassung auch ihrerseits
die „abendländische Tradition" und hat so im Bereiche ihrer
Liturgik endlich das Schlagwort gefunden, das sie auch in den
Augen einer CDU-regierten Welt in ihrem Dasein und Wirken
rechtfertigen kann. Man mag dieses Wirken im ganzen oder
im einzelnen rühmen oder kritisieren, mit den Ergebnissen einverstanden
sein oder nicht; darauf kommt es hier, in unseren
Erwägungen, nicht an. Die Frage ist vielmehr die, ob wir es
zugeben wollen, daß man die Ordnung der evangelischen Versammlung
herstellen darf unter Berufung auf die „abendländische
Tradition", ohne daß man damit das Evangelium
selbst zu verraten im Begriffe wäre. Es mag, so meine ich,
durchaus so sein, daß manches von dem ein liturgischer Fortschritt
ist, was heute unter dem Titel einer evangelischen oder
deutschen Messe als lutherische Gottesdieiistordnung zur Begutachtung
dargeboten und stellenweise sogar de. Gemeinden
aufgezwungen wird, von den beachtlichen historischen Leistungen
, die solcher Arbeit zugrunde liegen, ganz zu schweigen.
Was aber hülfe es der evangelischen Kirche, wenn sie auf
diese Weise ein neues Stück „abendländischer Tradition" für
ihre Versammlung zurückgewönne und die Reinheit des Evangeliums
darüber verlöre ? Die Diskussion über diese Flage ist
uns erleichtert, weil wir nicht nur die Mannigfaltigkeit der
neuen Entwürfe — z. B. Alpirsbach, Berneuchen, Beckmann-
Brunner — vor uns haben, sondern auch hinreichendes Mate-