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Ausgabe:

1950

Spalte:

251-252

Autor/Hrsg.:

Schlink, Edmund

Titel/Untertitel:

Systematische Sektion 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

252

den wenigen Andeutungen, die sich in Luthers Frühschriften
über das Sakrament finden, fast ausschließlich hervorgehoben
wird. Wie in den Abendmahlskämpfeu des frühen Mittelalters
sich die Sakramentslehre in Analogie zur Zweiuaturenlehre gebildet
hatte, so hat sie auch der junge Luther in Anlehnung
an die altkirchliche Theologie gestaltet; auch sie ist bei ihm
angewandte Christologie.

Wir fassen unsere Beobachtungen zusammen. Der Einheitspunkt
, von dem aus Luthers Theologie in allen Hauptteilen
verständlich wird, ist die Christologie. Es ist zugleich
der Punkt, von dem aus das altkirchliche Dogma geformt
worden war und der damit die Lehrentwickluug der gesamten
Christenheit bestimmt. In Luthers reformatorischer Theologie
findet die Gesamterfahrung der bisherigen Kirche ihren selbständig
angeeigneten, biblisch begründeten und einheitlich gestalteten
Ausdruck. Sie ist Offenbarungstheologie; sie erfaßt
die Offenbarung in der Verhüllung.

Die alte Kirche hat die Offenbarung in der Verhüllung
mit dem traditionsgesättigten, darum vieldeutigen und doch
unentbehrlichen Namen des Mysteriums belegt. Auch Luther
gebraucht diesen Ausdruck; nicht nur in seinen Frühschriften
ist er von zentraler Bedeutung. Seine Offenbarungstheologie
ist also Mysterientheologie; und es wäre eine Aufgabe für sich,
sie mit dem zu vergleichen, was die zeitgenössische katholische
Erneuerungsbewegung als .Theologie des Mysteriums' aus der
gesamtkirchlichen Tradition eruiert hat. Wir müssen auf diese
Aufgabe hier verzichten, können auch Lortz gegenüber die
Konsequenzen aus unseren Thesen nicht mehr ziehen. Wir
wollen abschließend nur diese einheitlich verstandene Theologie
Luthers an der des zeitgenössischen biblischen Humanismus
kontrastieren.

Auch Erasmus betreibt eine Theologie des Mysteriums.
Auch er greift hinter die Scholastik auf die Anfänge der Kirche
zurück. Auch er setzt die rechtverstandene Vätertheologie mit
dem rechtverstandenen NT in Einklang. Auch er weiß davon,
daß Gottes Offenbarung nur verhüllt uns zuteil wird. Aber er
zweifelt daran, daß der Mensch sie hinter dieser Hülle so erkennen
könne, wie sie wirklich ist. Seine Theologie des Mysteriums
ist keine Theologie der Offenbarung, sondern bei ihm
entwertet das Mysterium die Offenbarung. Wir haben Gott nur
in irdisch-menschlicher Hülle — d. h. für ihn; wir haben ihn
nicht, wie er wirklich ist, sondern wie er uns scheint; und jeder
hat ihn nur so, wie er ihm scheint. Die Kirche aber als pädagogische
Heilsanstalt setzt fest, was jeder als Mindestmaß von
der christlichen Offenbarung anerkennen muß, damit alle an
sie glauben können. Mit der skeptischen Haltung der Offenbarung
gegenüber verbüidet sich bei Erasmus der Relativismus
im einzelnen und der kirchliche Positivismus im ganzen.

„Spiritus sanetus non est seepticus" — damit hat Luther
seinen Grundgegensatz gegen diese Theologie proklamiert.
Gott verhüllt sich, um sich zu offenbaren; er offenbart sich
nicht, um sich zu verhüllen. Für Erasmus ermöglicht der Ver-
borgenheitscharakter der Offenbarung die Flucht aus dem
Dogma in die Geschichte und in die praktische Moral; für
Luther steht das Wunder der Offenbarung in aller Verborgenheit
im Mittelpunkt seines Glaubens. Erasmus behandelt das
überlieferte Dogma als Gegenstand einer kritischen Geschichtsbetrachtung
; Luther nimmt es hin als Gegenstand
seiner gläubigen Erkenntnis. Bei Erasmus erlebt die altkirchliche
Mysterientheologie eine historische Repristination; er

ist der Vater aller orthodoxistischeu Restauratioustheologie
in Protestantismus und Katholizismus. Bei Luther stoßen wir
auf eine schöpferische Reproduktion der altkirchlichen
Mysterientheologie; er hat das altkirchliche Christusdogma
zum Grunde aller Theologie gemacht.

Aber der Reformator ist damit nicht durchgedrungen.
Der historisch-kritische Relativismus und Skeptizismus des
Erasmus hat ihn in seiner eigenen Kirche besiegt.

Luther hat den hier aufbrechenden Gegensatz früh erkannt
und zeitlebens darunter gelitten. Ich habe an anderer
Stelle nachweisen können, wie er — noch ohne Namensnennung
— schon 1520 in der lateinischen Fassung des Freiheitstraktates
gegen die Christologie des Erasmus polemisiert.
Seine Schrift vom Unfreien Willen exemplifiziert an der
Willenslehre den Kampf gegen Skeptizismus und Relativismus
und verteidigt dabei den Standpunkt eines Offcnbarungsposi-
tivismus. Und aus W. Köhlers Studien über die Anfänge des
Abendmahlsstreites ersehen wir, wie jene skeptische und doch
kirchlich positivistische Stellung des Erasmus dem Sakrament
gegenüber den Symbolismus Zwingiis zugleich begründet und
verradikalisiert. Indem Luther dagegen zu Felde zieht, behauptet
er die Offenbarungsmächtigkeit des Mysteriums.

Und damit ist zugleich die Eigentümlichkeit von Luthers
Alterstheologie gekennzeichnet. Nicht nur in der Lehre vom
Abendmahl, sondern auch in der Christologie, in der Auffassung
von der Kirche, ihrem Amt und ihren Gnadenmitteln
überhaupt hält er mit Leidenschaft daran fest, daß hinter der
irdisch-menschlichen Hülle Gott selbst wirklich da ist, mit
seinem Gnadenhandeln wirklich hineingreift in das irdische
Geschehen. Daß der verborgene Gott tatsächlich der offenbare
ist, hier und jetzt begreiflich, faßbar, das ist der Tenor seiner
Altersaussagen.

Man hat darin einen Nachhall des okkamistischen Positivismus
finden wollen, den Luther in seiner Jugend in sich
aufgenommen habe. Gewiß sind manche Anschauungen und
Begriffe okkamistisch vorgeprägt; und dennocli wäre es völlig
falsch, den alten Luther eines Rückfalles in die spätmittelalterliche
Theologie seiner Studenten jähre zu zeihen. Er greift viel
weiter zurück. Es geht ihm darum, den Offenbarungsanspruch
des altkirchlichen Dogmas so zu wahren, daß die Heilskonsequenzen
, die daraus für den Glauben jetzt und hier gezogen
werden müssen, richtig zur Geltung kommen. Lutliers Alters-
theologie ist Offenbarungstheologie, so wie es seinen theologischen
Anfängen entspricht. Anfang und Ende seiner theologischen
Arbeit umgreifen gemeinsam das Mysterium der
Offenbarung Gottes in Christus.

So ist die Einheit seiner Theologie nicht nur grundsätzlich
zu verstehen. Sie zeigt sich auch darin, daß sein Denken
in seinen jungen Jahren und in seinen Altersjahreu um denselben
Mittelpunkt Christus kreist. Der Einschnitt des Jahres
1525, durch den Kampf gegen Erasmus und das Ringen um
die Gegenwart Christi im Sakrament hervorgerufen, hat für
ihn darin seine Bedeutung, daß er seitdem den Offenbaruugs-
charakter aller Verhüllungen Gottes um so stärker hervorgehoben
hat. Der Einheitspuukt seiner Theologie liegt beschlossen
im Geheimnis der Inkarnation; von hier aus hat
Luther alles Heilshandeln Gottes verstanden. Mit diesem
Punkte ist die Einheit seines gesamten theologischen- Lebenswerkes
gegeben. Von hier aus muß Luthers Stellung in der gesamten
Dogmengeschichte der Christenheit bestimmt werden.

SYSTEMATISCHE SEKTION

(Bericht von Edmund Schlink, Heidelberg)

Da die Literaturgattung der Miszelle sehr wohl in historischen
, aber weit weniger in systematischen Disziplinen am
Platz ist, war in der systematischen Sektion auf eme Vielzahl
derartiger Kurzreferate verzichtet worden. Statt dessen wurde
vier Referenten ein größerer Zeitraum, der die Entfaltung
systematischer Gedankengänge gestattet, zur Verfügung gestellt
und auf die Aussprache über die Referate besonderer
Wert gelegt. Die Referate von Paul Alt haus (Retraktatiouen
zur Eschatologie) und Heinrich Vogel (Die Gerechtigkeit
Gottes und die Faktizität des unschuldigen Leidens in der
Geschichte) hatten speziell dogmatische Themen zu ihrem
Gegenstand, während die Referate von Martin Doerne (Das
unbewältigte Problem der Apologetik) und Heinz-Horst
Schrey (Grundfragen einer ökumenischen Theologie) zugleich
kritische Fragen thematischer, methodologischer und
didaktischer Art an das heutige Selbstverständnis der systematischen
Theologie und ihres Ortes in der Enzyklopädie der
Wissenschaften richteten. Den Bericht über die Aussprachen,
den ich unter Verwendung einer Nachschrift meines Heidelberger
Kollegen Wilfried Joest erstatte, füge ich üi Folgendem
jeweils an die Referate au. In seiner Kürze vermag dieser Bericht
freilich nur einen unvollständigen Eindruck von der
Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit zu vermitteln, mit der
sich in den Aussprachen die Vertreter der gelehrten älteren
Tradition und die jüngeren, aus den Problemen des Kirchenkampfes
kommenden Theologen, sowie die Lehrer an den
theologischen Fakultäten und diejenigen der kirchlichen Hochschulen
begegneten. Am Schluß der Sektionssitzungen fand
sodann noch eine Aussprache über Zeitschriften und Mono-
graphienreihen, über Habilitationen, Fragen der Stoffgliederung
in den Vorlesungen, sowie über die Lage an verschiedenen
Fakultäten im Bereiche der systematischen Theologie statt.