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Ausgabe:

1950

Spalte:

245-252

Autor/Hrsg.:

Maurer, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Einheit der Theologie Luthers 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

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habe1. Auch bei Luther ist stets bei einer Nebeneinander-
ordnung der usus civilis vorangestellt, während es eine Besonderheit
Calvins ist, daß er von Anfang an den usus theo-
logicus an die erste und den usus politicus an die zweite Stelle
setzt2. Auch das ist noch nicht die Ursache der Fehlentwicklung
Melauchthons, daß er den usus politicus überhaupt in
Verbindung bringt mit Gl 3, 24, sondern dies, daß er Gl 3, 24
ausschließlich auf den usus politicus bezieht und ihn darum
auch usus paedagogicus benennt. Denn auch für Luther sind
beide, der usus civilis wie der usus theologicus, insofern in
Gl 3, 24 angelegt, daß es dasselbe Gesetz ist, das im coercere
delicta und im ostendere delicta am Werke ist. „Nec politica
aut naturalis lex est quidquam, nisi sit damnaus et terrens
peccatores"3. Obwohl theologisch scharf zu unterscheiden,
Hegen doch in der Predigt des Gesetzes der usus politicus
und usus theologicus insofern aufs engste ineinander, als die
Predigt immer darauf abzielt, daß das Gesetz zugleich im usus
politicus und usus theologicus verstanden wird. Sind es doch
die gleichen Menschen, denen das Gesetz in beiden usus gilt,
und nicht etwa eine Kategorie ganz hartgesottener Sünder,
für die allein der usus civilis, und eine andere Kategorie —
ich weiß nicht wie zu bezeichnender Sünder, für die der usus
theologicus zuständig ist.

Und doch unterscheidet nun Luther sehr deutlich zwei
Gruppen von Menschen voneinander, denen das Gesetz in verschiedener
Weise zu predigen ist: die impii und die pii. Was
meint Luther damit, wenn er folgenden Unterschied macht:
..Est enim necessarium et utile officium legis perpetuo, tum
propter duros terrendos, tum etiani pios admonendos"4 ?
Oder: ,,Quare impii obtuudendi sunt legis lumine, ut tandem
perterrefacti discant Christum quaerere, et piis est etiam do-
cenda lex mouendi et cohortandi causa, ut in pugna et con-
certatioue permaneant"6. Wird hier unterschieden im Sinne
des duplex usus legis ? Doch offenbar nicht! Denn gerade auch
den impii wird das Gesetz gepredigt, ut tandem perterrefacti
discant Christum quaerere. Eher könnte man schon fragen:
Wird hier unterschieden zwischen dem secundus und einem
tertius usus legis ? Aber auch das trifft nicht zu! Denn Luther

') Zeitschr. f. Religions- und Geistesgeschiclite 1 (1948); 1G8.
') In der Institutio von 1536: Calv. opera, ed. P. Barth, I, 61
Institutio von 1559: a.a.O. III, 332ff.
') WA 39, 1; 358, 28 f.

4) a. a. O. 399, 4f.

5) a. a. 0. 513, 4—6.

betont immer wieder, daß den pii nicht in quantum iusti,
sondern in quantum peccatores das Gesetz zu predigen ist,
d. h. aber im usus theologicus. So handelt es sich also um eine
Unterscheidung in der Ausrichtung der Gesetzespredigt innerhalb
des usus theologicus. Bei der Ablehnung dessen, daß
Luther den tertius usus legis im Sinne Melanchthons gelehrt
habe, wird dies immer übersehen, daß Luther wohl differenziert
, wie das Gesetz im usus theologicus am impius und am
pius wirkt und wie es diesem und jenem zu predigen ist1.
Hier greift die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
ein in die Lehre vom usus legis. Hier kann Luther so überraschende
Aussagen machen wie :,,Sic christianis quidem do-
cetur lex, sed cum aliqua praerogativa"2. „Lex est iam valde
mitigata per iustificationem . . . Ante iustificationem regnat
et terret omnes, quos tangit. Sed non sie docenda lex piis, ut
arguat, dainnet, sed ut hortetur ad bonum . . . Itaque lex Ulis
mollienda est et quasi exhortationis loco docenda"3. Hier
wird die Lehre vom usus legis von homiletischer und seel-
sorgerlicher Relevanz, so daß man geradezu sagen könnte, daß
der Prediger das Subjekt des uti lege wird im recte secare
verbum dei, jedoch nicht in der Weise verschiedener Usus legis,
sondern in der konkreten Unterscheidung und Aufeinander -
beziehung von Gesetz und Evangelium.

Bei dem, was ich in dem letzten Teil meiner Ausführungen
zur theologischen Interpretation der usus-legis-Lehre sagte,
habe ich mich bewußt ausschließlich an die Antinomerdispu-
tationen gehalten. Denn es scheint mir ein dringendes Erfordernis
der Lutherinterpretation zu sehi, die Gedankeu-
zusammenhänge eines klar abgegrenzten Textkomplexes bis
in die letzten Nuancen zu verfolgen. Ich hoffe dies demnächst
in einer größeren Arbeit zu den Antinomerdisputationen tun
zu können4. Im Rahmen dieses Referates mußte ich mich
darauf beschränken, einige Beobachtungen zum Problem der
Unterscheidung verschiedener usus legis in der reformato-
rischen Theologie vorzutragen.

') Dieses Problem kommt auch in der Arbeit von Lennart Pinomaa, Der
existenzielle Charakter der Theologie Luthers (in: Annales Academiae scien-
tiarum Fennicae, B. XLVII, Helsinki 1940) nicht genügend zu seinem Recht,
obwohl es auf S. 173f. gestreift wird. Vgl. ferner S. 155—195 zu Luthers Lehre
vom Oesetz.

2) WA 39, 1; 513, 8f.

3) a. a. O. 474, 8—475, 6.

4) Ich habe darum hier nur sehr wenig Belege aus den Antinomerdisputationen
beigebracht.

Die Einheit der Theologie Luthers

Von Wilhelm Maurer, Marburg

Die Einheit der Theologie Luthers ist seit Holls Forschungen
eine anerkannte Tatsache. Die Rede, Luther sei kein
Systematiker, ist seitdem bei den Maßgebenden verstummt.
Strittig ist nur, wo der Punkt zu suchen ist, der die einheitliche
Betrachtung von Luthers Glauben und Denken möglich
macht.

Auch bei der Suche nach diesem Punkte herrscht weitgehende
Übereinstimmung. Klarheit besteht darin, daß es
sich um eine dialektische Einheit handelt und daß diese
Dialektik ihren Realgruud hat in der Sache, um die es in der
Theologie geht, nicht aber in irgendeiner philosophischen Konzeption
. Auch darüber dürften sich kaum Meinungsverschiedenheiten
ergeben, daß der Einheitspunkt, von dem Luthers
theologisches Denken ausgeht, irgendwie zusammenhängt mit
der religiösen Grunderfahrung, die wir als seme reformato-
rische Entdeckung zu bezeichnen pflegen. Beide Erkenntnisse
gehören zusammen wie Wappen und Wertziffer einer Münze":
daß die dialektische Einheit von Luthers Theologie jenseits
aller philosophischen Erwägungen gelegen ist, daß sie vielmehr
in der religiösen Erfahrung begründet liegt.

Aber auch die Anerkennung dieser doppelseitigen Erkenntnis
läßt noch Fragen offen. Die Grundentscheidung
scheint in folgender Alternative beschlossen zu liegen: Ist der
Einheitspunkt so zu gewinnen, daß mau von Luthers religiöser
Grunderlahrung ausgeht und nun nachweist, wie von hier —
also von der Erfahrung der Rechtfertigung — aus seine ganze
Theologie durchdrungen wird, ihre einheitliche Struktur erhält
? Oder darf man nicht von Luthers Person, muß man vielmehr
von der Sache her denken, entweder von der Schrift oder
von der theologischen Überlieferung aus oder von beiden
Seiten zugleich her, handelt es sich also um eine exegetische
Entdeckung, eine wissenschaftliche Intuition, in der sich der

einheitliche Sinn, der innere Zusammenhang einer disparat
erscheinenden Wirklichkeit dem wahrheitssucheiiden Forscher
entschleierte ?

Die bejahende Antwort schließt für jede der beiden Fragen
Gefahren in sich. Kann und darf eine persönliche Erfahrung
einer Theologie einheitliches Gepräge geben ? Muß, auch wenn
man wirklich die durchdringende Kraft einer solchen Erfahrung
bejaht, nicht ihr allgemein verbindlicher Charakter
bestritten werden ? Wie steht es dann mit ihrer reformato-
rischen Bedeutung ? Kann eine Theologie, die Ausdruck einer
persönlichen Erfahrung ist, auch wenn in dieser Erfahrung
noch so viele Traditionsclemente einheitlich verschmolzen
sind, auch wenn sie immer wieder durch die Erfahrung der
Nachlebenden bestätigt wird, kann solche Theologie wirklich
den Anspruch auf die Erneuerung der Kirche stellen ? Ist sie
auch wenn sie die ganze Wahrheit der Schrift, das ganze
Traditiousgut in sich enthielte, als einheitlicher Ausdruck der
Erfahrung eines Mannes nicht ohne weiteres schon Häresie ?
Ich glaube, mall muß sich in dieser Richtung von Joseph
Lortz sehr eindringlich fragen lassen.

Und umgekehrt: Liegt der Einheitspunkt der Theologie
Luthers auf dem Wege einer wissenschaftlichen Entdeckung,
die die Fülle der Gegebenheiten in Schrift und Tradition einheitlich
verstehen lehrt, wie kommt dann der Anspruch auf
Reformation der Kirche zustande? Hat der Gelehrte nicht
dazu ein viel geringeres Mandat als der Prophet? Wissenschaftliche
Entdeckungen lösen einander ab; sie werden korrigiert
, relativiert, überboten. Seit Schlatters Kritik an Luthers
Paulusexegese hat die theologische Wissenschaft selbsi
Luthers wissenschaftliche Entdeckung in Frage gestellt. Und
hinter dem Ringen um das innerprotestantische Konfessionsproblem
lauert bei vielen die Erkenntnis, daß Luthers Theolo-