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Ausgabe:

1950

Spalte:

219-226

Autor/Hrsg.:

Hertzberg, Hans Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die prophetische Kritik am Kult 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

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sperrt. Das Alte Testament läßt jedoch erkennen, daß sie trotzdem
die von David und Salomo geschaffenen Institutionen
des Großreiches nach Möglichkeit an ihrem Hofe weiter pflegten
und die Hoffnung auf seine tatsächliche Wiederherstellung
nicht aufgaben. Man mag es „Hofstü" nennen, wenn etwa in
Liedern zum Regierungsantritt eines neuen Königs aus dem
Hause Davids diesem eine Herrschaft „vom Meer bis zum
Meer und vom Strom (Euphrat) bis zu den Enden der Erde"
gewünscht oder mit ähnlichen Worten ein universales Regiment
in Aussicht gestellt wird1; aber so übertrieben solche
Formulierungen auch im Vergleich mit der tatsächlichen Macht
oder Olmmacht der Davididen nach Salomo klingen, so wenig
sind sie doch sinnlos gewählt oder aus dem Formelschatz
anderer Großreiche übernommen, sondern von Hause aus auf
die ins Universale ausgeweitete historische Wirklichkeit des

J) Psalm 72, 8 (vgl. Eichhorn bei Greßmann, Der Messias [1929J,
S. 19); 2,8.

Großreiches Davids bezogen, die nun den Epigonen als Ideal
und Postulat für die Zukunft vor Augen gehalten werden soll1.
In den Herrscherbildern der klassischen Prophetie aus einer
Zeit, in der die Davididen das Königtum von Juda und Jerusalem
noch innehatten, kommen so überschwäugliche Erwartungen
kaum je zum Ausdruck2; dagegen leben sie in den
messianischen Weissagungen der königslosen und darum durch
keine Rücksicht auf die politische Situation der Gegenwart
mehr gebundenen Zeit nach dein babylonischen Exil wieder
auf und werden nun zu einem festen Bestandteil der jüdischen
Eschatologie, auf deren Boden später, sie zugleich bejahend
und überwindend, das Urchristentum erwuchs3.

') Vgl. v. Rad, Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft N. F.
17 (1941), S. 216 ff.

2) Jes. 9, 5f.; 11, 1 ff.; 32, 1 ff.; Micha 5, lff. (ursprünglicher Text); Jer.
23, 5f. = 33, 15f.; vgl. Arnos 9, 11 f.

3) Micha 5, lff. (Zusätze); Sach.9,9f.; Dan. 7.

Die prophetische Kritik am Kult

Von H. W. Hertzberg, Kiel

Daß der Kult schärfster Kritik der Propheten unterliegt,
und zwar sowohl in der Art, wie er gehandhabt wird, wie auch
in seiner Tatsächlichkeit überhaupt, gehört zu dem, was schon
oberflächliche Lektüre prophetischer Texte alsbald vermittelt.
Ihre Kritik nimmt sogar ungewöhnlich krasse Formen an. Ich
liebe es nicht, ich mag es nicht, ich höre es nicht, ich bin dessen
müde, sagt Jahwe bei Jesaja, noch schärfer bei Arnos: Ich
hasse, ich verabscheue eure Feste. Ja, diese kritische Haltung
greift über die Prophetie hinaus in Psalmen wie 40, 50 und 51
und ist selbst der Chockma nicht fremd (Prov. 15, 8; 21, 3. 27;
28, 9; Koh. 4, 17; Sir. 32, 1 ff.); und es ist doch wohl anzunehmen
, daß diese kritischen Stimmen ihren Impetus durch
die prophetische Kritik am Kult erhalten haben.

Zwei Gründe für die prophetische Kritik am Kult sind sofort
gegeben; einmal steht hier eine direkte Gotteszusprache
gegen die Institution; die Priester sind gleichsam die geborenen
Gegner der Propheten, die ihre Legitimation nicht aus Amt
und Herkommen, sondern aus steilem und direktem Eingriff
Gottes herleiten. Zum anderen findet sich alsbald bei der prophetischen
Stellung zum Kult die Beobachtung, daß hier etwas
mit den Händen und Lippen geschehe, während, das Leben mit
seinen sozialen und praktischen Notwendigkeiten zu kurz
komme und leer ausgehe.

Andererseits ist der Kult da. Wie stark er vorhanden ist,
hat uns in den letzten Jahrzehnten unsere Wissenschaft von
allen Ecken her deutlich gemacht. Archäologisch, formgeschichtlich
, überlieferungsgeschichtlich ist das Vorhandensein
eines regen und durchgebildeten kultischen Lebens aufweisbar;
wo sollte auch das Leben des Volkes seine Zentren gerade in
der ältesten Zeit anders gehabt haben als bei den Stätten des
Kultes, den Heiligtümern ? Sie sind die gewiesenen Orte nicht
nur für das religiöse und politische Leben des Volkes, sondern
auch für die Anfänge und die Pflege einer literarischen Betätigung
. Ihre Bedeutsamkeit ist gar nicht zu unterschätzen.
Und die Zeiten sind vorbei, wo man die Psalmen generell in die
nachexilische Zeit verwies; ja, der seit längerein in der alt-
testamentlichen Wissenschaft eingeführte Begriff der Kult-
prophetie eröffnet den Blick in positive Beziehungen der Propheten
zum kultischen Leben, Beziehungen, die in den ältesten
Formen des mit den Heiligtümern verbundenen Nebiismus gewiß
ebenfalls vorhanden waren.

Diesem Tatbestand ist nun sofort gegenüberzustellen der
Hinweis auf diejenigen Äußerungen in prophetischen Texten,
die die theologische Legimität des Kultes, ja sogar sein Alter
im Sinne des Wortes in Frage stellen. Arnos sagt 5, 25 : „Habt
ihr Opfer und Gaben mir dagebracht in der Wüste, 40 Jahre
lang, Haus Israel ?" Und noch deutlicher heißt es bei Jeremia
(7, 2 iff.): „Nicht habe ich euren Vätern gesagt und ihnen
keinen Befehl erteilt damals, als ich sie aus Ägyptenland
führte, in Sachen Ganzopfer und Schlachtopfer". Zu dem
ersten Wort sagt Nowack : „Dieser Vers schließt die Bekanntschaft
mit einer Schrift, wie der Priesterkodex ist, welcher
die Einrichtung und den Anfang des Kultus an den Sinai
verlegt, ja die kultische Gesetzgebung zum eigentlichen Mittelpunkt
der Sinaioffenbarung macht, aus".1 Neben dieser lite-
rarkritischen Folgerung sei als ein Zeugnis betreffs der Jeremia-

') Wilhelm Nowack, Die kleinen Propheten übersetzt und erklärt,
2. Aufl., 1903, z. St.

Stelle auf den Kommentar von Paul Volz verwiesen, der aus
der prophetischen Kritik am Kult den auf das Historische
gehenden Schluß zieht, daß „die Generation, die sich zu Mose
hielt", in „opferlosem Gottesdienst" gelebt habe1. Die prophetische
Haltung sei die legitime und gradlinige Fortsetzung
dieser mosaischen Linie, die neben der offiziellen priesterlicheu
und der volksmäßigen, stark mit Aberglauben vermischten
Religion hergehe. Die Meinung, daß es eine Religion ohne Kult
und Opfer und mit ausschließlicher Hervorhebung des Ethos
nicht im antiken Raum gegeben haben könne, wird als eine
petitio principii angesichts der kategorisch klaren Aussage der
Propheten abgewiesen.

Man wird bei dem allen den Eindruck nicht los, als sei hier
gar zu schnell zu literarkritischen und historischen Folgerungen
vorgeschritten und als sei die Frage nicht genug geprüft worden
, welcher theologische Ansatzpunkt für die prophetische
Kritik am Kult in Betracht komme. Von vornherein steht
eines fest, was außerhalb aller Diskussion liegt. Das ist die von
den Propheten beobachtete Diskrepanz zwischen Kult und
Recht, zwischen gottesdienstlichem Handeln und dem Leben
im Dienste Gottes. Das braucht nicht belegt zu werden; es
findet sich überall. Aber die Gefahr ist dabei gegeben, daß die
Propheten, deren Existenz nun doch einmal unbestreitbarer'
weise im Theologischen wurzelt, auf diese Weise in die Nachbarschaft
eines Moralismus geraten. Das wäre ohne Zweifel ein
Fehlurteil. Ihr Ausgang ist ja nicht ein ethischer Lehrsatz,
sondern die Tatsache des sich machtvoll und heilig durchsetzenden
Gottes, der so, wie er mit zupackender Hand in das
Leben des Propheten eingreift, nun auch Geschichte gestaltet
und Gehorsam fordert.

Also die Frage lautet: Welches ist der theologische Ansatzpunkt
für die prophetische Kritik am Kult ?

Es wird dabei so zu verfahren sein, daß wir die wesentlichen
Stellen der prophetischen Literatur befragen. Wir gehen
aus von der spätesten dieser Stellen, Sach. 7, 5. 6. Die Worte
stehen im Zusammenhang2 der Frage nach der Fortsetzung
der Fasttage angesichts der Wiedererrichtung des Tempels.
Die prophetische Antwort lautet: „Wenn ihr das Fasten hieltet
und klagtet im 5. und 7. Monat nun schon 70 Jahre — habt
ihr da wirklich mir gefastet (13s iJPYKja OiSPl) ? Und wenn ihr

esset, und wenn ihr trinket, seid ihres nicht, die ihr da esset, und
ihr, die ihr da trinket?" Es wird im Anschluß daran an die
Worte der früheren Propheten erinnert — im gegenwärtigen
Zusammenhang ist es ein Wort an Sacharja selbst — in denen
in der Form eines Mahnspruches Gerechtigkeit und Güte eingeschärft
wird. Die Widerspenstigkeit des Volkes wird alsdann
hervorgehoben und in ihr der Grund gesehen für die Gerichte
Gottes in der Vergangenheit. Dieses letztere lassen wir auf sich
beruhen. Wichtiger ist uns das erste: Die Veranstaltung der

") Paul Volz, Der Prophet Jeremia übersetzt und erklärt, 2. Aufl., 1928,
S. 102f. — „Damals wurden keine Opfer gebracht" (Julius Wellhausen,
Die kleinen Propheten, 3. Ausg., 1898, zu Am. 5, 25).

2) Der Zusammenhang wird von Otto Procksch (Die kleinen prophetischen
Schriften, Erläuterungen zum AT Bd. 6, 1916, z. St.) und neuerdings
wieder von Karl Elliger (Das Buch der zwölf kleinen Propheten II, 1930,
z. St.) bestritten; dagegen mit Recht, besonders in Rücksicht auf die Anrede
in V. 5, die die Gleichen meint wie in V. 2, Ernst Sellin (Das Zwölfprophetenbuch
, 2,/3. Aufl., 1929, z. St).