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Ausgabe:

1950

Spalte:

3

Autor/Hrsg.:

Richter, Liselotte

Titel/Untertitel:

- 10 Zwischenbilanz der Existenzphilosophie Leipzig, 1950

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3

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 1

Zwischenbilanz der Existenzphilosophie

Von Liselotte Richter, Berlin
Es hätte nahe gelegen, dieser Ubersicht ebensogut den
Titel zu geben „Zwischenbilanz der Existenzliteratur".
Allein dann hätte eüie grundsätzliche Erkenntnis unberücksichtigt
bleiben müssen, die gerade das Ergebnis einer solchen
Auseinandersetzung mit diesem Zweige des philosophischen
Schrifttums zu sein hat: überprüft man die seit 1945 erschienenen
Abhandlungen über die Existenzphilosophie genau, so ergibt
sich die Einsicht, daß jede Stellungnahme zum Problem
der Existenz bereits eine existentielle Entscheidung ist. Ob
man sich tief angerührt von Aufruhr und Unruhe, welche die
Existenzphilosophie entfesseln will, selbst hineinstellt in ein
existentielles Verstehen, oder ob man in akademischer Neutralität
aus der längst entschwundenen Scheinsicherheit des
Denkens früherer Epochen hinter künstlich zur Schau getragener
Unberührtheit vor der Grundfrage der Existenz sich
versteckt, das ist bereits eine existenzphilosophische Entscheidung
, deren Verantwortung für die Zukunft auch der noch
so Unbeteiligte sich nicht entziehen kann.

Zwischen den beiden Polen leidenschaftlicher Anteilnahme
und abwehrender Gleichgültigkeit gibt es viele Zwischenstufen
. Die hier untersuchten Arbeiten über die Existenzphilosophie
können nach diesem Gesichtspunkte als verschiedene
Grade echten existenzphilosophischen Verstehens gewertet
werden. Hierbei zeigt sich, daß die Autoren der ersten
Gruppe, die selbst aus existentieller Beunruhigung zu einem
Mitphilosophieren mit den Existenzphilosophen gelangen, am
besten der Zielsetzung einer lebendigen Einführung in die
Existenzphilosophie nahekommen. Das schließt nicht aus, daß
die zweite Gruppe der Fernstehenden gerade in ihrem Versagen
vor einer solchen Aufgabenstellung aufschlußreiche Erkenntnisse
über unsere geistige Zeitsituation und ihre Zukunftsgefahren
bieten und dadurch aufrüttelnder wirkenmüssen
.

Die meisten Autoren betonen, was auch in der breiteren
Öffentlichkeit immer wieder ausgesprochen wird, daß die Existenzphilosophie
durch Jean Paul Sartre zu einer Modephilo-
sophie geworden sei. Einige von ihnen verbinden damit eine
abschätzige oder mindestens bedauernde Bewertung, die an
dem Ernst des Anliegens und der Beunruhigung der neueren
Existenzphilosophie vorbeizusehen scheint. Die Gefahr, daß
jetzt jeder das Wort „Existenz" im Munde führe, ohne sich
etwas dabei zu denken, muß in Kauf genommen werden angesichts
der wichtigen Tatsache, daß die Gegenwart sich in
weitesten Kreisen um den Menschen in einer philosophischen
Form zu sorgen beginnt. Dabei ist gerade Sartre einen wesentlichen
Schritt weiter gegenüber der älteren Generation der
Existenzphilosophen gekommen. Was nach dem ersten Weltkriege
von Heidegger und Jaspers in seismographischer Feinfühligkeit
mitten in einer Zeit des Zurücksinkens in die alltägliche
Scheinsicherheit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
gestellt wvfrde: das Zerbrechen alter Denk- und Lebensformen,
die Fragwürdigkeit des Menschen und seiner pseudo-idealisti-
schen Verbrämung, und alles, was sich an Konsequenzen daraus
ergibt, bedurfte in der nächstfolgenden Generation eines
Sprechers, für den dieses Daseinsgefühl in einem gesteigerten
Maße zum alleinherrschenden Antrieb des Philosophierens geworden
war.

Angesichts der sinnfälligen Formen von Chaos und Untergang
, die uns heute umgeben, sind die Ahnungen eines Heidegger
und Jaspers in einem solchen Maße bestätigt worden,
daß ein Zurücksinken in bequeme Selbstberuhigung als oberflächlichster
Selbstbetrug vom gewissenhaften jungen Philosophen
unserer Zeit aufs schärfste gebrandmarkt werden muß.
Deshalb ist Sartres konkretere und lebensnähere Art zu philosophieren
nicht bloß zu werten als eine Verflachung der Ansätze
von Heidegger, sondern mindestens ebenso stark als
deren Bestätigung und Sichtbarmachung in einer unausweichlicheren
Form, als sie der älteren Akademikergeneration möglich
war. Der Vortrag von Rene Montigny, „J.-P. Sartre
und der Existentialismus oder Das Problem der Philosophischen
Literatur" bringt diese wichtige Tatsache
zur Sprache. Mit den Worten Sartres selbst wird die Situation
und das Anliegen, aus dem heraus er philosophiert, dargestellt:

l) Montigny, Rene: J.-P. Sartre und, der Existentialismus oder das

Problem der philosophischen Literatur. Vortrag. (J.-P. Sartre et l'existentia-
lisme ou le probleme de Ia Litterature philosophique. Conferenc.) Lindau:
Werkverlag Frisch <& Berneder [1948]. 75 S. 8°.

„Von 1930 an sind den jungen Schriftstellern die Augen geöffnet worden
durch die Weltkrise, das Aufkommen des Nazismus, die Ereignisse in China,
den spanischen Krieg. Es schien uns der Boden unter unseren Schritten zu
weichen und man begann, uns plötzlich an der Geschichte irre zu machen.
Diese ersten Jahre des großen Weltfriedens mußte man auf einmal ansehen
als die letzten zwischen zwei Kriegen und in jeder Verheißung, die wir dankbar
aufgenommen hatten, mußte man eine Drohung erblicken."

So stellt er in seiner Abhandlung ,, Qu'est-ce que la Littd-
rature?" dar, daß die dritte Generation der Schriftsteller
unseres Jahrhunderts, vertreten durch Camus, Köstler, Mal-
raux, Saint-Exupery sowie die jungen Existenzphilosophen
im engeren Sinne, das Bild des Menschen in einer stärker
alarmierenden Weise in seiner ganzen Fragwürdigkeit und Gefährdung
zu umreißen hatten, als es üire geistigen Vorgänger
tun konnten:

„Unsere Vorgänger schrieben für Ferienleute, für das Pulikum aber, an
das wir uns unsererseits wenden sollten, waren die Ferien zu Ende. Dieses
Publikum setzte sich zusammen aus Leuten unseres Schlages, die wie wir den
Krieg und den Tod erwarteten; für diese Leser, die keine Muße hatten, die,
ohne sich je Entspannung zu gönnen, nur von einer Sorge erfaßt waren, konnte
nur ein Thema passen: Über ihren Krieg, ihren Tod mußten wir schreiben.
Brutal in den Lauf der Geschichte eingespannt, waren wir gezwungen,
ein in die Gegenwartsgeschichte passendes Schrifttum zu schaffen, und das ist
ein Unterschied von den vorhergehenden."

Das Ende dieses zweiten Weltkrieges hat die Beunruhigungen
der verantwortungsbewußten Geistigen zwischen den
beiden Weltkriegen in einem ungeahnten Maße bestätigt und
zu einer furchtbaren Relevanz erhoben. Wir leben, seitdem
mitten im Herzen Europas Millionen von Menschen in den KZs.
zu Tode gefoltert wurden, im „univers concentrationnaire",
dem KZ-Universum. Der für die Erhaltung der menschlichen
Freiheit Verantwortliche ist der Philosoph des Widerstandes,
der allein durch schonungslose Klarheit und Enthüllung der
gefährlichen Halbheiten unserer Zeit gegen künftiges Unheil
wappnen kann. Das Frankreich der Besetzungszeit war der
Hintergrund des beginnenden reifen Mannesalters der heutigen
Generation der neuen Existenzphilosophie. Illusionsloses
Philosophieren heute sieht die Menschen (und sich selbst
unter ihnen) ständig zwischen Henkern und Verrätern, zwischen
Willkür und Einkerkerung. Das bestimmt die Sprache
und den Ernst der jetzigen Philosophierenden:

„Es war da ein dürftiges Flämmchen in Ihnen, und das mußten sie selbst
unterhalten. Dieses Flämmchen zog seine klägliche Nahrung nur aus dem
Schweigen, das sie ihren Henkern entgegensetzten; um sie herum aber gab
es nur die tiefe Polarnacht des Unmenschlichen und des Nichtwissens."

Was für den Theologen an dieser Darstellung wichtig ist,
f üidet zwar in der hier vorliegenden Literatur keine ausdrückliche
Erwähnung, ist jedoch von dem Einsichtigen leicht zu
erkennen: es ist die Analogie zur Ursprungssituation des
Christentums. Die Radikalität des existenzphilosophischen
Fragens, wie abstoßend und fremdartig ihre literarischen Aus-
drucksformen auch immer sein mögen, darf nicht in ihrer
grundsätzlichen methodischen Bedeutung für die Erkenntnis
der Ausgangssituation des Christentums verkannt oder gar
verharmlost werden. In diesem Sinne ist für den Theologen
die Analyse von Sartres Romanen und Dramen von grundsätzlicher
Bedeutung. Der Vortrag von Montigny widmet sich
hierbei besonders der Auslegung der beiden zuerst erschienenen
Werke von „Les Chemins de la libertö". „Das Alter der Vernunft
" und „Der Aufschub" wollen den Menschen in seinem
irrenden scheiternden Wege zur Freiheit seines Selbst, seines
eigenen Existenzentwurfes zeigen. Besonders gelingt es ihm,
im zweiten Band, den „Aufschub" (der Tschechenkrise 1938)
mit seiner ständig über uns hängenden Bedrohung als unsere
eigentliche Existenzsituation deutlich zu machen.

Terminologisch wichtig für eine fachphilosophische Fragestellung
ist Montignys kurze und knappe Unterscheidung
des „En-soi" und „Pour-soi", des Hegeischen „An-sich" und
„Für-sich", die Sartre in seiner Existenzanalyse in einem ganz
besonderen Sinne verwendet. „En-soi" ist das In-sich-Abgeschlossene
, das fertige Seiende, das immer nur Objekt ist,
nur Objekt für andere, im Gegensatz zum „Pour-soi", das in
erster Linie für sich selbst und nicht für andere da ist und
sich als Subjekt betätigt. Der Mensch wird um so freier sein,
je unabhängiger er von dem „In-sich", d. h. von den Dingen
wird. Aber diese „In-sich" sind nicht nur die Objekte, die
toten Dinge. Unser Körper mit seinen Bedürfnissen, die