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Ausgabe:

1950

Spalte:

205-212

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Ursprung und Sinn der Typologie als hermeneutischer Methode 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

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wenn uns ihr Verständnis der Not als Not der Vergänglichkeit
auch einseitig vorkommt. Heute wird die Not der Welt
vorzugsweise als „Unordnung" definiert, die kirchliche Predigt
versteht sie auch als Schuldfolge — eins ist so problematisch
wie das andre, im Hinblick auf den Blindgeborenen jedenfalls
auch das Zweite. Was heißt dann aber christologische Interpretation
?

Ein Wort zuvor über die Diagnose auf Mythologie. In die
Republik Benelucien (vielleicht war es auch Malelucien) kam
im Jahr 1945 ein fremder Mann. Als die Leute von Benelucien
hörten, es sei ein Deutscher, schlugen sie ihn tot. Der Mann
war zufällig in seiner Heimat Nachtwächter gewesen, er hatte
daher das Dritte Reich nie bei Tage gesehen. Dennoch war
Logik im Verhalten der Benelucier. Denn in dem einen war
für sie die deutsche Gesamtschuld gegenwärtig. Und umgekehrt
, indem sie den einen erschlugen, erlitt dieser eine, was
dem verhaßten Ganzen zugedacht war. Es ist nur ein Gleichnis
. Es soll nur den Begriff einer gesamtheitlichen Stellvertretung
veranschaulichen. Man kann das natürlich einen
Mythus heißen, aber die Sache selbst wird dadurch weder bekräftigt
noch beeinträchtigt.

Als Paulus in Athen sagen wollte, was der eine Mann für
die Welt bedeute, mußte er vorausschicken, was ihm selbst
erst an Christus aufgegangen war, daß vor Gott zwischen

Juden, Griechen und Barbaren kein Unterschied besteht, daß
mithin alle Menschen eine Einheit und ein Ganzes bilden. Die
Ganzheit und die Einheit können auch wir wie Paulus nur
christologisch interpretieren. Es ist nicht die stoische Einheit
aller Vernünftigen, auch nicht die zoopolitische der Peri-
patetiker, sondern die durch Christus qualifizierte Einheit. Es
ist die in Not und Schuld verstrickte, hierin aber noch lückenlos
verkettete und darum auch insgesamt erlösungsbedürftige
Gesamtheit. Alle Not in der Welt, mag sie Kyrillisch als
(pd-ag-cbv oder Lutherisch als Gewissensnot oder als neuzeitliche
Sklaverei erlebt sein, bildet ein Notganzes, ebenso wie alle
Verschuldungen ein Schuldganzes bilden, und das Notganze
und das Schuldganze sind so ineinandergeflochten, daß kein
Mensch es entwirren kann. Die christologische Interpretation
der Welt besagt, daß in dem Einen die Gesamt schuld gegenwärtig
, und daß, weil die Weltschuld und die Weltnot unauflöslich
ineinander verstrickt sind, in dem einen Gekreuzigten
auch die Gesamtnot der Welt gegenwärtig ist. Die theopa-
schitische Formel „Gott hat gelitten" aber besagt, daß es, mit
Luther geredet, das „himmlische ewige Feuer der Liebe" ist,
die ebenfalls in dem Gekreuzigten gegenwärtig ist, daß dieser
Gott in dem gekreuzigten Sohn die Schuld und Not der Welt
auf sich selbst gezogen hat und daß hierin die Bürgschaft der
Erlösung liegt.

Ursprung und Sinn der Typologie als hermeneulisdier Methode1

Von Rudolf Bultmann, Marburg

Unter Typologie als hermeneutischer Methode versteht
man die seit dem Neuen Testament in der Kirche geübte Auslegung
des Alten Testaments, die in Personen, Ereignissen oder
Einrichtungen, von denen dieses berichtet, Vorabbildungen
, Vorausdarstellungen, entsprechender Personen, Ereignisse
oder Einrichtungen der mit dem Kommen Jesu Christi
angebrochenen Heilszeit findet. Die Bezeichnung als Typologie
geht auf Paulus zurück, der Rm. 5, 14 Adam als Typos Christi,
1 .Kr. 10,6 die Israeliten der Wüstenzeit als Typoi der Christen bezeichnet
. Dem alttestamentlichen Typos entspricht der Antity-
pos der christlichen Zeit (i.Pt.3,.21; vgl.Hbr.9, 24). Die typolo-
gische Betrachtungsweise ist jedoch nicht an diese Terminologie
gebunden2. Verwandt ist diese exegetische Methode derjenigen,
die in Worten des Alten Testaments Weissagungen findet,
die in der Heilszeit ihre Erfüllung gefunden haben oder noch
finden werden. Beide Methoden sind aber streng voneinander
zu unterscheiden3. Die Typologie steht unter dem Gedanken
der Wiederholung, der Weissagungsbeweis unter dem der
Vollendung. Den beiden Methoden entspricht ein verschiedenes
Zeitverständnis: der Weissagungsbeweis rechnet mit
dem linearen Lauf der Zeit, die Typologie mit dem zyklischen.
Der Weissagungsbeweis entspringt der genuin alttestamentlichen
Anschauung von dem durch göttlichen Plan geleiteten
teleologischen Lauf der Geschichte, von der Heilsgeschichte,
die zu ihrem Ende, üirer Vollendung geht. Der Gedanke der
Wiederholung stammt dagegen nicht aus einem echten Verständnis
von Geschichte, sondern ist der kosmologische Gedanke
von der zyklischen Bewegung des Weltenlaufs, der
nicht eine Vollendung, sondern die Wiederholung, die Wiederkehr
des Gleichen, kennt; Idov, noim rä iaxara cog rd jtqwto.
(Barn. 6, 13) ist der klare Ausdruck dafür; aber auch in der
paulinischen Prägung xo-ivt] KxtctQ (2. Kr. 5, 17) ist er ausgesprochen
. Insofern der Anbruch einer neuen Weltperiode
als das Ende der alten gilt, kann es heißen: Endzeit gleich
Urzeit4.

Die Anschauung von der Wiederkehr des Gleichen findet
sich ebenso im alten Orient wie im Griechentum5. Sie dürfte

') Dieser Beitrag erscheint gleichzeitig in der Festschrift zum 60. Geburtstag
von O. van der Leeuw Pro Regno Pro Sanctuario ( Verlag O. F. Callen-
bach N. V., Nijkerk).

:) Über die Terminologie s. Leonh. Goppelt, Typos. Die typologische
Deutung des Alten Testaments im Neuen 1939. Der griechischen Literatur
ist dieser Gebrauch von xvTtog fremd. Über die Geschichte des Wortes rvTtog
bzw. Typus s. J. E. Heyde, Forschungen und Fortschritte 17 (1941), S. 220
bis 223.

3) Daß Goppelt den Unterschied nicht klar sieht, ist ein Hauptfehler
seines A. 2 genannten Buches.

') Vgl. Herrn. Gunkel, Schöpfung und Chaosin Urzeitund Endzeit21921
und W. Staerk, Die Erlösererwartung in den östlichen Religionen 1938, zwei
Werke, die bei Goppelt unbegreiflicherweise überhaupt nicht genannt sind.

6) Vgl. Wilh. Bousset (-Hugo Greßmann), Die Religion des Judentums
im späthellenistischen Zeitalter3 1926, S. 502ff., sowie Staerks Anm. 4 ge-

schon ursprünglich mit der Vorstellung von der Gliederung
der einzelnen Weltzeiten in Perioden verbunden gewesen sein,
— Perioden, die ebenso die jüdische Apokalyptik kennt wie
LIesiod. Wieweit ein historischer Zusammenhang zwischen der
vorderorientalischen und der griechischen Anschauung vom
zyklischen Gang des Weltlaufs und seiner Periodengliederung
besteht, bleibe dahingestellt; jedenfalls ist die Anschauung
vom Kreislauf der Zeit beiderwärts in der Beobachtung des
Kreislaufs des Himmelsgewölbes mit seinen Gestirnen begründet
. An ihrer Bewegung werden ja Tages- und Jahreszeiten
abgelesen, utid die Periodengliederuug entspricht der
Gliederung des Jahreslaufs. Sekundär wird es sein, daß die Abfolge
der Zeitperioden auch nach Analogie der Altersstufen des
Menschen verstanden wird1.

Schon früh, jedenfalls bei einzelnen alttestamentlichen
Propheten2, ist die Anschauung vom Kreislauf der Zeit der
eschatologischen Hoffnung dienstbar gemacht worden. Sie
mußte zum Ausdruck des Bewußtseins dienen, am Ende einer
Epoche des Unheils stehen, der demnächst eine Epoche des
Heils folgen wird. Diese Eschatologisierung der Anschauung
bedeutet natürlich eine Inkonsequenz; denn die
Hoffnung auf die Wiederkehr der herrlichen Urzeit rechnet
nicht damit, daß jetzt der Kreislauf von neuem beginnt, —
sowenig bei den alttestamentlichen Propheten, den jüdischen
und christlichen Apokalyptikem, wie etwa in der 4. Ekloge
Vergils, — im Unterschied von der konsequenten Durchführung
des Gedankens in der griechischen Philosophie. Aus den
XQOvoi (WoxmaoTäoecog (act. 3, 21) wird dann der xaigdt; öioq&o>-
aecog (Hebr. 9, 10).

Es ist im Grunde die gleiche Inkonsequenz, die sich schon
in der kultischen Feier solcher Feste zeigt, die den Eintritt
eines neuen Zeitabschnittes begehen, zumal des Neujahrfestes
. Denn das Glück, dessen Eintritt hier gefeiert wird,
ist, „auch wenn es sich wiederholt, im Erlebnis einmalig"3.
In der Tat sind ja die der Eschatologie und dem Kultus zugrunde
liegenden Motive eng verwandt. Die Feste des Neujahrs
und der Thronbesteigung feiern im alten Orient die Erneuerung
der Schöpfung, und bis in den späteren jüdischen

nanntes Werk S. 158ff. — Für das Griechentum: Erich Frank, Philosophical
Understanding and Religious Truth 1945, 67f. — Über den griechischen Terminus
änoxardaraaig bzw. äTtoxa&iazdvai s.Oepke, Theologisches Wörterbuch
zum Neuen Testament I, 387, 6ff. und 389, 4ff. Ferner die Anmerkungen
zu Corp. Herrn. VIII4 und XI2 in „Hermes Trismegiste" ed. Nock und
Festugiere I, S. 90 und S. 155—157.

') Vgl. 4. Esra 5, 55; syr. Bar. 85, 10. — Der Bezug auf die Jahreszeiten
scheint bei Philon de op.mundi 59 im Gebrauch des Terminus %QOV0g xarog-
&At3EU)C, nachzuklingen.

2) Vgl. Hugo Greßmann, Der Messias 1929, passim; Aage Bentzen,
Messias — Moses redivivus —■ Menschensohn 1948.

3) Ger. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion 1933, 95; ed.
franc. 1948, 106.