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Ausgabe:

1950

Spalte:

195-206

Autor/Hrsg.:

Elert, Werner

Titel/Untertitel:

Die Theopaschitische Formel 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 4/5

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Die Theopaschitische Formel

Von W. Eiert, Erlangen

Die theopaschitische Formel „Gott hat gelitten" kommt
in der modernen Dogmatik, der protestantischen wie der
katholischen, wenn überhaupt, nur noch als dogmengeschichtliches
Kuriosum vor. Das entspricht ihrem Vorkommen in den
Lehrbüchern der Dogmengeschiclite, in denen sie nur ein paarmal
episodenhaft aufzutreten pflegt. Es entspricht aber, wie
ich glaube, nicht ihrer geschichtlich-effektiven Bedeutung. Ich
werde jetzt zu zeigen versuchen, daß die durch diese Formel
hervorgerufene Antithesenbildung den Ablauf der dognien-
geschichtlichen Dialektik wenigstens in der alten Kirche erheblich
, ja maßgeblich mitbestimmt hat. Unter dem Zwang der
Stunde müssen wir dabei naturgemäß vereinfachen, zusammenraffen
, das Augenmerk auf einige Beispiele konzentrieren, ohne
auf alle Differenzierungen im geschichtlichen Ablauf eingehen
zu können. Es kann nur eine Skizze sein. — Damit verbindet
sich die Nebenabsicht, zu einerWiederverbreiterung der dogmen-
geschichtlichen Forschung besonders im Feld der alten Kirche
in unserer allgemeinen Kräfteverteilung anzuregen. Die Sachkenner
unter uns wissen, daß wir in Gefahr stehen, auf dem
Gebiet der Patristik von anderen Seiten überflügelt zu werden.
' Wir zehren im Augenblick noch von den dogmengeschicht-
lichen Glanzleistungen des vorigen Menschenalters. Wir verkleinern
diese Leistungen nicht, wenn wir sie ganz in uns aufzunehmen
suchen — dabei aber bemerken, daß wir uns in der
Hermeneutik der Quellen von ihnen entfernt haben. Auch der
Dogmatiker muß einsehen, daß er sich schon durch das Operieren
mit Zitaten, die eine frühere Zeit für repräsentativ hielt,
in Abhängigkeit von einem Geschichtsbild begibt, das er im
übrigen selbst gar nicht mehr vertreten könnte. Auch er erwirbt
nur im lebendigen Umgang mit der Dogmengeschichte
die hohe Zucht des wissenschaftlichen Denkens, die ihn vom
Volksmissionar unterscheidet.

1.

Von dem mannigfachen Gebrauch der theopaschitischen
Formel und ihrer Varianten „Gottes Leiden", „Gottes Blut"
(so schon AG 20, 28), vom „gekreuzigten Gott", vom „fleischgewordenen
Logos Gottes am Kreuz" in der Großkirche des
zweiten Jahrhunderts können wir jetzt absehen. Er entspricht
der noch unentwickelten Christologie. Für unseren Zusammenhang
ist daran nur wesentlich, daß dabei überhaupt Leidensprädikate
unbedenklich mit dem Gottesnamen verbunden
werden. Noch Tertullian bezeichnet es gegen Marcion als
gut christlich: etiam mortuum deum credere1. Der gleiche Tertullian
ist es dann freilich auch, der gegen Praxeas das Recht
hierzu bestreitet. Er bekämpft in Praxeas zwar ebenso wie
Hippolyt in den modalistischen Monarchianern ausdrücklich
nur den Patripassianismus, aber die Argumente, die er dabei
verwendet, müssen auch die von ihm selbst gebrauchten theopaschitischen
Wendungen fragwürdig machen. Um den Satz,
der Vater habe gelitten, zu widerlegen, hätten seine reichlichen
biblischen Hinweise vollkommen genügt. Er operiert
jedoch auch mit den Begriffen der immortalitas und der immu-
tabilitas dei und worauf es jetzt ankommt, mit den Begriffen
passibilis, impassibilis, cumpassibilis. Das Leiden und das
Nichtleidenkönnen wird auf die Menschseite und die Gottseite
in Christus verteilt. Gott ist in jeder Hinsicht impassibilis.
Deshalb ist es nicht nur verboten zu sagen pater passus est,
sondern auch compassus est fllio2.

') Die nach Lightfoot, Clem. of Rome 1877, S. 400 f. in den Dogmengeschichten
regelmäßig angeführten Belegstellen: Ignatius, Eph. 1, 1; Rm.
6, 3. — Tatian, Jtgbs "ElXrjv, c. 13, 3, S. 15, 5 Schwartz. — Melito v. Sar-
des, fragm. Otto, corp. apol. IX, S. 46. — Test. XII. Patr. Levi MSO 2,
1055. — Anonymus bei Eusebius h. e. V, 28, S. 502, 12 Schwartz. — Tertullian
, de carne Chr. c. 5; ad uxor. 11,3; adv. Marc. II, 16.27 CSEL III,
356,20; 373,6; 374, 13. — Clemens Rom. II, I, zweifelhaft. — Vgl. ferner
die dem Aristides zugeschriebene, in der Hauptsache jedenfalls sehr alte
Homilie, Text (übers, v. Himpel) bei R. Seeberg, D. Apologet Aristides 1904,
IV, 1; V, 4; VII, 4. — Ferner Irenaeus adv. haer. V, 18, 1 (II, 273 Harvey)
quoniam enim ipsum verbum dei incarnatum suspensum est super lignum.

2) adv. Prax. c. 15. 27. 29. — Über die Bedeutung der Begriffe pati, pas-
sibilitas in Tertullians Anthropologie und über seine Abhängigkeit von Aristoteles
Theodor Brandt, Tertullians Ethik 1929, S. 46. — Über Apathie bei
Origenes Walter Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes 1931, S. 46.
267. Dazu Hai Koch, Pronoia und Paideusis 1932, S. 329ff. — Augustin
will de civ. dei IX, 4 den Begriff ndd'r] der Stoiker und Peripatetiker mit per-
turbationes, affectiones, affectus oder passiones wiedergeben. Hier auch, allerdings
nur vom Menschen: quid est autem misericordia nisi alienae miseriae
quaedam in nostro corde compassio?

Wie sich Tertullian trotzdem zu seinen eigenen dezidiert
theopaschitischen Redewendungen befugt glaubte, kann jetzt
dahingestellt bleiben. Es kommt nur darauf an, daß hier der
Satz von der impassibilitas, der anäSua. Gottes als reines
Axiom auftritt, das vermeintlich überhaupt keiner Begründung
bedarf. Der Begriff der Apathie ist freilich mehrdeutig.
In der Polemik gegen Praxeas bedeutet er nur die Leidensfähigkeit
in dem Sinne, den wir mit diesem Begriff verbinden.
In einem weiteren Sinne kann er aber auch Af f ektlosigkeit überhaupt
bedeuten. In der antignostischeu Polemik wird seine
Anwendbarkeit auf Gott auch in diesem weiteren Sinne sowohl
von Irenaeus wie von Tertullian bestritten. Gegen Marcion
spricht Tertullian freilich dann doch auch wieder von Affekten
in Gott, besonders die Lehre vom Zorn Gottes veranlaßt ihn
dazu, er will sie nur deutlich von den menschlichen unterschieden
wissen. Bei Clemens Alexandrinus aber ist das
Gottesbild, das sich hinter jenem Axiom verbirgt, völlig geklärt
. Es ist das Bild des «iro^s und äve7ttSei]s 0-eds, des ävevderje,

des äveTCid-ijfiritos, des äjtpooSerjs, des oix 1/iTCalHjs d'edg1. Aus den

theopaschitischen Aussagen von Ignatius bis Tertullian
gewinnt man den Eindruck, daß die werdende Theologie im
Begriff stand, durch das Christusbild hindurch ihr Gottesbild
zu gewinnen. Bei Clemens dagegen erscheint das Christusbild
wie umgelegt, damit man sieht, was oder wer eigentlich
dahintersteckt. Dahinter blickt man in das unbewegliche,
affektlose Antlitz des Gottes Piatos, vermehrt um einige
Züge der stoischen Ethik. Das Christusbild ist dabei nur Vordergrund
. Die Platonische Apathie Gottes bildet von jetzt ab
das Apriori der gesamten orthodox-kirchlichen Gottesvorstellung
. In dem allgemeinen Strom gibt es nur einen einzigen
Wellenbrecher, die theopaschitische Formel: Gott hat doch
gelitten. Der Gegensatz zwischen dem Apathiesatz und der
theopaschitischen Formel ist der zunächst noch latente, später
aber immer mehr in Erscheinung tretende Motor der gesamten
christologischen Dialektik in der alten Kirche.

2.

Noch Irenaeus kann unbedenklich sagen, der impassibilis
sei passibilis geworden. Ähnlich Melito v. Sardes2.
Auf alexandrinischem Boden dagegen konnte man nicht so einfach
über den Graben springen. Der Origenesschüler Gregor
Thaumaturgos stellt in seinem Dialog über „die Leidensunfähigkeit
und Leidensfähigkeit Gottes" natürlich das Axiom
der Apathie an die Spitze und es bleibt auch bis zum Schluß
der eigentliche Beweisgegenstaud. Hat Gott tatsächlich doch
das Leiden auf sich genommen, so hat er gerade im Leiden
seine Leidensunfähigkeit bewiesen. Denn erstens litt er freiwillig
— ein Leiden ohne Zwang ist kein wirkliches Leiden.
Zweitens ist er des Leidens wirklich Herr geworden — der
Diamant erleidet den Schlag des Eisens und erleidet doch
keinen Schaden, beweist also gerade so seine Leidensunfähigkeit
. Drittens ging er ohne Furcht in den Tod, wurde nicht
vom Schmerz bewegt, nicht im Tode festgehalten. Gregor vereinfacht
sich, das muß anerkannt werden, das Problem nicht
dadurch, daß er nur von Christus spricht. Es geht um die Anwendbarkeit
des Leidensprädikates auf Gott selbst. Gottesbild
und Christusbild sind, wie es scheint, noch ungeschieden
zusammengeschaut. Aber dafür ist das Christusbild entkonkretisiert
: Es ist mit Hilfe des Apathiesatzes korrigiert. Die
Grenze zum Doketismus ist überschritten. Bonwetsch hat
ähnliche Gedanken auch bei Methodius hingewiesen3,

Nach Nicaea konnte nicht mehr so undifferenziert über
Gott und Christus geredet, es konnte aber auch nicht mehr so
einfach das Leiden hinweginterpretiert werden. Auf Ariani-
scher Seite ist der Satz von der Apathie Gottes absolutes
Axiom. Infolgedessen sollen, so ist da die Meinung, alle Niedrigkeitsprädikate
, insbesondere die Leidensaussagen dazu
nötigen, den Gottessohn von der Hornousie mit dem Vater ab-

') Irenaeus, adv. haer. II, 13, 3. 10; 28, 4; Zorn Gottes III, 25, 2. —
Tertullian, adv. Valent. 4; adv. Marc. II, 16. — Für Clemens sei hier nur
auf den Index Stählin IV, S. 467 verwiesen. — Ferner Apologie des Aristides,
Übers, nach Himpel bei Seeberg a.a.O. S.28: „Zorn und Erbitterung Ist
nicht in ihm, denn es entsteht keine Verblendung in ihm, sondern er ist durchaus
und ganz und gar vernünftig".

2) Irenaeus, adv. Haer. III, 16, 6; Melito, a. a. O. S. 419 impassibilis
patltur neque ulciscitur.

3) Text des Dialogs a. d. Syr. übers, v. Victor Ryssel, Gregorius Thau-
maturgus 1880, S. 71 ff. — Methodius ed. Bonwetsch, S. 347, 35ff.; besonders
S. 348, lff. vgl. Bonwetsch, RE 7, 158.