Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1949 Nr. 3

Spalte:

141-146

Autor/Hrsg.:

Müller, Alfred Dedo

Titel/Untertitel:

Der anthropologische Gehalt des evangelischen Gottesdienstes und der Kirchenbau 1949

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

141

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 3

142

Der anthropologische Gehalt des evangelischen Gottesdienstes und der Kirchenbau

(Nach einem Diskussionsbeitrag auf der 3. Tagung für evangelischen Kirchenbau in Berlin-Spandau)

Von Alfred Dedo Müller, Leipzig

Zum 60.Geburtstag von Prof. D.Sommerlath als Zeichen der Dankbarkeit
jür gemeinsamen Dienst an der Universitätskirchc St. Pauli

Eine sichere Grundlage für alle Erörterungen über die
Frage des evangelischen Kirchenbaues kann nur so gewonnen
werden, daß auf der einen Seite der ganze Umfang und die
ganze Tiefe der Problematik, auf der anderen die ganze Konkretheit
der Aufgabe gesehen wird, um die es dabei geht. Sie
liegt aber schließlich darin, daß der Architekt aus dem evangelischen
Verständnis und der evangelischen Praxis des Gottesdienstes
ausführbare Baugedanken für den Wiederaufbau, die
Erneuerung und den Neubau von Kirchen gewinnen muß.
Wie ist das möglich ?

Abstraktes Wissen um die theologischen Gehalte des
Gottesdienstes reicht dazu nicht aus. Bauen ist menschliches
Tim. I!

eim Kirchenbau geht es also nun jedenfalls um die
Übersetzung gottesdienstlicher Sinngehalte in die Sprache
menschlicher Bauform und Raumgestaltung. Hierfür hat die
uns geläufige theologische Interpretation des Gottesdienstes
dem Baumeister wohl zu wenig Hilfen geboten, wie sie doch
offensichtlich überhaupt dem Menschen der Gegenwart den
menschlich-existentiellen Sinn des Gottesdienstes nicht aufzuschließen
vermocht hat. Hier muß erst noch viel mehr ins
Allgemeinbewußtscin eingehen, daß der evangelische Gottesdienst
nicht nur ein theologisches, sondern auch ein
anthropologisches und kosmologisches Ereignis, daß
er auch menschliches und notwendig auch welthaftes Geschehen,
nämlich Hingabe des Menschen an Gott in dieser Welt und doch
wohl auch für diese Welt ist. Immer geht es um das Wirksamwerden
der Gnade in menschlicher Haltung und Verantwortung
in dieser Welt. Auch das ökumenische Gespräch über
den Gottesdienst kann erst dann fruchtbar werden, wenn das
evangelische Verständnis des Gottesdienstes in der vollen
Polarität verstanden wird, in der es jedenfalls bei Luther angelegt
ist. Denn sichtlich wollte Luther, im strikten Gegensatz
zu aller betont „protestantischen" Intellektualisierung,
Rationalisierung und Säkularisierung des Gottesdienstes, die
sieh später auf ihn berief, nichts von dem theologischen
Realismus des katholischen Kultverständnisses preisgeben,
sondern er wollte ihn radikalisieren, so daß alle Verinner-
uchung, alle Annäherung des gottesdienstlichen Geschehens
an das menschliche Erleben, wie sie etwa in der Einführung
der deutschen Kultsprache und in der Betonung der Predigt
«ithalten ist, nicht als Preisgabe, sondern als Konsequenz
dieser theologischen Radikalisierung des Gottesdienstes zu
'"terpretieren ist und deshalb nicht als Subjektivierung, sondern
als Existentialisierung gedeutet werden darf.

Im folgenden sei von da aus an einigen Beispielen die
I'ülle existentiell-anthropologischcr Motive der evangelischen
Auffassung des Gottesdienstes angedeutet, die sich dem Architekten
zur Übersetzung in die Sprache der Bauform und der
Raumgestaltung anbieten.

Da ist zunächst, um mit dem Elementarsten zu beginnen,
das Motiv der Distanz. Auch evangelischer Gottesdienst will
Distanz, will Abstand gewinnen lassen — Abstand in den umfassendsten
und radikalsten Sinn: Abstand vom Alltag, vom
Vielerlei der Tagesanforderung, überhaupt der Zeit, der
^lüchtiirkeit der Weltdinge, Abstand vom Draußen, Abstand
yom Menschen, Abstand von der „Welt".

Damit hängt aber sofort das Motiv der Einkehr zusammen
. Der Gottesdienst ruft nicht in eine abstrakte, raum-
Jose Ferne. Er ruft nach innen. Aus der Fremde in das Zuhause
. Aus der Unsicherheit in die Geborgenheit. Aus dem
in die Stille. Und wenn wirklich die „Entinnerlichung"
"lc Gefahr des „Menschen in der Gegenwart" ist, wie Philipp
Kersch überzeugend dargetan hat, so liegt auf der Hand, was
♦bese Seite des Gottesdienstes für die Wiederherstellung des
^Mischen heute bedeutet.

Schon in diesen Motiven sind eine Menge von Bau-
B^danken enthalten, die der Gestaltung warten. Sie können
|!cr nicht einmal angedeutet werden. Jedenfalls enthalten sie
die Warnung vor falsch verstandener Lebensnähe. Der gottes-
WeaatUche Raum muß gewiß mit der Atmosphäre der Vertrautheit
umfangen. Er darf nicht fremd und beziehungslos
''."muten. Aber das darf nichts mit der anbiedernden Vertrau-
Tfl "'t 7-u tun haben, die nichts von Abstand, Weihe und
Ehrfurcht weiß. Der Gottesdienstbesucher muß die Empfindung
haben, daß er hier finde, was er „eigentlich" schon immer
Besucht, aber eben „draußen" nie gefunden hat. Der gottes-
Ul('Ustliche Raum muß „anders" sein als die Räume, in denen

sich der Alltag abspielt, nicht nur Wohnstube, nicht nur Ver-
sammlungs-, auch nicht nur „Gemeinde"-räum, aber doch
alles Tiefste, was man in jenen Welträumen erfahren kann,
aufnehmend und beheimatend. So muß er bestimmt zu Feier
und gemeinsamer Entspannung einladen. Aber diese, alle Verkrampfung
und Hast des Alltags lösende Feierlichkeit darf
doch nichts von falschem Pathos oder kalter Geschraubtheit
und Pracht an sich haben. Sie muß innere Wärme und inneren
Frieden ausströmen und im tiefsten Sinn des Wortes Heimat
bereiten. Schon von hier aus dürften sich eindeutige Konsequenzen
für die Lage des Kultraumes ergeben. Ein Höchstmaß
von Lärmabseitigkeit, von Stille muß unter allen Umständen
angestrebt werden, wie groß die Verzichte auch sein
mögen, zu denen sonst die Armut zwingt.

Aber in alledem ist vom Inhalt des gottesdienstlichen
Geschehens noch gar nicht die Rede. Auch hier sei nur emiges
herausgehoben. Da ist zunächst das Motiv der inneren
Sammlung. Alles findet sich, um nur das Selbstverständlichste
und Unproblematischste zu sagen, auf eine Mitte, auf
die Mitte alles Lebens bezogen. Alles ruft zur Sammlung,
zur Hingabe, zur Hinwendung auf das Eine, das not ist, auf.
Es ist ja kein bloßer unverarbeiteter Traditionsrest, daß die
lutherische Kirche den Altar behalten hat. In seiner Stellung
im Gesamtraum und im Verhältnis zu Kanzel und Lesepult
liegt zweifellos auch heute das Hauptproblem für die Innenarchitektur
des lutherischen Kirchenraumes; und zwar haben
Altar und Kanzel beide die gleiche theologische Bedeutung:
„Gott ist gegenwärtig!" Gott tritt aus seiner Verborgenheit
heraus, er teilt sich mit. Jedenfalls muß auch die Kanzel
sich als der Ort der Selbstmitteilung Gottes deutlich vom
profanen Rednerpult unterscheiden, von dem aus ein Mensch
seine Meinung kundgibt. Anthropologisch aber ergibt sich aus
dieser theologischen Bedeutung der Kanzel dieselbe Konsequenz
wie aus der Bedeutung des Altars, der die Stätte
des Selbstopfers Gottes ist. Begegnung mit Gott, Hören
auf Gott, Hingabe an Gott, Gehorsam gegen Gott, Vertrauen
auf Gott, Frieden in Gott — das ist das Eine, wozu hier
alles ruft.

Sammlung im Einen, das ist not, Begegnung mit Gott aber
setzt das Erlebnis der Kreatürlichkeit voraus. Das komml
sofort im Beginn des Gottesdienstes im Kyrie zum Ausdruck.
Hier geht es um die Bereitschaft des Menschen, sich so zu
sehen, wie Gott ihn sieht. Aller evangelische Gottesdienst ist
Stehen vor Gott. So allein erkennt sich der Mensch als das,
was er ist: Geschöpf und nicht Schöpfer. So allein fällt alle
Verstiegenheit, Überheblichkeit und Vermessenheit von ihm
ab. So allein wird der Mut zur Demut gewonnen, die Erhebung
und Beugung, Wissen um Würde und Grenze des
Menschen in einem ist. Der Mensch erkennt die Würde seines
göttlichen Ursprungs und die Not seiner Gefährdung durch
Gottfremde und Tod. Er erkennt die LTnentriunbarkeit Gottes,
verzichtet auf alle Flucht vor Gott und wird bereit, sich dem
Urteil Gottes zu stellen und seine Hilfe zu suchen: „Herr,
du erkennest mich . . . von allen Seiten umgibst du mich . . .
Wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht?" (Ps. 139).
Der Kyrie rufende Mensch weiß sich in der Not seiner Gottfremde
mit der Not aller Kreatur verbunden und weiß sich
gerade in der allumfangenden Not der Geschöpflichkeit auf
die einzige Hilfe verwiesen, die hier helfen kann. „Das ängstliche
Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der
Kinder Gottes . . . denn auch die Kreatur wird frei werden
von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen
Freiheit der Kinder Gottes" (Rom. 8, 19, 21).

Und nun geschieht ja etwas ganz Unerhörtes. Mit dem
Kreaturbewußtsein verbindet sich in der Liturgie in einer für
die menschliche Reflexion geradezu anstößigen Unvermitteltheit
das Befreiungs- und Erhebungsmotiv. Auf das
Kyrie folgt unmittelbar das Gloria. Im Gotteslob ergreift der
Mensch seine Freiheit in Gott, seine eigentliche Würde, den
Ursprung, die Quelle aller Menschlichkeit. Und es ist ja nicht
nur das Gotteslob der gottesdienstlich versammelten, empirischen
Gemeinde. Es ist die Erhebung zum Gotteslob der
Heiligen und Vollendeten, der Propheten und Apostel, ja der
Engel. „Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken
Helden . . ., lobet den Herrn, alle seine Heerscharen . . . lobet
den Herrn, alle seine Werke . . ." (Ps. 103). Im Sursuni corda!
der Abendmahlsfeier wird dieses Motiv neu aufgenommen und