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Ausgabe:

1949 Nr. 2

Spalte:

79-86

Autor/Hrsg.:

Stange, Carl

Titel/Untertitel:

Das Ebenbild Gottes 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 2

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zweitens hinweisen will. Es ist das Zukunftsbild des Jesaja.
Hier begegnet uns die seltsame Erscheinung, daß der Prophet,
der sich so scharf gegen die ,.weisen Führer" seinerzeit wendet,
das Bild des erwarteten Herrschers durchaus mit chokma-
tischen Zügen ausstattet. Ich denke dabei an die jetzt meist
nicht mehr in ihrer Echtheit bestrittenen Abschnitte 9, 1—6
und 11, 1 ff., deren Herkunft von Jesaja ich eben im letzten
Teil der Untersuchung über die literarischen Beziehungen des
Buches Jesaja zu den Proverbien schon unterstellt habe. Nach
9, 5 ist der Herrscher der Zukunft „ein Wunder von einem
Ratgeber" (yjrp 8^5) )'< nach 11, 2 der vollendet Weise,

ausgerüstet mit dem Geist der Weisheit (pnflSn) und Ein-

t : t

sieht (nD">3). des Rates (n2IP)> der Erkenntnis und Furcht

des Herrn (mrp riNTH T^)- Wenn man die verschiedenen

terminologischen Anklänge Jesajas an die Proverbien-Königs-
sprüche hinzunimmt, dann kann man. wohl sagen, daß hier
der Einfluß der Chokma mit Händen zu greifen ist. Dies
aber ist die Verkündigung des Propheten: Der König von
Assur meint, es mit „seiner Weisheit" geschafft zu haben
(10, 12f.) und wird von Jahve gestürzt; ebenso ergeht es den
weisen Räten Pharaos (Jes. 19, uff.; 31, 3) und Judas (29, 14;
31, 3). Aber der erwartete Herrscher des Gottesvolkes wird
mit Jahves Geist ausgerüstet in göttlicher Weisheit regieren
.

III.

Wie ist die merkwürdige Doppelstellung des Jesaja — als
Gegner der Weisen und Anhänger der Weisheit! — zu deuten ?
Es scheint mir daraus hervorzugehen, daß Jesaja vor seiner
Berufung zum Propheten dem Stande der „Weisen" angehört
hat2 und in der Welt der Chokma, wie sie uns in den Sprüchen
der Männer Hiskias (Prov. 25—29) und etwa in den Kapiteln
10—22 des Spruchbuches entgegentritt, gelebt hat. In der Berufung
— die dadurch eine ganz besondere Note bekäme, wenn
sie an Jesaja als einen Weisen ergangen wäre! — wird ihm
deutlich, daß er sich von der bis zum gewissen Grade unverbindlichen
Weisheit und ihren Ratschlägen zu trennen habe
und sich als Gottes Bote senden lassen müsse mit dem eigenartigen
Auftrage, so zu reden, daß die Menschen in all ihrer
(menschlichen!) Weisheit seine Botschaft nicht begreifen, obwohl
sie sie vernehmen:

„Sage zu diesem Volk da:

Höret nur immer und begreifet nicht (^an-bs)*

Sehet nur immer und erkennet nicht (runfi—biO • • •

Daß (das Volk) mit seinen Augen sehe

Und mit seinen Ohren höre,

Aber sein Herz nicht begreife ("pyl)"

Jes. 6, gff.

Damit mag vielleicht auch Jesajas erschrockenes Bekenntnis
zusammenhängen:

„Weh mir, ich vergehe;
Denn ich bin unreiner Lippen

Und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen!''

Jes. 6, 4

Die Annahme, daß Jesaja ursprünglich zu den Weisen gehört
hat, wird noch durch verschiedene Beobachtungen bestätigt
. Nicht unerwähnt bleibe, daß damit gerechnet wird,
daß er schreiben kann (8, 1; 30, 8) und offenbar auch eine
Tafel zur Hand hat (8, 1 nYib)}1 und 3°- 8 rnb2)> ebenso
ein Buch (30, 8). Und daß man seine Anhänger n^TlTsb.

also „Schüler" nennt (8, 16), ist wohl auch nicht zufällig. Aber
bedeutsamer ist wohl, was wir aus der Auseinandersetzung
esajas mit den Priestern und Propheten, von der er 28, 70.
erichtet, erfahren. Denn diese verspotten ihn offensichtlich
mit seinem früheren, ihnen wohlbekannten Beruf, wenn sie
höhnen: „Wen will denn der Erkenntnis lehren ?" (28,8).
Meint er etwa, er könne uns — wie seinen ehemaligen Schülern!

— die Elementarkenntnisse beibringen ?3 Sie spüren, daß
dieser frühere Weisheitslehrer von einem Geist erfaßt ist, der
ihnen überlegen ist und den sie darum mit Spott und Hohn
abtun möchten. Vielleicht hat er nun gar über die „Erkenntnis
" hinaus noch eine „Audition" (ebd.), meinen sie spöttisch.
Jesaja fängt sie in ihren eigenen stammelnden Lauten und
verkündet ihnen den Untergang.

So rundet sich das Bild und stellt sich uns nun folgendermaßen
dar: Jesaja gehört ursprünglich zur Zunft der Weisen
in Jerusalem. Je länger je mehr muß er aber erfahren, die Weisheit
dieser Weisen verschließt sich in ihrer Selbstsicherheit
gegen die rechte, göttliche Weisheit (5, 21), so daß Israel „nicht
erkennt und Gottes Volk nicht begreift" (l, 3). Ihre Vertreter

— die von Berufs wegen enge Berührung mit den Großen des
Hofes und den ausländischen Diplomaten haben — zwingen
das Volk in eine widergöttliche Bündnispolitik hinein, die
eigne Pläne schmiedet (29, 15; 30, 1), sich auf die Weisheit
der Ägypter verläßt (30, 1 ff.; 31, 1 ff.; 19, 11—15), JahvesPlau
nicht erkennen will (5, 19) und seine Weisheit bestreitet (29,
16). In seiner Berufung erfährt Jesaja, daß er mit seiner Weisheit
auf dem falschen Wege ist und seine Lippen verunreinigt
hat (6, 4), und wird damit beauftragt, so zum Volke zu reden,
daß man ihn in aller Weisheit nicht verstellt und sich immer
weiter verhärtet in Selbstsicherheit und Gottesferne. Der Prophet
erkennt: Jahve allein ist weise (31, 2 Qan iwn QM 1

tt -:

und 28, 29 rpiU^n b^TMl) und macht die Weisheit der irdi-

t • i * : •

sehen Weisen zunichte in Israel (5,21; 29,14), Ägypten
(31. 3; 19. 15) und Assur (10, 12L); nach dem Gericht
wird er seinem Volke wieder Ratgeber wie vor Zeiten geben
(1, 26) und verheißt ihm einen König, der ein Wunder von
einem Ratgeber (9, 5), ausgerüstet mit der göttlichen Weisheit
und Einsicht (11, 2), in Gerechtigkeit herrschen soll. Dies Ideal
des zukünftigen Herrschers berührt sich mit dem Bild, das die
Proverbien von einem gerechten König zeichnen, und darin
wird deutlich, daß Jesaja hier — wie auch in manchen anderen
Punkten — seine Herkunft von der Chokma nicht verleugnet,
sondern üire Vertreter nur bekämpft, weil sie sich von ihrem
Urgründe löst und in falsche Selbstsicherheit und Gottlosigkeit
verfällt.

Das Ebenbild Gottes

Von Carl Stange, Göttingen

Herrn Prof. D. Dr. phil. Carl Steuernagel zum 17.2.1949 in Erinnerung
an gemeinsame Anfänge akademischer Tätigkeit Halle 1895 — 1903.

1.

Wenn es in der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt,
daß der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei, so wird
darin der unüberbrückbare Abstand deutlich, in dem sich der
biblische Gottesglaube gegenüber aller anderweitigen Gotteserkenntnis
befindet. Es ist nicht das Nachdenken über den
Zusammenhang und die Gründe des Weltgeschehens, woraus
der Gottesgedanke entspringt. Wie wenig dies der Fall ist,
zeigt sich darin, daß der Gottesglaube der sogenannten Naturreligionen
zugrunde geht, sobald das Nachdenken über den Zusammenhang
und die Gründe des Weltgeschehens sich der ihm
zustehenden Befugnis bewußt wird und zur Entstehung der

') In der Frühzeit seines Wirkens erwartet Jesaja, daß Jahve Jerusalems
„Ratgeber" (D^T) wie „einst" machen werde 1,26.

') Nachträglich stelle ich fest, daß diese Vermutung auch schon von
Sellin in seiner Einleitung geäußert worden ist (7. Aufl. 1935, S. 81) „von Beruf
vielleicht Gesetzes- oder Weisheitslehrer 8, 16; 28, 9. 23 ff.".

Wissenschaft führt. Die Geschichte der Philosophie beweist,
daß es eine zwingende Notwendigkeit, von der Betrachtung
der Welt aus zu der Vorstellung von Gott zu gelangen, nicht
gibt. In der Geschichte der Philosophie wechseln die atheistischen
Systeme des Materialismus und des Skeptizismus mit
den idealistischen Bemühungen um die Gottesvorstellung beständig
ab, ohne daß es mit Hilfe der Logik des wissenschaftlichen
Denkens je zu einer Entscheidung kommen könnte.
Dazu kommt, daß auch die Bemühungen des Idealismus niemals
dazu gelangen, den angeblich wissenschaftlich begründeten
Gottesgedanken dem Vorstellungsgehalte anzugleichen,
der dem Gottesglauben der Religionen innewohnt. Darin, daß

>) In dieser Bedeutung nur hier im AT.

■) Bezeichnet meist die steinernen Tafeln des Gesetzes und einige Male
Planken; als Tafeln, auf die geschrieben wird, nur noch Hab. 2 v. 2.
•) Vgl. dazu Procksch, Jes. I, S. 354.

') Die Formulierung „auch er ist weise" ist ironisch gemeintI