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Ausgabe:

1949 Nr. 12

Spalte:

750

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Knorr, August

Titel/Untertitel:

Zum Problem des Selbstmordes 1949

Rezensent:

Hupfeld, Renatus

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Seite 1

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749

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 12

750

körperliche Bewegung fortpflanzt, die sie veranlaßt. Deshalb kann auch die
Seele nicht auf die Materie einwirken. Der Mensch ist also seinsmäßig völlig
ohnmächtig und alle Annahmen über den Wahrnchmungs- und Willensprozeß
erweisen sich als Irrtümer, so wie sie besonders von der Aristotelischen Philosophie
aufgestellt wurden. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, warum Oeulincx
im Laufe seines Lebens sich auch von der Scholastik trennte und deshalb dann
zum Calvinismus übertrat. Die Folge der Erkenntnis dieser menschlichen Ohnmacht
muß die Demut sein; denn nun, kann es nur Gott sein, der durch die
Vernunft in der Welt und auch im Einzelmenschen alles bewirkt. Geulincx
lehrt also damit eine durchaus passive Ethik, deren Aktivität einzig in der
Tätliche zur Vernunft als Ebenbild Gottes bestellt. So lehrt er: 1. In dieser
Welt kann ich nur auf mich selbst wirken. 2. All mein Handeln, so weit es aus
mir selbst stammt, bleibt auch bei mir. 3. Durch göttliche Kraft strömt diese
meine Handlung manchmal über die Grenze meines Selbst hinaus. 4. So betrachtet
ist sie aber nicht mehr meine, sondern Gottes Handlung. 5. Dieses
überströmen geschieht aber nur, wann und wie es Gott gefällt... 6. Trotz
allem sehe ich aber diese Welt. 7. Diese Welt aber kann sich mir nicht selber
zur Anschauung hingeben. 8. Allein Gott kann mir diesen Anblick gewähren.

9. Und dies geschieht auf eine unaussprechliche und unbegreifliche Weise . . .
deshalb bin ich . . . als Zuschauer selbst das grüßte und wirklichste Wunder.

10. Von diesem Schauspiel kann ich auch abberufen werden ... In dieser
Welt leben heißt aber für mich nichts anderes, als daß ich diese Welt betrachte
. . . und einzelne Gegenstände der Außenwelt oder auch Teile meines
Körpers bewege (was ganz allein in Gottes Macht steht, und mir nur darum
zugeschrieben wird, weil es nach meinem Willen geschieht). II. Vor dieser
meiner Abberufung aus der Welt . .. fürchte ich mich. 12. Einmal deshalb,
weil ich an diese Körperwelt gewöhnt bin und es schwer ist, sich von ihr zu
trennen, dann aber auch, weil ich ein schlechtes Gewissen habe . .." (S. 35).
Das Ergebnis der Selbstbetrachtung ist demnach die Selbstverachtung. Aus
ihr folgen die sittlichen Pflichten. Die erste Pflicht besteht darin, Gottes Ruf
zu folgen, wenn er mich abberuft und mich nicht innerlich dagegen zu stemmen;
die zweite, in dieser Welt auszuhalten, bis er mich abberuft; die dritte ist,
daß ich dem Schöpfungsgesetz meines Leibes gehorche, daß ich esse, trinke,
schlafe und mich fortpflanze; die vierte Pflicht befiehlt mir, einen Beruf zu
erlernen und auszuüben, der meinen Anlagen entspricht; fünftens muß ich um
des Dienstes in meinem Beruf willen alle Widerwärtigkeiten desselben gern
ertragen; denn es geht nicht um mein Wohlbefinden, sondern um den demütigen
Oehorsam für die mir von Gott gesetzte Aufgabe; um dies recht zu können,
brauche ich als sechstes auch Freude und Entspannimg, allerdings nicht um
meiner selbst willen, sondern nur so viel, um meine Pflicht besser erfüllen zu
können. Schließlich soll Ich mit meiner Geburt zufrieden sein, auch wenn das
Sein in der Welt mir Not macht; denn ich bin nicht auf der Welt, um mich
zu freuen, sondern nur, um Gottes Willen zu erfüllen; wo ich das tue, habe
ich aber die wahre Freude des vernünftigen Menschen gefunden. Wer nach der
Glückseligkeit strebt, wird sie nie erlangen; gewiß soll man sie auch nicht
fliehen, aber man soll sie nicht suchen, sondern allein die Vernunft lieben irtid
ihr demütig dienen, dann allein stellt sie sich ein und führt zur wahren Glückseligkeit
.

Diese Ethik des Arnold Geulincx enthält m. E. drei Merkmale
, die sie geistcsgeschichtlich charakterisieren. Einmal ist
sie bestimmt durch den seit der Renaissance immer mehr aufkommenden
Rationalismus. Man spürt die innere Verwandtschaft
zwischen Geulincx und Descartes, wenn Geulincx auch
andere Wege geht als der große Franzose. Deshalb ist Geulincx
oft auch als Cartesianer gekennzeichnet worden. Auffällig ist
dabei weiter die starke Vernunftgläubigkeit des Geulincx.
Für ihn fallen Gott und Vernunft fast zusammen. Er ist er-
kenntnistheoretisch durchaus optimistisch gestimmt, erwartet
allerdings das Entscheidende im Unterschied zum Rationalismus
des 19. Jahrhunderts nicht aus der menschlichen Erkenntnis
, sondern aus der Selbstoffenbarung der Vernunft in der
menschlichen Erkenntnis. Mau kann ihn damit als einen
typischen Vertreter eines frommen Rationalismus bezeichnen,
der einen qualitativen Unterschied zwischen natürlicher und
Offenbarungstheologic nicht empfindet. Zum zweiten ist die
Ethik des Geulincx durch einen mystischen Zug gekennzeichnet
. Dieser Zug muß aber von der Mystik christlicher Art
unterschieden werden. Er steht hier wesentlich mehr in der
Nähe Spinozas und seiner pantheistischen Mystik. Es sind
zwar psychologisch gesehen alle Züge der Mystik vorhanden,
aber das Objekt der Mystik ist doch eben nicht Gott, sondern
die Vernunft. An die Stelle des amor Dei ist der amor rationis
getreten. Zum Dritten beobachten wir bei ihm einen ausgesprochen
quietistisehen Zug. Allerdings unterscheidet er
sich insofern von dem allgemeinen Quietismus der nordfranzösischen
Welt, zu der er zweiffellos auch Beziehungen hat,
dadurch, daß dieser Quietismus wohl die Haltung des Menschen
der Vernunft gegenüber bestimmt, aber nun anderseits
durchaus in eine Aktivität umschlagen kann; dies zeigt sich
m der Pflichtenlehre besonders deutlich in der Deutung der
Berufsfrage. Hier wird der Quietismus zur inner weltlichen
Askese des Calvinismus, die ja auch ein passives und aktives
ethisches Element enthält. Vielleicht wird gerade an diesem
Wesenszug die innere Entwicklung des ursprünglichen Katholiken
Geulincx zum Calvinisten sichtbar. Eine Verbindung
zum Kritizismus scheint mir dagegen weniger nahezuliegen;
man darf sie nicht deshalb annehmen, weil er jegliche eudämo-
nistische Motivierung der Ethik ablehnt; dies ist mehrfach vor
dem Kritizismus auch geschehen; man denke hier eben gerade
an die Reformatoren, die Geulincx ja auch zeitlich viel näher
liegen.

Es wäre zu wünschen gewesen, daß Schmitz in seiner Einleitung
diese geistesgeschichtliche Einordnung des Geulincx
vielleicht etwas klarer herausgearbeitet hätte; die beiden
ersten Momente sind bei ihm gesehen, wenn er auch den Hauptton
auf die mystische Seite legen möchte. Dem kann ich mich
insofern nicht ganz anschließen, als Schmitz das dritte Moment
m. E. so gut wie ganz übersieht oder doch nur durch den
höchst fragwürdigen Verweis auf Kaut andeutet. Leider erwähnt
die Ausgabe nicht, aus welchem Grunde sie diese Ubersetzung
der Ethik des Geulincx veranstaltet hat. Wenn es geschah
, um damit der geistesgeschichtlichen Forschung des
17. Jahrhunderts ein wertvolles Dokument zugänglich zu
machen, so ist dieses Unternehmen außerordentlich dankenswert
. Wenn es geschehen sein sollte, um die Ethik des Geulincx
dem Menschen von heute nahezubringen oder gar als vorbildlich
zu bezeichnen, so würde ich meinen, daß dies ein vergebliches
Unterfangen sei; denn jeuer ausgeprägte Vernunft-
glaube, der ihr zugrunde liegt, hat sich als die große Illusion
der Neuzeit erwiesen; auf ihm läßt sich eine den Menschen
von heute überzeugende Ethik nicht aufbauen. Nehmen wir
aber das erste an und begrüßen wir dankbar, daß der Verlag
in einer sauberen und auch sprachlich überzeugenden Ubersetzung
uns ein wichtiges Dokument des 17. Jahrhunderts
nahegebracht hat.

Leipzig Hans Köhler

Knorr, August, Dr.: Zum Problem des Selbstmordes. Tübingen: Furche-

Verlag 11948]. 37 S. 8°= Evangelische Akademie. Stimmen zum Gespräch
der Kirche mit der Welt., hrsg. v. Dr. Eberhard Müller, H. 21. DM 1.20
Angesichts der starken Zunahme der Selbstmorde ist dies
Schriftclien, herausgegeben von der Studiengemeinschaft der
Evangelischen Akademie, sicher von Bedeutung. Es gibt zunächst
ein Bild von der Verbreitung des Selbstmords, auch
gerade unter dem heute besonders aktuellen Gesichtspunkt
des Kollektivselbstmords, wobei besonders deutlich heraustritt
der Zusammenhang zwischen der im leichtfertigen Mord
zum Ausdruck kommenden Nichtanerkennung der Unantastbarkeit
des Lebens überhaupt und dem Selbstmord, bzw.
zwischen der Ubersteigerung des Machtbewußtseins des Menschen
, der sich vermißt, mit fremdem Leben zu spielen, und
dem Bewußtsein, auch über das eigene Leben Macht zu haben
und mit ihm nach Belieben spielen zu dürfen. Zweitens geht
das Büchlein den psychischen Ursachen des Selbstmords
nach, wobei auch die TL f enpsychologie zu Rate gezogen wird.
Drittens beschäftigt es sich mit der Beurteilung des Selbstmords
, insbesondere mit der christlichen Beurteilung, wie sie
auch in der Beerdigungspraxis der Kirche zum Ausdruck
kommt, wobei besonders zum Nachdenken darüber aufgefordert
wird, daß auch ganz bewußte Christen (Jochen Klepper
, Hugo Distler) sich das Leben nahmen. Schließlich beschäftigt
es sich mit der Frage der Vorbeugung des Selbstmords
bzw. mit der seelsorgerlichen Behandlung der Selbst-
mordgefährdeten, wobei insbesondere auf die Notwendigkeit
der Einrichtung von Beratungsstellen hingewiesen wird.

Formal ist das Schriftchen nicht übermäßig geschickt aufgebaut
. Verf. sammelt Beobachtungen, stellt Gesichtspunkte
nebeneinander, aber man vermißt eine klare Linie, eine Beurteilung
aus einem Zentrum heraus. Sein Anliegen tritt aber
doch deutlich heraus: er will vor jeder pharisäischen Verurteilung
warnen, vor allem im Hinblick darauf, daß keiner
vor der Anfechtung zum Selbstmord sicher ist. Zugleich aber
kommt ihm alles darauf an, daß in den Menschen schon von
Jugend auf der Gedanke, daß das Leben ein anvertrautes Gut
ist, über das man nicht verfügen kann, lebendig gemacht wird
und daß sie dazu erzogen werden, willig auch das Leiden auf
sich zu nehmen in der Gewißheit, daß es einen positiven Sinn
hat. Der Hauptwert des Schriftchens liegt aber wohl darin,
daß es reichliches Material zur Frage des Selbstmordes darbietet
.

Heidelberg R. Hupfeld

Buddensieg, Hermann: Morbus Sacer. Leiden und Schicksalsmeisterung.
Heidelberg: Lambert Schneider [19481. 86 S. 8». Kart. DM 2.50.

Das Büchlein erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaft.
Es ist eine persönliche Konfession, und zwar aus der besonderen
Situation des Hirnverletzten, der seines Schicksals Meister
werden will. Das geschieht in der Form einer anthropologischen