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Ausgabe:

1949 Nr. 12

Spalte:

723-730

Autor/Hrsg.:

Gloege, Gerhard

Titel/Untertitel:

Nihilismus? 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 12

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von der Situation des modernen Menschen aus, die ihren bezeichnenden
Ausdruck in der Existenzphilosophie gefunden
hat; und wir haben versucht darzulegen, daß das philosophische
Bemühen der Gegenwart nicht bis in die Tiefe des menschlichen
Existenzverständnisses reicht. Nur das NT ist imstande,
uns Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen zu
geben. Denn es zeigt uns nicht nur den Menschen, wie er sich
in der Welt vorfindet, sondern es weist uns auch den Weg zu

der neuen Existenz des Menschen, die es ohne die Offenbarung
Gottes in Christus und die Anerkennung des Handelns Gottes
zum Heil der Welt nicht gibt. Sinnvolle Existenz ist erlöste
Existenz. Darum ist das, was wir ausgeführt haben,
im letzten Grunde nicht ein theoretisch-theologisches Anliegen,
sondern eine Sache von eminent praktischer Bedeutung. Denn
die Frage, die uns persönlich gestellt ist, ist die, ob die neue
Existenz für uns eine Wirklichkeit ist.

Von Gerhard

„Der Begriff des Nihilismus [im Folgenden abgekürzt
= N.j ist in der gegenwärtigen Diskussion über die geistige
Weltlage zu einem vielgebrauchten Schlagwort geworden,
dessen wahllose und willkürliche Verwendung häufig den Eindruck
erweckt, daß die Benutzer dieses Schlagwortes mit demselben
entweder nur sehr unklare oder überhaupt keine Vorstellungen
verknüpfen und den Begriff ,N.' als eine Art Universal
- Schimpfwort benutzen, mit dem sie jeweils ihre zufälligen
politischen, weltanschaulichen, religiösen oder auch
kirchlichen Gegner belegen." Diese Feststellung, mit der der
Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz seine ldeine Studie
über den „Westlichen und östlichen N."1 eröffnet, ist leider
nur allzu wahr. Seitdem der deutsche Zusammenbruch Grundlagen
ins Wanken brachte, die einem Jahrtausend unantastbar
schienen, ist das Schlagwort plötzlich in aller Munde. Gewiß
ist das, was mit ihm mehr paraphrasiert als fixiert wird,
längst bekannt: als radikal positivistische Geisteshaltung
wird, der N. von den Junghegelianern, vorab von Feuerbach,
konzipiert; von revolutionären Sozialtheoretikern des frühen
19. Jahrhunderts gewollt; von hellsichtigen Kulturpessimisten
in seiner künftigen, ins neue Jahrhundert weisenden Ausreifung
teils ahnend befürchtet, teils in prophetischer Ansage
ersehnt. Aber es bedurfte erst der „Revolution des N."
(Rauschning), in Gestalt des Nationalsozialismus, und ihrer
Niederwerfung, um das Wort zu der heute in weiten kirchlichen
und auch einigen Theologenkreisen so beliebten Vokabel
zu machen. Es ist nachgerade an der Zeit, einer weiteren Begriffs
- und Sprachverwilderung durch kritische Klärung vorzubeugen
.

I.

Das kleine pathetisch gehaltene Schriftchen von Heinrich
Vogel mit dem vielversprechenden Titel „N. und Nationalismus
"2 mag dazu den Anknüpfungspunkt bieten. Besteht der
Leser den Ansturm der rhetorischen Fragen und Anrufungen,
so schält sich ihm folgender Gedankengang heraus:

Nietzsche verstand unter N. die radikale Ablehnung von,,Wert, Sinn und
Wünschbarkeit" des Weltgeschehens. Dostojewskij sah in ihm darüber hinaus
„den zerstörenden Willen, der zerstört, um zu zerstören". Wir erfahren
den von jenen prophezeiten „unheimlichsten Gast" als gegenwärtig, stehen in
seinem Sog, erleiden die babylonische Sprachverwirrung, den Mißbrauch des
Wortes zum Dienst der Lüge, die Zertrümmerung der äußeren und inneren
Existenz des Menschen. Wir fragen, „woher er kommt, und was es um ihn ist,
ob er etwas ist, oder, wie sein Name (I) ihn zu verraten scheint, nichts ist, ob
er eine Macht und Übermacht oder ein dämonischer Bluff ist". Statt einer
Antwort wird uns der Hinweis auf den „wirklichen, den allein göttlichen Gott"
gegeben. Er begegnet uns „in der letzten Tiefe unserer Widersprüche, in dem
eigentlichen Widersinn und Wahnsinn unserer gottfernen und gottfeindlichen
Existenz": in dem Mensch gewordenen, leidenden, sterbenden Christus. In
ihm offenbart sich „das vergleichslose Geheimnis . . . seiner stellvertretenden
Selbstauslieferung an den Widerspruch unserer Existenz". „Wenn irgendwo
die Dämonen des N. sich ein Stelldichein gaben, dann um dieses Sein Kreuz."
Das leere Grab — ein .nihil negativum' — aber führt uns „vor das Geheimnis
des getöteten Todes". Wer dem, der spricht: „Ich bin der ich bin", in Christus
begegnet, der „wird es unterlassen, dem Nichts eine Mächtigkeit zuzuschreiben
und von einem Nichten des Nichts zu reden". Von da her wird uns der N. aufgedeckt
„als die dämonisch-trotzige Wendung des im Widerspruch verzweifelnden
Menschen", der den Glauben an das Nichts an die Stelle des Glaubens an
den Schöpfer setzt und eben diesen Wahnsinn für den Sinn des Lebens ausgibt
. Die uns alle gefährdende Versuchung zielt darauf ab, „den Menschen dem
Nichts als seinem angeblichen Schöpfer und Heiland auszuliefern". Ihr gegenüber
hilft keine „christliche" Geschichtsdeutung, sondern nur das Standhalten

') Benz, Emst, Prof. d. Dr.: Westlicher und östlicher Nihilismus

in Christlicher Sicht. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 0. J. 46 S. 8° =
Evangel. Schriftendienst, H.3. DM1.85.

') Vogel, Heinrich, Prof. D.: Nihilismus Und Nationalismus. Berlin:
Evangelische Verlagsanstalt [1948]. 23 S. 8°= Kirche in dieser Zeit, H. 2.
DM 1.30.

smus?

Gloege, Jena

gegenüber dem Gericht, durch das Gott die Wege auch des „einer Lüge verfallenen
Christentums an ihr Ende führt". Jeder Versuch, die Antwort auf
die Frage nach der Menschlichkeit aus dem gestrigen Tage und seinen Antworten
zu holen, wird zu einer Verdeckung und Tarnung des N. Hier lauert die
Versuchung des Nationalismus, der als „Doppelgänger der Vaterlandsliebe"
die Vergottung der Volkhaftigkeit darstellt. Im Nationalismus wird das Gericht
geleugnet, die Selbstrechtfertigung vollzogen und heimlich die Selbsterlösung
durch den Willen zur Macht ersehnt. „Der Nationalismus betet ein
Idealbild an . . . Die Vaterlandsliebe aber bekennt in der Zugehörigkeit zu
diesem in Schuld und Not versunkenen Volk mitten in Gottes Gericht Gottes
Gnade."

Die Stärke der erwecklich gehaltenen Rede liegt: in ihrer
christozentrischen Konzentration und in der Weigerung, im
N. eine positive Potentjalität ernst zu nehmen. Ihre Schwäche:
in ihrer für dieses Thema unzureichenden historischen Sachkenntnis
und in gewissen gedanklichen Unscharfen. N. wird
einerseits als ein Phänomen bezeichnet, „das seinem Namen
nach nichts ist" — ein offensichtlicher logischer Kurzschluß —,
andererseits aber so sehr mit dem „Glauben an das Nichts"
identifiziert, daß er auf eine Spielart der modernen Existentialphilosophie
festgelegt zu sein scheint. Der Begriff N. behält
etwas Schwebendes. Aber auch sonst stellen sich ständig
Fragen: was heißt „Säkularisierung" ? Was bedeutet „Pervertierung
des Christlichen"? V. scheint das alles bereits zu
wissen bzw. bei dem Leser als gewußt vorauszusetzen. Aber
hier beginnen doch erst die Probleme, deren Durchdringung
— gerade im Lichte des biblischen Kerygmas — erforderlich
ist. Schließlich die Hauptfrage, die der Titel aufgibt: wie verhalten
sich N. und Nationalismus zueinander ? Mittels Ver-
gleichung bzw. Kontrastierung mit dem in sich selbst ungeklärten
Begriff „Vaterlandsliebe" ist keine Definition des
„Nationalismus" erreichbar, die seine dialektische Verknüpfung
mit dem N. verständlich machen könnte. Hier erweist
sich zudem der grundsätzliche Verzicht V.s auf geistes-
geschichtliche Erhellung als methodischer Mangel. Man muß
schon sehr intensiv die letzten vier Jahrhunderte befragen —
und nicht erst bei 1789 oder E. M. Arndt einsetzen —, um Klarheit
zu gewinnen. Auch das „hier und heute" läßt sich ohne
das „dort und gestern", das in sich selbst eine differenzierte
Geschichte umfaßt, nicht voll begreifen. Es ist aber unfrag-
lich V.s Verdienst, den Nationalismus mit dem N. thematisch
so „verkoppelt" zu haben, daß künftige Untersuchungen an
dieser Thematik schlechterdings nicht werden vorübergehen
dürfen.

■ II.

Wieviel Wesentliches sich auch auf engem Raum über den
N. sagen läßt, zeigt der Vortrag von Hanns Lilj e über „N"

In einem klaren Gedankengang und einer geläuterten Sprache wird uns
das Bild des N. als des Endstadiums einer Entwicklung entworfen. „Man erwirbt
ihn nicht, wie man eine Weltanschauung erwirbt, sondern man bekommt
ihn wie eine Krankheit." Geistig gesehen ist er „die Philosophie des Trümmerfeldes
". Sein Nährboden ist die physisch-materielle, die geistige und die
ethisch-reiigiöse Erschöpfung. Fragt man nach seiner geistesgeschichtlichen
Entstehung, so lernt man ihn verstehen: 1. als Abschluß des Säkularistnus,
jener Geisteshaltung, die jede Beziehung zur transzendenten Wirklichkeit verloren
hat; 2. als Bilanz des philosophischen Idealismus, der die Autonomieerklärung
des menschlichen Geistes zur Voraussetzung, das Heraufkommen der
experimentellen Naturwissenschaft, der Technik und des sie deutenden und
gestaltenden historischen Materialismus zur Folge hat; 3. als Endstadium auf
dem Gebiet der Politik, wo die Glorifizierung der Macht und des Erfolges als
richtunggebender Kategorie fortan die revolutionären Kräfte fast nur noch
zu zerstörendenAuswirkungen kommen läßt, um im leeren Heroismus des Nationalsozialismus
zu verenden. — Das Gesamtergebnis dieser Entwicklung, das
gegenwärtig offen zutage liegt, ist das Vakuum: äußere und innere Ermattung,

') Lilje, Hanns, Dr. DD.: Nihilismus. Tübingen: Furche-Verlag
[1947]. 24 S. 8° m Schriften der Evangelischen Akademie, Reihe IV, H.5.
DM 1.—.