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Ausgabe:

1949 Nr. 11

Spalte:

671-674

Autor/Hrsg.:

Gloege, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der Mensch zwischen Naturwissenschaft und Theologie 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 11

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in der angelsächsischen Welt, und wir dürfen die Vorlesungen
von Davies als Symptome eines Wandels werten:
während die offizielle Schultheologie, die hinter den beiden
Berichten steht, noch sehr stark unter dem Einfluß naturrechtlicher
Gedankengänge steht, und sich kaum freimachen
kann von den Bindungen an die eigene Schultradition, erfolgt
bei Davies der Einbruch des die kontinentale Theologie so
stark beherrschenden eschatologischen Denkens. Dadurch
wird ganz anders wirkungsvoll den klugen politischen Erwägungen
, den Kombinationen der „Weisheit dieser Welt" der
Abschied gegeben. Allerdings machen diese Ausführungen

darum noch einen fragmentarischen Eindruck, weil sie den
eschatologischen Gesichtspunkt unverbunden in den Vordergrund
stellen, ohne nun im neutestamentlichen Sinne eine
Ethik der getrosten Verzweiflung, des verantwortlichen Handelns
in einer vergehenden Welt zu entwickeln, wie dies etwa
Niebuhr tut. An die deutsche Theologie bedeuten diese Stellungnahmen
der Engländer aber zugleich einen Aufruf, den ganzen
hier berührten Fragenkomplex, insbesondere die Frage des
Krieges in dieser Zeit, neu zu bedenken und zu prüfen, ob herkömmliche
Lösungen nicht zu Ideologien geworden sind, die
keine Wahrheit in sich haben.

DAS GESPRÄCH: GLAUBEN UND WISSEN

Der Mensch zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Eine Thesenreihe1

Von Gerhard Gloege, Jena

I.

Der Mensch als Subjekt beider Wissenschaften

1. Der Mensch ist ein denkendes und verantwortlich
handelndes Lebewesen. Der Christ ist ein glaubender und im
Glauben vor Gott. existierender Mensch.

2. Jede Wissenschaft stellt den Versuch des Menschen
dar, sein Dasein in der Welt zu begreifen und sich selbst und
anderen verständlich zu machen. Diesen Versuch unternimmt
der Mensch, um in der Welt sinnvoll leben zu können
und ihre Wirklichkeit zu beherrschen.

3. Die Nötigung zu wissenschaftlichem Erkennen ist
mit der Tatsache gegeben, daß der Mensch sich in der empirischen
Welt als empirisches Lebewesen vorfindet und doch
zugleich „mehr" ist als nur das.

Die Möglichkeit zu wissenschaftlichem Erkennen ist
dem Menschen dadurch gegeben, daß er ein mit Vernunft begabtes
und Verantwortung tragendes Wesen ist.

4. Die einzelnen Wissenschaften unterscheiden sich voneinander
durch ihr bestimmt umgrenztes Gegenstandsgebiet.
Von ihm her gewinnt der Mensch die Sach-Kriterien und die
Sach-Methoden. Im Vollzug der Erkenntnisbemühung haben
die Sach-Kriterien ihre Wahrheit, die Sach-Methoden ihre
Richtigkeit, beide zugleich aber ihre Brauchbarkeit zu erweisen
.

5. Die Methoden wissenschaftlichen Erkennens sind rationaler
Art und unterliegen nicht nur den Sach-Kriterien, sondern
immer zugleich auch den Vernunft-Kriterien. Das gilt
auch von jeder wissenschaftlichen Arbeits-Hypothese. Arbeits-
Hypothesen sind weder mit Vorstufen noch etwa mit Formen
des Glaubens zu verwechseln.

6. Auch die Theologie ist als Wissenschaft an die rationalen
Prinzipien jeden wissenschaftlichen Erkennens gebunden
. In den historischen Urkunden der Heiligen Schrift,
die die Geschichte Gottes mit den Menschen bezeugt, ist ihr
ihr Gegenstandsgebiet als Stoff vorgegeben.

II.

Der Mensch als Objekt beider Wissenschaften

7. In Jesus Christus begegnet dem Menschen Gottes Wille,
der ihm sagt, wer und was Gott ist, und zugleich, wer und was
er selbst — der Mensch — ist. Der Theologe hat als Voraus-

') In den Tagen vom 1.—4. August fand im Evangelischen Stift zu Idenburg
eine stark besuchte Arbeitstagung der „Evangelischen Stände-Akademie"
statt unter dem Gesamtthema „Die Theologie fragt die Naturwissenschaft".
Uber das Thema „Schöpfung und Menschwerdung" sprachen der Theologe
Prof. Dr. Gerhard Gloege (Jena) und der Paläontologe Prof. Dr. Gallwitz
(Halle), über „Naturgesetz und Willensfreiheit" der Theologe Prof. D.
Alfred Dedo Müller (Leipzig) und der Philosoph Prof. Dr. Gerhard Stammler
(Halle). Die lebhaften Aussprachen führten zur Frage nach den Unterschieden
zwischen der theologischen und der naturwissenschaftlichen Arbeitsmethodik.
Auf einen Teil der dabei aufgeworfenen Fragen wollen die nachfolgenden
„Thesen" andeutungsweise Antwort geben. Sie versuchen die obwaltende
Problematik von ihren anthropologischen Voraussetzungen her verständlich
zu machen. D. h. sie fragen nicht nach der wissenschafts-theore-
tischen „Grenze" zwischen „der" Theologie und „der" Naturwissenschaft,
sondern danach: was es für den lebendigen Menschen bedeutet, sein Dasein als
Existenz in der Welt und zugleich als Existenz vor Gott verstehen zu
müssen. Es wird also nach dem Menschen als perspektivischer Mitte einer zwiefachen
Denkbewegung gefragt. Dabei ist der Begriff „Wissenschaft" jeweils
im Sinne von „wissenschaftlichem Erkennen" zu nehmen. Selbstverständlich
bedürfen die „Thesen" der genaueren Entfaltung und Begründung. Sie erheben
vor allem keinen Anspruch auf systematische Vollständigkeit.

Setzung seines Arbeitens diese ein für allemal geschehene
Offenbarung Gottes anzuerkennen.

8. In dem Wort, das Gott seiner Kirche zu verkündigen
aufträgt, sagt Gott dem Menschen die Wahrheit, die er sich
selbst nicht sagen kann, die er sich vielmehr sagen lassen muß.
Theologie ist mit Verkündigung nicht identisch. Sie
setzt die bereits geschehene und geschehende Verkündigung
voraus und versucht, ihre Wirklichkeit und ihren Sinn auf
der Stufe der rationalen Reflexion verständlich zu
machen.

g. Glaubensaussagen und theologische Aussagen sind daher
zu unterscheiden. Glaube ist nicht Hypothese, sondern
Wagnis, auf Gottes Wort hin leben zu wollen. Er ist Gottesfurcht
gegenüber seinen Geboten und Zuversicht zu seinen
Verheißungen (Erklärung Luthers zum i. Gebot).

Glaubensaussagen sind Existenzaussagen. In ihnen
übernimmt der Mensch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi
und wird so seinem Herrn gleichzeitig. Er bejaht den Zuspruch
und Anspruch Gottes und wird in die persönliche Gemeinschaft
mit dem Vater aufgenommen.

In den theologischen Aussagen gibt sich der Christ
Rechenschaft über das, was im Glauben an ihm und in ihm
geschieht.

10. Glaubensaussagen sind Aussagen über das personale
Verhältnis, in dem Gott mit den Menschen und mit der Welt
umgeht. Die eigentliche Form der Glaubensaussage ist die
„Ansage", die im Gebet ihre Antwort findet. In ihr wird ausgesagt
, was Gott mit dem Menschen und mit der Welt vorhat.
Glaubensaussagen stehen als personale Aussagen „senkrecht
" zu allen anderen möglichen Aussagen über Gott und
Welt — „senkrecht" also auch zu den Aussagen der Theologie
und jeder anderen Wissenschaft. In den Glaubensaussagen
wird deutlich, daß alle Dinge, die der Mensch rational „in der
Fläche" erforscht und erkennt, von vornherein immer zugleich
in einer neuen „Dimension" stehen.

11. Der Mensch stößt bei dem Versuch, sich selbst, seine
Herkunft und sein In-der-Welt-sein zu verstehen, auf Determinanten
, die sein Dasein biologisch und soziologisch mit
erklären können. Durch sein rationales Denken vermag er wohl
seine Existenz weithin zu begreifen. Er vermag sich auf diese
Weise auch seine Herkunft als Natur- und Vernunft-Wesen
zu verdeutlichen. Er vermag aber keineswegs, sich selbst in
seiner eigentlichen Existenz zu verstehen. Im Ich-Bewußtsein
erfährt er sich selbst als gesetzt, d. h. als einmalig, unableitbar
, unvertauschbar und unvertretbar. Der Grund, Inhalt
und Sinn dieser Erfahrung bleibt ihm aber schlechterdings
verborgen.

12. Gottes Wort sagt „mir", daß ich von Gott geschaffen
bin „samt allen Kreaturen" und daß mich eben dieser Gott
auch noch heute erhält. Diese Aussage enthält die Ansage*
daß Gott mein Herr ist, dem ich trauen darf und dem ich zu"
gehorchen habe. Ergreife ich diese Ansage, so wird mir meii'e
bisher verborgene Existenz offenbar. Ich begreife, daß mein
Ich-Bewußtsein — das eigentliche Geheimnis meiner Personalität
— in dem Verhältnis meines Schöpfers zu mir wurzelt-

III.

Folgerungen für das Verhältnis von Naturwissenschaft
und Theologie

13. Jedes Welt-Verständnis ist Ausdruck eines bestimmten
Selbst-Verständnisses. Der autonome Mensch, der
nur sich selbst traut und gehorcht und Gott in sein Leben
nicht hineinreden lassen will, schafft sich das Bild einer Welt-