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Ausgabe:

1949 Nr. 11

Spalte:

647-656

Autor/Hrsg.:

Holm, Søren

Titel/Untertitel:

Vilhelm Grønbech, 1873-1948 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 11

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rechnet, als man die Theorie vom Recht als nur einer Staatsfunktion
aufstellte.

Diese Erfahrungen haben es verursacht, daß immer mehr
von denen, die über das Problem des Rechts nachdenken, eingesehen
haben, daß hier ein Unterschied besteht zwischen
„richtigem Recht" und „falschem Recht". Der Staat ist nicht
die höchste Instanz auf dem Gebiet des Rechts. Auch seine
Taten sind einer höheren Beurteilung unterstellt. Dann handelt
es sich aber darum, nach welchem Maßstab diese Beurteilung
geschehen soll. Und hierbei gehen die Blicke nun
immer öfter ziirück zu dem kürzlich beiseite geschobenen
Naturrecht. Nach allem zu urteilen, stehen wir jetzt vor einer
Wiedergeburt der Anschauung vom Naturrecht.

In dieser Lage stellt sich indessen eine Frage ein: Wenn
man so lange vom Schatten eines Schattens gelebt hat und
jetzt bei den großen Prüfungen entdeckt, daß dies nicht standhält
— ist es da wohl bedacht, zu dem Schatten zurückzukehren
, zu dem Schatten, der das Naturrecht ist ? Ist es anzunehmen
, daß die Mächte der Auflösung, die sich nicht vom
Schatten eines Schattens zurückhalten ließen, haltmachen
werden aus Respekt vor dem Schatten-? Gewiß nicht. Nein,
auch die Lehre vom Naturrecht hat allzuviel vom Geist des
Säkularismus in sich, der bis aufs Äußerste in diesen Zeiten
seine Triumphe im totalen Staat gefeiert hat. Und dann leidet
er ja außerdem an dem „Uber die Kraft" der Metaphysik,
daran, daß es darum geht, sich selbst am Schopf hochzuziehen
. Es ist eine schwere Belastung, wenn man versucht,
eine Theorie aufzustellen, an deren theoretische Durchführbarkeit
man selbst nicht richtig glauben kann.

Die Wirklichkeit, von der das Naturrecht ein Schatten
ist, ist der christliche Glaube an das Recht, das in Gottes
Scliöpferwillen gegründet ist. Der Mensch ist nicht das Maß
aller Dinge, sein Wille ist nicht höchstes Gesetz. Es gibt einen
göttlichen Willen über ihm, ein göttliches Gesetz des Rechts,

unter dem er steht, das sich in den Beziehungen ausdrückt, in
die er hineingestellt ist. Hier wird das Recht wie das Unrecht
etwas völlig Konkretes, für das er vor dem Herrn der Welt
verantwortlich ist. Das Christentum hat es nicht schwer, für
den Gedanken des Rechts Platz zu finden. Er liegt unmittelbar
beschlossen in dem christlichen Gottesglauben. Da hat et
seinen untrüglichen Kompaß, wenn es um Recht und Unrecht
geht.

Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß, als der totale
Staat seinen Anlauf gegen das Recht machte, die christliche
Kirche in erster Reihe unter den Mächten stand, mit denen
er sich auseinandersetzen mußte. Der große Kirchenstreit, erst
in Deutschland und dann in Norwegen, war zu einem wesentlichen
Teil gerade ein Kampf fürs Recht, ein Kampf gegen das
Unrecht.

In der Tiefe wohnt gottlob weit mehr, als man es im ersten
Augenblick glauben konnte, ein von der Anschauung des
Christentums genährtes Bewußtsein vom Recht einer göttlichen
, unverrückbaren Ordnung. Oft ist es wohl ein ziemlich
anonymer Einfluß des Christentums, vielleicht nur der Schatten
eines christlichen Glaubens oder vielleicht nicht mehr als
der Schatten eines Schattens. Oft ist dies, was zutiefst auf
dem Boden liegt, überdeckt von allerlei dagegenstreitenden
Theorien an der Oberfläche. Die Rettung aus dem gegenwärtigen
Chaos auf dem Gebiet des Rechts und die Hilfe,
wenn es darum geht, eine neue Rechtsordnung aufzubauen,
besteht nicht darin, daß man zurückkehrt zu der einen oder
der anderen Theorie. Worauf es ankommt, ist, daß der Glaube
an das Recht als eine göttliche Ordnung lebendig erhalten und
genährt wird. Hier hat die christliche Kirche ihre große Aufgabe
zur Behauptung des Rechts. Denn sie dient auch der
Sache des Rechts, wenn sie ihre zentrale Botschaft von Gott
als dem Gott der Welt, dem Gott des Rechts und der Liebe
verkündet.

Vilhelm Grenbech, 1873—1948

Von S0ren Holm, Kopenhagen

An einem schönen Apriltag ging die Fahne an unserer
alten Universität auf Halbmast. Professor Vilhelm Granbech
war gestorben. Plötzlich und unerwartet war einem Forscherund
Schriftstellerleben von einzigartiger Spannweite Halt geboten
worden, und ein erstaunliches Dasein war erloschen. Es
hatte seinen Ausgang genommen vom Hause einfacher frommer
Bürgersleute auf Bomholm und war im äußeren Verlauf
fortgeschritten zum Universitätsstudium, zur Organistenbank
der St. Jakobskirche und zum Lehrstuhl für Religionsgc-
schichte, und es endigte in der wunderbaren Ehrenwohnung
der Gesellschaft der Wissenschaften bei Helsingor. Professor
Granbechs innerer Weg ist bedeutend schwieriger zu schildern.
Es läßt sich verhältnismäßig leicht munter von den vielen erzählen
, die in die Welt hinaus gezogen sind, vom Hirtenknaben
, der als Minister endigt, und vom Zeitungsjungen, der
es bis zum Generaldirektor bringt. Ungleich schwieriger ist es,
die Bahn derjenigen zu beschreiben, die im Leben den Weg
nach innen suchen, und diesen Weg ist Granbech gegangen.
Gilt für die einen, daß der besteWeg der kürzeste ist, so gilt
gerade das Umgekehrte für den, der auf dem Weg nach innen
danach strebt, seine Zeit und deren Voraussetzungen zu verstehen
. Diese Voraussetzungen sind nämlich nichts geringeres
als die eigentliche Geschichte von des Menschengeist verschlungenen
Wegen durch die Zeiten. Granbech war sich bewußt
, daß nur wer die Vorzeit kennt, die Jetztzeit begreifen,
ihre Fehler sehen und deren Ursachen verstehen kann.

So beschritt er denn den Weg nach innen, der sich fürs
erste bloß erspüren läßt, indem wir seinen Studien folgen. Zunächst
machte er sein Staatsexamen mit Dänisch als Hauptfach
— also war er mit dem Altnordischen vertraut — und mit
Latein und Englisch als Nebenfächern. Dann beschäftigte er
sich mit vergleichender Sprachwissenschaft, wurde einer von
Villi. Thomsens geschätzten Schülern und erwarb im Jahre 1902
mit einer Abhandlung: „Vorstudien zur türkischen Lautgeschichte
" den Doktorgrad. Später wurde er Dozent für Englisch
, und nach Edv. Lehmanns Scheiden nach Berlin übernahm
er die Dozentur für Religionsgeschichte, die in eine persönliche
Professur umgewandelt wurde, als Granbech einen Ruf
nach Leipzig als Nachfolger Söderbloms abgelehnt hatte. Granbech
hatte seine Stellung als Religionshistoriker im voraus
durch sein vierbändiges Werk: „Die Germanen" („Vor Fol-
keaet i Oldtiden") begründet, das ganz neues Licht auf germanische
und nordische Lebensauffassung warf. Zum erstenmal
tat Granbech vor einem weiteren Kreise dar, daß er Texte

mit frischen Augen zu lesen verstand, neue Gesichtspunkte
vorzubringen und ein Leben hinter den Wörtern aufzuspüren
vermochte, wovon niemand etwas geahnt hatte. Er zog die nun
so bekannten Begriffe wie „Glück", „Ehre", „Neiding", „Ha-
mingja" ans Licht und viele andere, und ausgehend von einer
gewissenhaften Analyse des unterschiedlichen Zusammenhangs
, in dem die Wörter auftraten, suchte er ihren Inhalt zu
erhellen; auf diese Weise wurde ihnen eine so reiche Facettierung
zuteil, daß sie sich faktisch nicht durch eindeutige Ausdrücke
wiedergeben lassen. Granbech wußte, daß Texte im
Original gelesen werden müssen, wenn man sie wirklich verstehen
will.

Nun vergingen 10—15 Jahre, in denen Granbech still und
fast unproduktiv in der Studierstube saß. Aber das bedeutete
keineswegs Untätigkeit. Er wühlte sich durch verschiedene
Literaturen und Kulturen hindurch, deren jede für sich ge<-
nommen eines einzelnen Manns Lebensarbeit zu fordern
scheint. Er beschäftigte sich mit Israels Religion und Lebensauffassung
, verzichtete jedoch trotz umfänglicher Vorarbeiten
auf eine Darstellung. Aber Jobs. Pedersens berühmtes Werk
über „Israel" stellt in Wirklichkeit eine Parallele zu Gre>n-
bechs „Die Germanen" dar und ist mit gutem Grund Vilh-
Granbech zugeeignet. Dann arbeitete er sich durch den größtes
Teil der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts hindurch
und gab die eigengeprägten „Religiöse Strömungen im 19. Jahrhundert
" heraus, wo er zum erstenmal im Ernst darzutun versuchte
, daß unsere Kultur erstarrte Formen ohne Leben sind-
Die großen „lebensfernen" Romantiker wie Schlegel und Novalis
waren in Wirklichkeit die letzten Realisten, die das Leb«'"
genommen hatten wie es ist, in seiner ganzen Fülle und ohi"-'
Abzug, im Gegensatz zur Gegenwart, die als Erbe des Purita"
uismus dasteht.

Von 1930 an ergoß sich ein Strom dickleibiger Bände aus
Granbechs Stube, eine Produktion, die in ihrer Heftigkeit an
Soren Kierkegaard erinnern kann. Für den, der das wirklich1'
Leben in der Seele findet und nicht in äußeren Formen un»
überlieferten Institutionen, lag es nahe, sich mit der MystlK
zu beschäftigen, und Granbech hat sich mit ihr auseinandergesetzt
, er arbeitete sich in sie hinein — und durch sie hindurch
, hinaus auf der anderen Seite. So viel war erforderlich'
um wirklich ihren Wert und ihre Berechtigung zu verstene
und um einzusehen, daß sie trotzdem keine befriedige!!'
Lösung der Schwierigkeiten bietet. Indessen kamen als luL'
rarisches Ergebnis die vier Bände „Mystiker in Europa u«