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Ausgabe:

1949 Nr. 10

Spalte:

622-623

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Mauriac, François

Titel/Untertitel:

Leid und Glück des Christen 1949

Rezensent:

Köhler, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 10

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keit und seine schriftstellerischen Bemühungen einer heute
Viel erörterten Richtung der Medizin entsprechen, der sog.
„Psychosomatischen Medizin". Alles Krankheitsgeschehen
im menschlichen Organismus kann nicht nur als
materiell bedingte Organschädigung mit Funktionsstörungen
betrachtet werden, sondern besitzt auch mitwirkende oder
auslösende seelische Ursachen und Folgen. Manches Krank-
heitsbild kann auf Grund seelischer Analysen als primärseelisch
bedingt betrachtet werden („Flucht in die Krankheit
", Organneurosen usw.). Im Rahmen einer solchen Krankheitslehre
spielen religiös-sittliche Kqnflikte eine besondere
Rolle. Es ist bei der größeren Aufgeschlossenheit weiterer
Kreise, auch der Arzte und Naturwissenschaftler, für philosophische
und religiöse Fragen wohl verständlich, daß diese
Richtung der Medizin (inDeutschland besonders von v. Weizsäcker
-Heidelberg gefördert), ein großes Interesse findet.

Nun soll die Leistung von T. in ihrer lebendigen Ursprünglichkeit
und praktischen Einstellung mit begrenzterem Ziel
durch diese „Einordnung" nicht in ihrem Wert herabgesetzt
Werden. T. schöpft aus den Erlebnissen in seiner Praxis Erfahrungen
, die er vielleicht nicht immer ganz schulgerecht
psychologisch deuten mag, und verfügt über erstaunliche
Kenntnisse der Glaubenserfahrung, die er vielleicht auch nicht
immer ganz zur Freude der Theologen auswertet. So kann ihm
als Pionier auf einem Grenzgebiet leicht das bekannte Schicksal
zuteil werden, daß beide Richtungen ihm jeweils nur für
die andere Richtung Anerkennung zollen wollen. Mag T. auch
kein Fachgelehrter auf dem Gebiet der Psychiatrie oder Theologie
sein, so wird man ihm doch ohne Zweifel eine warmherzige
Art der seelischen Einfühlung und eine freudige Glaubensbereitschaft
zuerkennen, die seine ärztlich-seelsorgerische
Leistung als ansteckend heilsam verständlich macht.

Von dem reichen Inhalt des Buches können nur einige Fragen und Zitate
herausgegriffen werden. Teil I („Technik und Glaube") ist der speziellen ärztlichen
Frage gewidmet, ob die technische Analyse und der Glaube sich wider-
sPrechen oder ergänzen können. Im Licht des Glaubens lassen sich manche
Widerstände leichter entdecken. Im Amt des Seelsorgers sollen sich Technik
"nd Glaube vereinigen (S. 23). Glaube kann das Klima bereiten, in dem die
Analyse erst fruchtbar wird (S. 25). Besonders betont wird auch die Bedeutung
der Psychoanalyse für die Seelsorge (S. 29). Überall eingestreut findet man
kluge Gedanken von Heiligen, wie Franz von Sales und Bernhard über Seel-
8°rge, aber auch wertvolle eigene Gedanken: „Um einer Seele helfen zu können,
den Sieg des Glaubens zu erringen, muß man diesen Sieg zuvor selber davongetragen
haben" (S. 30). „Das Geheimnis der Seelsorge hängt im entscheidenden
Augenblick nicht davon ab, was wir für eine Seele tun, sondern davon, was
Wr selber sind" (S. 70). „Die Analyse erforscht die Probleme, um sie ans Tages-
"cht zu bringen, die Gnade aber löst sie auf, läßt sie sich verflüchtigen, ohne
daß wir genau wüßten wie" (S. 68).

Im II. Teil („Von der formalistischen Moral zur vertieften Moral") werden
Fragen der sittlichen Nonnsetzung auch im Verhalten zur Krankheitsentstehung
behandelt, und im III. Teil („Oegen den dogmatischen Oeist") wird
iedc dogmatische Art des Denkens auch in der Erziehung und sittlichen Bewertung
abgelehnt. Darin behandelt Kapitel 11 ausführlich das Problem
'.Sünde und Krankheit". Am Beispiel der Perversion wird der Standpunkt
Veftreten, daß der Betreffende juristisch nicht verantwortlich (gegen andere),
al>er moralisch verantwortlich (für sich selbst) sei. Eine Gleichsetzung von
sünde und Krankheit, wie sie in Fehldeutung früherer Äußerungen des Verf.s
gelegentlich angenommen wurde, lehnt er ausdrücklich ab (S. 183).

Teil IV („Der Glaube") führt tiefer in Glaubensfragen und berührt nur
Gelegentlich direkt ärztliche Aufgaben. T. geht dabei von der Tatsache aus,
daß auch ungläubige Ärzte wohl anerkennen, daß „der religiöse Glaube der
Wirkliche Hebel Ist, um Ruhe und Vertrauen in eine verwirrte Seele Zurück-
Ebringen" (S. 209). Der Anteil der Suggestion an der Ausbildung von Krank-
"eitssymptomen und an der Heilung von Krankheiten wird ausführlich dargestellt
(Kap. 13). Dabei wird der Mißbrauch des Wortes „Wunder" für Heiligen
durch Suggestion abgelehntes. 213). Suggestion erkläre nur den Mechanismus
solcher Heilungen, der Glaube aber erkenne das Eingreifen Gottes als
Ursache der Suggestion (S. 215). Suggestion sei ein Naturgesetz; jeder Gedanke
, ob wahr oder falsch, suche sich fortzupflanzen und zu verwirklichen
JS.217). Man erfährt in diesen Abschnitten, wie tief der Verf. sich in Glau-
"ensproblemc vorgetastet hat und praktische Erfahrungen Im „vom Oeist geleiteten
Leben" (Kap. 15) gesammelt hat. Dabei finden sich manche klugen
Steile über das Oebet (S. 202) und den Wert der Andacht (S. 277).

Der letzte Teil V („Das Abenteuer") zeigt den Menschen in seiner Seins-
^altung a0tt gegenüber, seine doppelte Stellung im Sinne der biblischen
Ant'iropologle (S. 295). „Die Richtung Gottes unter allen Umständen zu
*Uc'ien, das macht aus dem Leben ein kostbares Abenteuer: das große Aben-

euer mit Gott, das alle die, die sich darin einlassen, viel weiter führt, als sie
)e erahnen und sich einbilden, und das die Quelle eines stets von neuem aufbringenden
Enthusiasmus ist" (S. 298). Im Kap. 19 vom „Priesteramt" wird

'n Laien die Pflicht, ihren Olauben zu bezeugen, ausdrücklich zuerteilt
-316). Das Priesteramt solle nicht in erster Linie Predigt, sondern vielmehr

ul,üren sein (S. 320). Alle Menschen seien auf der Suche nach einem, der ihre

Beichte empfangen will (S. 325). „Um Beichtiger zu sein, muß man in allererster
Linie durch seine eigene Beichte selber in Verbindung mit Gott bleiben"
(S. 326). Wir seien alle aufgerufen, um uns herum das Amt der Seelsorge auszuüben
(S. 337). Freilich sei es eine falsche Scham vieler überzeugter Christen,
nicht mehr mit anderen gemeinsam beten zu können (S. 336).

Vor Abschluß der Schrift warnt der Verf. noch ausdrücklich davor, solche
seelsorgerischen Versuche auch an wirklich geisteskranken Patienten durchzuführen
, die in fachärztliche Behandlung gehören (S. 334). Sodann betont er,
daß Ärzte keineswegs die wohl ausgebildete Technik ihres Berufes ablegen
dürfen, wenn sie der neuen Richtung der „religiös-geistigen Medizin" folgen.
Diese sei nicht „eine Medizin, die den Kranken Moral predigt, statt sie zu
pflegen. Sie ist die wissenschaftliche Medizin, die von den Ärzten angewendet
wird, die streng gegen sich selber sind und die auf die Gnade zählen" (S. 350).

Das Buch von T. ist nicht ohne Problematik, aber im
ganzen gesehen für weite Kreise anregend und ansprechend,
denn die lebendige und klare sprachliche Darstellung (in sehr
guter Übersetzung!) ist nirgends prätentiös oder erbaulich.
Uberall empfindet man den Zauber der Persönlichkeit, die
ausstrahlende Kraft des Arztes. Eine Fülle auch kleiner Bemerkungen
, z. B. zur Psychologie des Patienten, wird geistreich
eingestreut. T. ist, so möchte man fast sagen, auch ein
„christlicher Moralist", klug, sauber und klar in seinen Gedanken
, oft mit guter aphoristischer Prägung, wie z. B. „unsere
Erfolge nützen den anderen, unsere Niederlagen uns selber"
(S. 307), oder „ . . . unser Elend erkennen und aus dem Wissen
heraus, daß Gott denjenigen segnet, der dies tut, auf Gottes
Gnade zählen" (S. 306).

So möchte man dem Buch von T., wenn es auch nicht neue
Tiefen der Erfahrung eröffnet und nichts Entscheidendes aussagt
, doch in dem Sinne eine gewisse „Vollkommenheit" zubilligen
, wie sie der heilige Bernhard gläubigen Seelen zusprach
, welche „gewöhnliche und alltägliche Dinge auf eine
nicht gewöhnliche Art machen".

Das Originalwerk ist (französisch) in der Schweiz erschienen
, in einem Land, wo Psychologie und Psychiatrie in
bedeutenden Schulen gepflegt wird, und wo auch seit Jahrzehnten
die ärztlichen Wochenschriften dem Arzt erstaunlich
viel von solchen Fragen berichten. Ein beneidenswert fortschrittliches
Land auch auf diesem Gebiet. Das Literaturregister
des Buches bringt eine Zusammenstellung von wichtigen
Arbeiten des französischen Sprachbereiches, die in
Deutschland wenig bekannt sind.

Göttingen Lendle

Mauriac, Francois: Leid und Glück des Christen. Essen: Dr. Hans
v. Chamier [1947]. 91 S. 8°. Hlw. DM 5.20.

Joseph Niederehe hat unter Mitwirkung von Dr. Johannes
Klein die Schrift des Franzosen Mauriac, „Souffrances et Bon-
heur du Chretien", in das Deutsche übertragen. Es handelt
sich an sich um zwei Aufsätze. Der Beitrag über das Leid des
Christen wurde schon 1928 als Randbemerkung zu den Predigten
Bossuets und zu seinem Traktat über die Begehrlichkeit
geschrieben. Der Beitrag über das Glück des Menschen
entstand 20 Jahre später, will aber im Zusammenhang mit
jenem ersten Aufsatz verstanden sein und wurde deshalb von
Mauriac jetzt mit ihm zusammen veröffentlicht.

Er spricht zuerst vom Leid des Sünders. Die christliche Forderung des
Wiedergeborenwerdens betrifft den ganzen Menschen und fordert zuvor den
Tod des ganzen Menschen mit Leib und Seele. „Der Gott der Christen will nicht
nur irgendeine Liebe, er will einzig und allein geliebt werden" (S. 12). Familie
und Freunde sind nur Gegenstände erlaubter Zuneigung, Gott allein gebührt
die Liebe. Deshalb sind die Mystiker keine Ausnahmen, sondern die einzigen
wirklichen Christen, da sie Gott ganz besitzen wollen. Zu dieser Liebe sollte
der Christ gelangen, sie wäre das höchste Glück für ihn. Aber er bindet sich
immer wieder an ein Stück Kreatur. Man kann ihn davon nicht verstandesmäßig
überzeugen, daß dies ein Irrtum ist. Je mehr die Vergänglichkeit der
Kreatur betont wird, desto mehr klammert sich der Mensch an sie, vergötzt
sie, hängt sein Herz an sie: „Dieses ununterbrochene Hinschwinden des geliebten
Wesens, dieses Hingleiten jeder Sekunde, gerade das hält uns davon
ab, uns von ihm loszureißen" (S. 15). Der Sünder glaubt nicht daran, daß er
sündigt, weil er ja das Oeschüpf, das er an die Stelle Oottes setzt, liebt. Ja,
er meint vielleicht sogar, daß das Leid, das durch sie erzeugt wird, ihm die
Richtigkeit seines Verhaltens erweisen kann. Aber: „Wer seine Sünde liebt —
es nützt ihm nichts, durch sie das Kreuz zu erfahren; alle seine Tränen sind
eitel: das ist das Gesetz" (S. 17). Deshalb ist es gefährlich, den Menschen nur
in Leid und Verzweiflung über die Sünde zu treiben, weil er sich dann unter
Umständen in sein Leid verliebt und der Erkenntnis seiner wirklichen Lage
ausweicht. Deshalb sollte man nicht gegen die falsche Liebe eifern, sondern
ihr mit dem echten Mitleid der Heiligen begegnen. Auch die Liebe des Mystikers
zu Gott ist nicht frei vom Leid. Aber dieses Leid ist anders geartet: „Während
wir in der menschlichen Liebe das Geschöpf anklagen können, das uns betrügt
und im Stich läßt, weiß die gottgeweihte Seele von vornherein, daß Ihr Geliebter
niemals im Unrecht ist . .. und daß wir ihn preisen müssen, gleichviel