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Ausgabe:

1949 Nr. 10

Spalte:

619-620

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Neumann, Johannes

Titel/Untertitel:

Leben ohne Angst 1949

Rezensent:

Böhme, Kurt

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Seite 1

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619

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 10

620

Versuchung, ordnungswidrig zu handeln, nachgegeben wird.
Ordnungswidrig handeln heißt aber einerseits naturwidrig
handeln, andererseits gegen die kirchlichen Ordnungen, die
die natürliche Ordnung stützen, sich vergehen. Für die beichtväterlich
-seelsorgerliche Beratung ist es nötig, daß man Wege
weiß, wie man der heutigen Not, — und das ist in weitem Umfang
die Not, daß aus medizinischer oder sozialer Indikation
Kinderbeschränkung als geboten erscheint, — so abhilft, daß
die Natur Berücksichtigung findet und das kirchliche Verbot
mechanischer konzeptionsverhütender Mittel beachtet wird.
Wie in dem Breitensteinschen Buch, so kommt es auch in
diesem Buch darauf hinaus, daß sowohl der Seelsorger, wie
die Gemeindeglieder in ihrem Gewissen beruhigt werden
durch die Empfehlung der Ausnutzung der sterilen Tage für
den Geschlechtsverkehr der Ehegatten. Denn man folgt ja
damit der Ordnung der Natur, die selbst diesen Wink gibt,
und die Kirche verbietet diesen Weg nicht, während andere
Auswege, also z. B. die Eheonanie (die insbesondere als „Ehesünde
" bezeichnet wird), Schwangerschaftsverhütung durch
mechanische Mittel, Schwangerschaftsunterbrechung als gegen
die Natur und gegen die kirchliche Ordnving verstoßend abgelehnt
werden, die Sterilisation nur in Ausnahmefällen als
möglich erscheint. Es wird dabei gefordert, daß die Kirche
auf der Grundlage dieser Einsichten Institutionen schafft, die
der Beratung der der Ehe Entgegenschreitenden und der Ehegatten
dienen, sowie daß in Predigt und volksmissionarischen
Veranstaltungen ausgiebig alle Ehefragen besprochen werden
und die Kinderfreudigkeit gestützt wird, schließlich daß die
Kirche für kinderreiche Familien Hilfe bereitstellt. Verantwortungsbewußte
Ärzte und kenntnisreiche Seelsorger müssen
hier Hand in Hand arbeiten. Die Moraltheologie hat dabei die
besondere Aufgabe, eine ausgiebige Kasuistik auszuarbeiten,
die der Beratung zugrunde gelegt werden kann. ,.Vernünftiggläubige
Eheplanung" — unter diesem Stichwort hat diese Beratung
vor sich zu gehen.

Wie gefährlich ist doch eine „Moraltheologie", die dem
Seelsorger und den Gemeindegliedern vor allem „Auswege"
zu zeigen versucht, wie man, „ohne zu sündigen", doch klug
gewissen Nöten ausweichen kann. Mir scheint beinahe, daß die
in diesem Buche sprechenden Ärzte diese Gefahren klarer
sehen, als die Theologen, die froh sind, daß ihnen „die Natur"
selbst einen Ausweg zu weisen scheint. Dabei scheinen sie
nicht zu spüren, daß doch die bei dieser Praxis nötigen Berechnungen
zweifellos einen der eigentlichen Natur dieser
Liebesbeziehungen widersprechenden rationalen Faktor einschalten
, der im Grunde das Problem nicht löst, vielmehr gerade
dadurch, daß hier die Gewissen „beruhigt" werden,
schwere sittliche Gefahren in sich schließt.

Immerhin: es wird in dieser Aufsatzreihe eine Frage
kräftig angegriffen, mit der man sich auch von evangelischer
Seite mehr, als es geschieht, beschäftigen sollte. Nur müßte
freilich ein evangelisches Buch über diese Fragen das Problem
völlig anders anfassen. Einerseits müßte der Ausgangspunkt
viel umfassender in der Frage nach dem Sinn des „heiligen
Ehestandes" in biblischer Sicht genommen werden. Andererseits
dürfte der Gedankengang nicht darauf hinauslaufen, aufzuweisen
, wie man „ohne Sünde" durchkommen kann, wie
man in zweifellos echten Gewissensnöten Gewissen beruhigt,
indem man ihnen einen scheinbar die Sünde vermeidenden
Weg zeigt, sondern man müßte deutlich machen, wie es zwar
keine menschliche Ordnung gibt, die nicht durch des Menschen
sündigen Unglauben in beunruhigender Weise in Unordnung gebracht
wird, wie aber gerade aus der Verkündigung der Vergebung
um Christi willen den Ehegatten Kräfte erschlossen
werden, die ihnen nicht nur zu der Bewältigung der immer
wieder aufbrechenden Nöte helfen, sondern vor allem dazu,
ihre Ehe in Demut zu einer Gejneinschaft gegenseitigen Dienens
zu gestalten.

Heidelberg R. Hupfeld

SEELENKUNDE

Neumann, Johannes, Dr. phil., Psychotherapeut: Leben ohne Angst.

Psychologische Seelenheilkunde. Mit einein Vorwort von Prof. Robert Casimir
. 6. Aufl. Stuttgart: Hippokrates-Verlag Marquart <S Cie. 1948. 192 S.
gr. 8°. Hlw. DM9.50.

Das Buch, das auf der Individualpsychologie Alfred
Adlers fußt, geht den mannigfaltigen Erscheinungsweisen und
Strukturformen der Angst des Menschen nach. Der moderne
Mensch — der Verf. stellt das in einem besonderen Kapitel Im
einzelnen dar — hat Angst vor dem Du, Angst vor der Arbeit
(„Angst und Krankheit vor dem Examen"), Angst vor der
Liebe (irrtümliche Auffassungen vom Wahn des Glücks, Formen
der Flucht vor der Liebe). Selbstverständlich warnt der
Verf., der ein erfahrener Psychotherapeut ist, vor einer „adhor-
tativen" Psychotherapie heftigen Zuredens und Drängens.
„Man erreicht oft nur um so heftiger Abwehr und Widerstand."
In einer Nacherziehung sieht er das Wesen der Psychotherapie
, in der Korrektur einer in der Zeit kindlicher Erziehung
gewonnenen falschen Einstellung. Neurose werde geheilt, wenn
es gelingt, echte Selbständigkeit mit echter menschlicher Verbundenheit
zu vereinen, beides in das rechte echte Verhältnis
zueinander zu bringen. Das Problem der Angst, der Lebensangst
des modernen Menschen, werde gelöst in der Liebe.
„Furcht ist nicht in der Liebe." Der Verf. schließt mit dem
Hohen Lied der Liebe (1. Kor. 13). Das religiöse — besser:
christliche — Existenzverständnis finde in der Liebe die tiefste
und umfassendste Interpretation des Menschseins.

Der Neurotiker wird darnach ein seelisch gesunder
Mensch, wenn es gelingt, aus dem Liebeleeren oder Liebearmen
einen Liebenden zu machen. Ist der Psychotherapie
diese Arbeit möglich ? Der Verf. bejaht sie ausdrücklich. Hingebende
Liebe „können wir erwerben. Es (sc. dieses Hingeben
) ist nicht nur ein Charisma, ein Geschenk, das einer
mitgebracht hat auf diese Erde. Wer täglich sich dem Leben
mit seinen Forderungen mehr anpaßt, wer täglich seine Ichge-
bundenheit mehr opfert, entfaltet sich. Und dieses Entfalten
können wir lernen." Und der Psychotherapeut — so muß ergänzend
hinzugefügt werden — kann dabei Hilfestellung
leisten.

Wer aber diesen Weg — eben mit Hilfe des Psychotherapeuten
— geht, dem wird das Leben „zunehmend reicher, erfüllter
". „Er erlebt die Paradoxie: solange er haben will,
empfängt er nicht. Aber sobald er sich dem Leben öffnet,
und hingibt, fällt ihm das Leben als Geschenk zu."

Gewiß, die Psychotherapie basiert auf der Voraussetzung,
daß ein solcher Umwandlungsprozeß im Menschen vom Liebeleeren
zum Liebenden angeregt werden kann. Aber der Verf.
scheint das doch zu leichthin zu sagen. Es gelingt. Es gelingt
auch zuweilen nicht. Was der Psychotherapie keinen wesentlichen
Abbruch tut, da ja auch der praktische Arzt nicht jeden
heilt. Die Wunde heilt. Sie wird nicht geheilt. Man muß warten
können, ob und bis die Stunde der Umwandlung kommt.
Und wenn sie kommt, ist es ein Geschenk, ein Akt der Gnade.

Tiefergreifende Fragen tun sich von hier aus auf, über die
sich Theologen und Psychologen nicht so leicht einigen werden.
Für ein fruchtbares Gespräch über Psychotherapie und Seelsorge
bildet dieses Buch, dem schon in seinen früheren Auflagen
klare und edle Sprache nachgerühmt wurde, eine nicht
ungeeignete Grundlage. Im übrigen ist der biblische Schluß
des Buches keineswegs nur auf die theologische Vergangenheit
des Verf.s zurückzuführen. Andere psychotherapeutische
Autoren, die von einer ganz anderen Schau herkommen, sin'1
gerade in jüngster Zeit zu ganz denselben Positionen gelangt-

Berlin Kurt Böhme

Tournier, Paul, Dr. med.: Technik und Glaube. Mit einem Vorwort von
Dr. med. A.Mäder. Tübingen: Furche-Verlag[1947]. 356 S. 8°. Hlw. DM7.8"'
Der Titel der Schrift läßt eigentlich einen theologischen
Beitrag zum Problem der Technisierung unserer Welt erwarten
. Der Genfer Arzt T. behandelt darin über das speziell^
Thema „Arzt und Seelsorger" hinaus die allgemeine Frag
nach der Einstellung des christlichen Arztes zu seinen Aufgaben
.

Mit „Technik" ist dabei die naturwissenschaftlich technische

Methodik

des Arztes und im speziellen Fall des Nervenarztes die Technik der Analyse 6*"
meint. Der Psychoanalyse Freud's stand T. früher kritisch gegenüber, ers
in dieser neuen Schrift erkennt er mit gewissen Vorbehalten gegen ihre zu P°8^
tivlstlsch-realistische Haltung ihren Wert an. Aus einem Vorwort des fj
freundeten Züricher Nervenarztes Mäder erfährt man über T. selbst, daß e
kein Nervenarzt ist und erst durch die Begegnung mit der Oxford-Beweg"
zum psychologischen Studium angeregt wurde, als er aus dieser Gruppe
bewegung den Wert der Seelsorge kennen lernte. Darin fand er dann e
Hauptaufgabe seiner „Pastoralmedizln". So sei seine therapeutische Tä 1
keit heute vorwiegend Bekehrung von „Sünderkranken" und ärztlicll"rfaß
giöser Führung seiner Patienten. Mäder bestätigt ihm in seinem Vorwort,
seine früher zu optimistisch-idealistische Einstellung nun ihre richtige Ore
gefunden habe.

T. versucht in der ärztlichen Praxis eine Synthese vo»
Wissen und Glauben und verbindet damit in der Betreu^
der Kranken die Aufgaben von Arzt und Geistlichem,. ' ' ier
mehr als 100 Jahren auf diesem Gebiete Rechte gegeneiuai ^
geltend machten. Maeder will darin die „Vision einer 11 .u
Medizin und eines neuen Arzttypus" ankündigen (S. i6)- r
kann aber, zurückhaltender im lobenden Urteil, dein - ^-
wohl gerechter werden, wenn man feststellt, daß seine