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Ausgabe:

1949 Nr. 10

Spalte:

616-617

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reiner, Hans

Titel/Untertitel:

Das Prinzip von Gut und Böse 1949

Rezensent:

Köhler, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 10

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Schuld aus, zeigt dann an Gandhis Begriff „satyagraha", was
ein einziges Wort zu wirken vermag, und handelt weiterhin ausführlich
vom Komparativ in der Sprache Jesu (19—40). Erörterungen
über die Wörter „Natur" (40—52) und „Religion"
(52f.) sowie über das Fremdwort beschließen die Schrift (Verf.
führt aus, wieso „Natur" und „Religion" im christlichen
Sprachgebrauch zu meiden, wieso aber Fremdwörter durchaus
zu gebrauchen wären). Auf das reiche vorhandene Schrifttum
zum Fragenkreis der vorliegenden Schrift bezieht sich
Verf. mit keinem einzigen Wort.

Ich hätte lieber gesehen, wenn der erfahrene indische
Missionar aus seiner Kenntnis indischer Sprachen berichtet,
oder wenn er im Blick auf den Komparativ wirklich einen Beitrag
zu einer Ethik der Sprache gegeben hätte. Statt dessen
nimmt er sprachliche Erscheinungen zum Anlaß für bibel-
stundenartige Ausführungen. Ich wende zunächst nichts ein
gegen das, was er sagt (lebhaften Widerspruch würde ich
allerdings im Blick auf das Fremdwort anmelden; vgl. mein
Buch „Unsere Sprache im Lichte der Christus-Offenbarung",
151—162). Was ich hier aber entschieden bemängeln muß, ist
das Verfahren, ist der Stil und Aufbau des Ganzen. Die Ordnungen
sprachlicher Gestaltung gelten auch für den Christen!
Verf. verwendet einen Wortschatz, der ein Verstehen der
Schrift nur dem gläubigen Christen möglich macht. Sein Stil
ist aber so, daß ein Freund der deutschen Sprache, vor allem
ein Mensch des reinen Sprachgehörs, Mühe hat, wirklich zuzuhören
(da haben wir das Papierdeutsch: veranlaßt, ausgerichtet
, Rechnung tragen, aufzeigen, entordnet, Anrecht; da haben
wir entbehrliche Fremdwörter: Material, Niveau, Souveränität
usw.).

Verf. hätte sich ein Verdienst erworben, wenn er Wörter
wie das Titelwort „Buße" oder das von ihm zu Unrecht so
hoch gepriesene Wort „Glaube" untersucht hätte. Doch über
„Buße" sagt er sprachlich nichts, und was er über „Glaube"
schreibt, würde ich üim bestreiten.

Mainau/Bodensee Friso Melzer

ETHIK

Michel, Ernst: Der Partner Gottes. Weisungen zum christlichen Selbst
Verständnis. Heidelberg: Lambert Schneider 1946. 210 S. 8°. DM4.—.

Das Buch will „ein katholisches Buch" (S. 10) sein, doch
nicht im Sinne der Römisch-Katholischen Konfession, sondern
im Sinne einer über die Konfessionen hinausgreifenden
Darstellung der „Kerngehalte der christlichen Offenbarung".
Dies ist insofern scheinbar gelungen, als es schwer möglich ist,
den Verf. auf die Grundlehren einer der Konfessionen festzulegen
. Aber das gerade scheint das Fragwürdige an diesem
Buche zu sein. Gibt es so etwas wie konfessionslose „Kerngehalte
der christlichen Offenbarung", dann sind es geschichts-
transzendente Gehalte, überzeitlich-ewige und unveränderliche
Wahrheiten. Aber es ist die Eigenart der christlichen Offenbarung
, sich in geschichtliche Jeweiligkeit hineinzubezeugen
und sich darin zu verhüllen. Diesen Tatbestand umgeht der
Verf. grundsätzlich, obwohl er diese Bezogenheit im praktischen
Vollzug des Christseins gerade fordert.

Das Buch ist eine Grundlegung der christlichen Ethik.
Was Verf. über die Zwischenmächte und die Vergesetzlichung
christlichen Lebens, und was er über das Ethos im Christsein
jenseits von Moral und Religion zu sagen hat, ist im Sinne von
Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium geschrieben. Merkwürdigerweise
versucht er aber den Abstieg des Christentums
zu einer Gesetzesreligion in seiner Gerichtsethik zu kennzeichnen
. Verf. löst dieselbe in die apokatastasis pantoii auf und
sucht die Vergebung bußfrei zu machen. Zwar gibt es „den
Mut zur Urangst und Verzweiflung", der „zu jenem furchtbaren
Nullpunkt" führt, „von dem aus Luther und Kierkegaard
die wurzelhafte Umkehr zum Glauben . . . verstehen"
(S. 114). Aber diese Angst ist nun etwas anderes als die despe-
ratio salvifica Luthers. Doch leider ist die Begründung und
Erörterung dieser Gegenstände so schmal, daß eine rechte
Erfassung kaum möglich ist.

Zur Ethik scheint die wesentliche Position des Verf.s die
Forderung einer Situatiousethik zu sein. In dieser Richtung
finden sich besonders treffliche Formulierungen. Doch man
kann den vom Verf. gesehenen Grund und seine Zielrichtung
nicht klar genug erkennen, um sagen zu können, ob man sich
dieser Sätze freuen soll oder ob man sie als gefährlich zu erachten
hat. Dies ist auch in der Bestimmung der völkischen
Dialektik der christlichen Ethik so. Die obwaltende Gebundenheit
und gleichzeitige Freiheit wird vom Verf. wohl gesehen.
Doch dabei erkennt der Leser nicht, wie „die Kirche diesen
nationalen Einsatz aus ihrem metanationalen Sein" (S. 198)

verantworten und handhaben soll. Undeutlich bleibt daher
auch, was Verf. im Grunde meint, wenn er davon spricht, daß
die „Christianisierungsform der abendländischen Epoche . . .
zu Ende gelebt" ist (S. 207). Es ist ja sicher weithin richtig,
wenn beobachtet wird, daß die Kirche „den radikal-eschato-
logischen Anspruch an die natürlichen und geschichtlichen
Weltmächte aufgegeben" hat (S. 185). Es ist wohl auch zutreffend
, daß „die Preisgabe der genuinen christlichen Sendung
" dort einsetzte, „wo diese gesetzhafte Anwendung in
Vertretung christlicher Gehalte als der christliche Heilungsprozeß
ausgegeben" wurde (ebd.). Doch auch unter der Voraussetzung
von Situationsethik auf Grund der vom Gerichtsgedanken
gesäuberten Eschatologie des Verf.s läßt sich seine
Thetik nicht sinnvoll nach vollziehen. Es fehlt dem Buche zu
viel an ernsthafter exegetischer Grundlegung und, soweit man
sieht, auch an verantwortungsvoller Auseinandersetzung mit
der gegenwärtigen geistigen und theologischen Situation.

Dies muß um so bedauerlicher erscheinen, als in allen
Teilen des Buches wesentliche und richtige Positionen bezogen
werden. Die Mitte des Buches, sein anthropologischer
Ansatz, scheint besonders fruchtbar zu sein. Der Mensch ist
als Mensch da richtig gesehen, wo er als „Partner Gottes"
verstanden wird. Nicht, daß der Mensch sich als Ich versteht,
ist also der Ausgangspunkt einer Anthropologie, sondern daß
er als „namentliches" Du gesehen werden muß, und daß er
sich von dort her vernimmt. Dieser Ansatz scheint in der viel
zu kurzen und undeutlichen Auseinandersetzung mit Heidegger
allerdings verschleiert, jedenfalls nicht in seiner ganzen
Tragfähigkeit durchgeführt zu sein.

Münster i.W. Ratschow

Reiner, Hans: Das Prinzip von Gut und Böse. Freiburg: Alber [1949J.

III, 36 S. 8°. DM 1.20.

Es handelt sich um einen Vortrag, den Reiner am 4. 8.
1948 auf dem Mainzer Philosophenkongreß ursprünglich unter
dem Titel „Scheler und das Prinzip des Guten" gehalten
hat. Reiner will in diesem Vortrag die Hauptzüge eines neuen
Systems der Ethik entwickeln, die sich auch in seinem Buch
über die Pflicht und Neigung befinden werden, das er demnächst
veröffentlichen wird.

Reiner will in seiner Schrift über Scheler und Nicolai Hartmann hinaus
weiterführen. Er steht dabei insofern auf dem von beiden vorbereiteten Boden,
als er ebenfalls vom Begriff des Wertes und der Wertrangordnung ausgeht.
Hatte schon Hartmann Scheler gegenüber geltend gemacht, dali die sittliche
Forderung keineswegs immer dem höheren Wert den Vorzug vor dem niederen
gibt und daß ein direktes Realisieren des sittlichen Wertes keineswegs grundsätzlich
unmöglich ist, so will Reiner noch einen Schritt weitergehen. Reiner
unterscheidet dabei zwischen relativen und absoluten Werten. Innerhalb der
relativen Werte ist weiter zu scheiden zwischen cigenrclativen und fremd-
relativen Werten. Die eigenrelativcn Werte, dies ist die dritte Distinktion, sind
subjektiv, die fremdrelativen dagegen objektiv; darin berühren sich die fremd-
relativen Werte aber nun mit den absoluten, da auch diese objektiv sind.
Schließlich wird noch unterschieden zwischen fruitiv-objektiven und fruitiv-
subjektiven Werten. So kommt er zu der folgenden These: „Sittlich gut ist die
innere Willensrichtung derjenigen Akte, in denen ich mich für die Wirklichkeit
eines fruitiv-objektiven Wertes einsetze, und zwar besonders im Gegensatz z"
der Möglichkeit, statt dessen den Einsatz für einen fruitlv-subjektiven Wer'
vorzuziehen .. . Sittlich böse Ist der Einsatz des Willens gegen die Wirklich'
keit eines fruitiv-objektiven Wertes, und zwar insofern dieser Einsatz entweder
direkt oder aber um eines fruitiv-subjektiven Wertes willen geschieht" (S. 10)'
Von da aus geht dann Reiner zur Frage der Wertrangordnung über.
Hier kommt er zu der wichtigen Feststellung, die mir die wertvollste des
ganzen Vortrages zu sein scheint, daß man neben der Unterscheidung zwischen
sittlich gut und böse auch die zwischen sittlich richtig und falsch machen müsse-
Reiner weist dabei ausdrücklich darauf hin, daß auch die Entscheidung
zwischen richtig und falsch eine sittliche Entscheidung ist, da der Mensch verantwortlich
handelt. Schließlich scheidet er noch unter den Verhaltung5'
werten: „Wir sprechen von Verantwortungsgefühl, wo das sittliche Gefün
sich auf die Sachverhaltswerte bzw. überhaupt auf die Werte richtet, deren
Wirklichkeit wir durch unser Verhalten beeinflussen können. Das sittliche Gefühl
dagegen, das auf die eigentlichen sittlichen Werte selbst gerichtet ist.
sie an unserem eigenen Verhalten haften, nennen wir Ehrgefühl". I«1 A"T
merkungsapparat setzt er sich eingehend mit Heideggers Ablehnung des Wer
begriffcs auseinander. Reiner betont, daß der Existentialismus nicht zu eine
wirklich materialen Wertethik gelange, sondern nur fundamental-ontolo*
sehe Aussagen über Gewissen und Schuld mache. Schon in seiner Schrift ha
er sich zu einer gewissen Kasuistik bekannt.

Die Schrift Reiners ist zweifellos ein sehr wertvoller Be^
trag zu den Fragen der Ethik und bemüht sich, von einer d
griifsklärung und Begriffserweitcrung her, die Ethik SrUVej
lieber zu fundieren. Von besonderem Wert scheint mir d» *
neben jener Unterscheidung zwischen absoluten und rclati
Werten auch die zwischen richtigen und guten Taten zu S