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Ausgabe:

1949 Nr. 10

Spalte:

599-606

Autor/Hrsg.:

Delekat, Friedrich

Titel/Untertitel:

Kirche und Recht 1949

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599

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 10

600

„Die sechste Ausgabe, die zusammen mit anderen hebräischen
und griechischen Büchern zur Zeit der Regierung des An-
toninus, Sohnes des Severus, bei Jericho in einem Kruge gefunden
worden ist". Es muß also offen bleiben, ob hier allein
der Spürsinn des Origenes und seiner Helfer am Werke gewesen
ist oder ebenfalls ein glücklicher Zufall, vielleicht gar
derselben Art wie der bei den Handschriftenfunden von 1947
und vom Ende des 8. Jahrhunderts, gewaltet hat.

Bei der Zusammenstellung dieser drei Berichte über die
Auffindung alter hebräischer und griechischer Handschriften
in der Nähe von Jericho soll es hier zunächst sein Bewenden
haben. Gewiß drängt sich die Frage auf, ob zwischen den dort
erzählten Vorgängen irgendwelche Zusammenhänge bestehen,
etwa gar so, daß es sich alle drei Male geradezu um dieselbe
Fundstätte handelt. Daß es eben die 1947 entdeckte Höhle
gewesen sei, die dem Origenes am Anfang des 3. Jahrhunderts
für seine Hexapla Texte zur Verfügung gestellt habe, ist —
und zwar, wie es scheint, wenigstens teilweise in gegenseitiger
Unabhängigkeit — denn bereits von mehreren vermutungsweise
ausgesprochen worden, gelegentlich in der bestimmten
Form, daß die 1949 in der Höhle aufgefundene römische
Lampe als Zeuge der Anwesenheit dieses großen Gelehrten
gewertet wurde. Da der Brief des Katholikos Timotheos bisher
in unserem Zusammenhang keine Beachtung gefunden

hat, konnte auch die Frage, ob etwa die in ihm erwähnte
Fundhöhle ebenfalls mit der Höhle von 'Ain Feäha oder
Hirbet Qumran zu identifizieren sei, noch nicht aufgeworfen
werden. Wenn das nun geschieht, so ist da angesichts der
zu manchen kritischen Bedenken Anlaß gebenden Art der
Angaben des Timotheos über den zu seiner Zeit 'gemachten
Fund an Bibelhandschriften besonders große Vorsicht
geboten. Jedenfalls aber verdient bei der weiteren Behandlung
der sich hier der Forschung aufnötigenden Probleme
das ernsteste Beachtung, was Harding im Anschluß an
seine Feststellung, daß nach dem von ihm und de Vaux in
der Höhle beobachteten Befund diese in römischer Zeit eine
Durchsuchung erfahren haben müsse und daß es sehr nahe
liege, damit die Angaben des Origenes über die Auffindung
von Handschriften bei Jericho in Verbindung zu
bringen, ausführt: ,,Die Sammlung und Rekonstruktion der
Krug-Fragmente ergab, daß hier von Haus aus wenigstens
40 Krüge aufbewahrt gewesen sein müssen, jeder Krug von
etwa 60 cm Höhe und 25 cm Durchmesser. Da in einem Krug
fünf oder sechs Rollen bequem Platz finden konnten,
mögen etwa 200 Rollen in der Höhle geborgen gewesen sein.
Die Tatsache, daß, soweit bis jetzt bekannt, nur acht übrig
geblieben sind, wird dann vielleicht verständlich, wenn es sich
um das von Origenes erwähnte Buchlager handelt".

DAS GESPRÄCH: KIRCHE UND RECHT
Kirche und Recht

Eine Thesenreihe

Von Friedrich Delekat, Mainz

I. Aus welchem Grunde taucht heute das Problem
Kirche und Recht auf?

1. Auf Seiten der Jurisprudenz besteht infolge der Auflösung
der theologisch-metaphysischen Grundlagen des Rechts
durch den Positivismus eine offenkundige Verlegenheit hinsichtlich
der Frage, was „Recht" sei.

2. Die theoretische Verlegenheit ist aber nur der Ausdruck
einer weit dringlicheren praktischen Notlage, die als
Folge einer über die ganze Welt gehenden Politisierung des
Rechts entstanden ist, während auf der anderen Seite der
Friede der Welt nur erhalten und gesichert werden kann, sofern
man sich über seine rechtlichen Grundlagen einigt, was
wiederum nicht möglich ist, wenn die Meinungen über das
Prinzip des Rechts völlig auseinandergehen.

3. Sämtliche heute auftretenden Theorien vom Wesen und
von der Aufgabe des Rechts wurzeln direkt oder indirekt in
unserer christlichen Tradition. Das Problem kann also nicht
ohne die Theologie gelöst werden.

4. Die Auflösung des Rechts stellt die Kirche in der
ganzen Welt vor seelsorgerliche Aufgaben, die sie zwingen,
sich mit Rechtsfragen zu befassen. Ihre Legitimation dazu
erfordert ebenfalls eine Besinnung auf das Verhältnis von
Kirche und Recht, Theologie und Jurisprudenz.

II. Aus welchem Grunde die Rückkehr zum naturrechtlichen Denken
unserer abendländisch-christlichen Vergangenheit
heule nicht möglich ist.

1. Uber die drei Formen des abendländischen Begriffs
vom Naturrecht. Die Stoa bildet zunächst diesen Begriff unter
dem Einfluß des antiken Kosmopolitismus. Ihm zufolge ist die
menschliche Gemeinschaft ihrem Wesen nach eine Gemeinschaft
völlig freier, nur dem Gottesgesetz der Vernunft gehorchender
Menschen, in der es weder Gewalt, noch Macht-
und Klassenunterschiede, auch kein Privateigentum gibt.
Aber diese ideale Gemeinschaft war nur im goldenen Zeitalter
des Anfangs der Menschheit verwirklicht (status naturae). Aus
ihr ist jedoch in dem gegenwärtigen Zustand erhalten geblieben
das relative Naturrecht, dessen Fundamente die geordnete
politische Macht, das Eigentum, Ehe- und Familienordnung,
Regelung der sozialen Ungleichheiten, wie die Rechtsordnung
überhaupt darstellen. Ihnen ist das positive Recht nach Möglichkeit
anzugleichen.

Die Kirche übernimmt diesen Begriff vom Naturrecht,
um von ihm aus das Prinzip einer Sozialethik zu gewinnen,
die an sich im Evangelium nicht enthalten ist, und ordnet die
stoischen Gedanken theologisch so in ihr Dogma ein, daß die
Prinzipien des Naturrechts für alle Menschen und das menschliche
Dasein als solches Geltung haben, während die Vorschriften
der Bergpredigt als „besonderer Ratschlag" für die
zur vita religiosa Berufenen betrachtet werden. Dabei kann
das Naturrecht sowohl konservativ (als die auch nach dem

Sündenfall bestehende Erhaltungsordnung Gottes) wie revolutionär
(als kritisches Prinzip mit Bezug auf die tatsächlich
bestehende Ordnung) aufgefaßt und angewendet werden.
Die Reformation übernimmt dies naturrechtliche Denken,
jedoch mit dem Unterschied, daß die Doppelheft einer naturrechtlichen
und eigentlich christlichen Moral aufgegeben und
durch den Gegensatz bzw. die Polarität von Amts- und per-
sönlicher Moral ersetzt wird, womit wir uns aber heute nicht
mehr zufrieden geben können.

Der Zusammenhang der rationalistischen Naturrechtslehre
mit der christlichen Tradition ist unverkennbar. Bestehen
bleibt die Uberzeugung, daß gewisse allgemeine Rechtssätze
(bei Kant das ganze Privatrecht) aus dem Naturrecht
abgeleitet werden können. Aber erstens wird das Naturrecht
jetzt revolutionär, im Bürgertum im Sinne der Demokratie, im
Sozialismus im Sinne einer sozialistischen Ordnung des Gemeinschaftslebens
. Zweitens zeigt sich, daß im Bürgertum und
im Sozialismus die naturrechtlicheu Prinzipien gegensätzlich
verstanden werden. Marx z. B. hat gesagt, die Erklärung der
Menschenrechte in Amerika habe nur den Zweck einer Rechtfertigung
des kapitalistischen Individualismus. Naturrecht UjJ
Sinne des Sozialismus ist Gleichheit des Rechts aller an de'1
Produktionsmitteln.

2. Schon dieser Uberblick genügt, um zu zeigen, daI3 eine
Einigung darüber, was der konkrete Inhalt des Naturrechts ist.
heute nicht mehr möglich ist. Wir erkennen vielmehr das an-
gebliche „Naturrecht" deutlich in seiner historischen Be'
stimmtheit. Das ihm zugrunde liegende theologisch bzw. meta-

Ehysisch verwurzelte Rechtsgefühl, das bis in das 18. Jahr-
undert hinein noch lebendig war, hat sich aufgelöst. Nicht einmal
mehr die Herrschaft des Rechts über das menschliche
Leben ist selbstverständlich, geschweige seine Universalität,
erst recht nicht seine inhaltlichen Bestimmungen. Die universale
Geltung des Rechts setzt einen einheitlichen Glauben voraus
. Da dieser nicht mehr vorhanden ist, läßt sich das verlorengegangene
Rechtsbewußtsein nicht mehr auf den Fundamenten
der alten Tradition aufbauen. t

3. Der Begriff des Naturrechts ist aber auch in sich selbst
problematisch. Was heißt in ihm „Natur"? Ferner: Wie is
die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Naturrecht
zu führen? Schließlich: Gibt es wirklich konkret t>e-
schreibbare naturrechtliche „Ordnungen"? Diese Unklarheiten
sind der Grund dafür, daß das Naturrecht bald ko«'
servativ, bald revolutionär ausgelegt worden ist. Es kol,jV:r
sehr auf den jeweiligen Ausleger an. Im ganzen Mittelalt.
ist die Kirche Auslegerin des Naturrechts mit der Tenden-
durch ihr Wort den Ausgleich zwischen einem konservativ
und dem revolutionären Verständnis des Naturrechts herz
stellen. Das ändert sich bereits im 18. Jahrhundert. Heute,
die Kirche ihre weltanschauliche Vonnachtsstellung verlore
hat, kann jede an ihre Stelle tretende Weltanschauung V»