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Ausgabe:

1949 Nr. 9

Spalte:

550-552

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Niemöller, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gottes Wort ist nicht gebunden 1949

Rezensent:

Fresenius, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 9

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längere Lebensdauer und läßt die „nachjosephinische" Zeit
erst mit 1848 beginnen.

Die Hauptstütze des Josephinismus war und blieb das Beamtentum und
die obere Schicht des Bürgertums, zum Teil aber auch bis ins 19. Jahrhundert
ein Teil des katholischen Klerus. Am ausführlichsten beschreibt Valjavec Religion
und Weltanschauung (S. 23—81). Der Joephinismus will theistisch-christ-
lich sein und besitzt zum Katholizismus ein positives Verhältnis; eine radikale
deistisch orientierte Bewegung ist wohl neben ihm vorhanden, muß sich aber
taktisch verschleiern. Der Josephinismus verbreitete episkopale antikurla-
Hstische Grundsätze, bekämpfte den Aberglauben sowie überflüssiges kirchliches
Gepränge und unterstellt die Kirche entschieden dem Staat. Wenn auch
seit Ausbruch der französischen Revolution unter Kaiser Franz ein Kurs-
Wechsel eintrat, so blieb doch ein gemäßigter staatskirchlicher Kurs bis In die
Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen, namentlich im Beamtentum. Nur langsam
kam die antijosephinische konservative Strömung, die schon unter Josef II.
spürbar war und sich damals noch auf breitere Bevölkerungskreise stützen
konnte, zur Geltung und erst 1855 kam es zum Konkordat. Andererseits führte
das Versagen des neuabsolutischen Staates, der die öffentliche Meinung nie zu
beherrschen vermochte, zur libcralenGegenstrümung. DasVerhalten des Bürgertums
gegenüber der katholischen Kirche wurde nun Immer negativer und der
Säkularlslerungsprozeß auf der Grundlage joscphlnischer Anschauungen immer
8tärker. Seit der Julirevolution drang der Liberalismus ein, Josephinische und
liberale Ideen vermengten sich schon im Vormärz bei den gebildeten Kreisen.
Daraus ergaben sich In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfache,
schwer überschaubare Abstufungen, und der eigentliche Josephinismus verlor
Immer mehr an Boden. Seit den siebziger Jahren erhielt infolge Politisierung
der Hochschulen das Beamtentum nur noch In geringem Maße josephlnisch
gesinnten Nachwuchs. Auch im Klerus stirbt der Josephinismus aus, obwohl
Männer wie Bischof Funder (t 1888) und der Abt von Melk (t 1909) noch Vertreter
eines stark geschwächten, liberal getönten Josephinismus waren. Ebenso
traten Im Offizierskorps infolge nationalistischer Absonderung josephinische
Anschauungen in den Hintergrund. Während aber in diesen Kreisen die josephinlschen
Anschauungen wenig Wandlungen unterworfen waren — es blieb bei
einer ins bürokratische abgewandelte Abart des aufgeklärten Absolutismus —
Wechseln im Vulgärjosephinismus des Bürgertums Stimmung und Auffassungen
ständig. Dynastisches Empfinden bleibt hier teilweise lebendig sowie Bejahung
des zentralistischen Staates deutscher Prägung, doch zeigt sich auch Radikalisierung
und eine antiklerikale und antimilitaristische Stimmung, zugleich jedoch
Scheu vor Folgen politischer Aktivität. Die Revolution von 1848 war
nicht das Werk des Joscphlnismus, seine Führerschicht (Grillparzer, Stifter)
hat nichts von Ihm wissen wollen. Und doch bereitete er den liberalen und demokratischen
Strömungen den Boden, die dann nach 1848 das mittlere Bürgertum
eroberten. Bei der katholisch-konservativen Richtung, die Im Vormärz
Wehr auf die Ideologischen Grundfragen ausgerichtet war (die um Hofbauer und
Graf Franz v. Szechenyi) verschmilzt dieser Ideologische mit dem praktischen
Konservatismus nach 1848, wobei josephinische Gedanken Eingang finden.
Größeren Einfluß übte der Josephinismus auf die Entstehung der nationalen
Bewegungen innerhalb des Habsburgstaates aus, zuerst — schon im Vormärz
bei den nichtdeutschen Völkern, während die nationaldeutschen Strömungen
erst später wirksam wurden, besonders nach 1871. Gerade die Josephinlschen
Elemente haben die Trennung der nationalen und der liberalen Strömungen
■ Österreich lange hintangehalten. Sogar der Antisemitismus in seiner kleinbürgerlichen
, wirtschaftlich bedingten Form hat sich mit aus josephinlschen
Anschauungen gespeist, noch mehr natürlich der judenfreundliche Liberalis-
n,us, der für eine viel weitere Judenemanzipation kämpfte als wie sie der
Josephinismus wünschte und für möglich hielt. Bei den Anfängen sozialdemokratischer
Regungen, z. B. der Schaffung von Arbeitsbildungsvereinen haben
i°8ephinlschc Tendenzen nachgewirkt und die llbcral-josephinische Beamtenschaft
legten der Organisierung der Sozialdemokraten nicht so starke Schwierigkeiten
In den Weg wie anderswo. Mit Ausnahme der bewußt kirchlichen Strömung
wird der Josephlnlsmus von keiner polltischen Richtung als Gegner
ernpfundcn, da er ja auch nicht als geschlossene Einheit hervortritt und nicht
a's aktiv handelnder Partner empfunden wird.

Die Bedeutung der josephinlschen Strömungen für Österreich beruht
Kerade auch In der nachhaltigen Wirkung auf die politischen Bewegungen in
tyt zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ja sie haben zur geistigen Formung
b'8 weit ins 20. Jahrhundert erheblich beigetragen. Sie verschafften so der
Aufklärung, aber auch der ihr vorangehenden Entwicklung eine stärkere Nachwirkung
als sonst in Mitteleuropa. Daraus erklären sich gewisse Besondersten
der geistigen Verhältnisse Österreichs im nachjosephinischen Zeitraum,
^as gesamte nachbarocke Österreich wurde in starkem Maße vom Josephinis-
nius geformt, den Kräften der modernen Entwicklung freie Bahn gemacht.
Dle Säkularisierung von Staat und Gesellschaft Ist sein Werk. Nachteilig war,
daß eine ungebundene geistige Auseinandersetzung zwischen Fortschritt und
Beharrung, die anderswo schon seit der Schwelle des 19. Jahrhunderts einsetzt,
in Österreich etwa bis 1860 nicht möglich war. Die Gegensätze wurden vermischt
, nicht beseitigt und kamen in ein unfruchtbares Verhältnis zueinander,
Was verflachend und einschläfernd gewirkt hat. Der Josephinismus wollte
A'tes und Neues (Barock und Aufklärung) harmonisch ausgleichen und ver-
,öhnen, vermochte aber diesen Ausgleich trotz hervorragender Leistungen auf
"aatlichem und kulturellem Gebiet nicht herbeizuführen. So hat er einen verdateten
und daher noch schlimmeren Aufeinanderprall der Gegensätze bewirkt
, der bis In die jüngste Vergangenheit wirksam blieb.

Oegenüber dem Vorwurf, der Josephlnlsmus habe „germanisiert", steht

die Tatsache, daß er die Entwicklung der Volkssprachen stark gefördert hat,
dadurch freilich die Kräfte entband, die den von ihm angestrebten Zentralismus
im Staatsleben zum Scheitern brachten. Es fehlte ihm eben wie aller
Aufklärung der geschichtliche Sinn.

Dem Protestantismus gegenüber verhält sich der Josephinismus wohlwollend
, er sah aber nur den aufklärerischen Protestantismus und hatte für
den genuinen evangelischen Glauben kein Verständnis. Auf die Bedeutung von
Josefs II. Duldungserlaß geht V. nicht ein, obwohl dieser doch den völlig
unterdrückten Protestantismus der Erbländer zu neuem Leben erweckte und
dem stark geschwächten, kaum geduldeten Protestantismus In Ungarn zu
neuem Aufschwung verhalf Von Vorteil war es für die evangelischen Kirchen,
daß diese nicht mit dem Danaidengeschenk des Staatskirchentums behaftet
wurden und so die Eingriffe des Staates in das organisatorische und religiöse
Leben nicht über eine bestimmte Grenze hinausgingen. Die protestantische
Geistlichkeit vermied jede politische Feindseligkeit zum Staat, nur in Ungarn
griff sie in die nationalpolitische Auseinandersetzung ein und war bei den
madjarischen Kalvinern stark habsburgfeindlich. Auf das Protestantenpatent
Kaiser Franz Josephs und die Kirchenpolitik Thuns, die stark josephinisch
beeinflußt waren, hätte V. ebenfalls eingehen können. Auch die geistigen Wurzeln
der „Los-von-Rom" Bewegung an der Schwelle des 20. Jahrhunderts
liegen zum Teil im Josephinismus des Bürgertums. Sogar auf die orthodoxen
Serben und Rumänen und das griechisch-katholische Element hat der Josephi-
nismus ausgestrahlt und z. B. Ihnen zu besserer Priesterausbildung verholfen.

In einer Anmerkung geht V. auch auf den österreichischen Biedermeier
ein, der als geistige Gesamterscheinung noch wenig erforscht ist, obwohl er
die eigentliche Lebensform Im Vormärz war und fast in allen Ländern der
Monarchie wirksam gewesen ist, hauptsächlich beim mittleren Bürgertum, und
seine Nachwirkungen in gewissen kleinbürgerlichen Schichten der Nachfolgestaaten
bis in die Gegenwart spürbar blieben. Der Josephinismus war aber
nicht bloß Lebensform wie der Biedermeier, sondern Geist und Gesinnung in
tätiger Reflexion von oft überraschender Einsicht und Tiefe. Er ist auch nicht
mit dem Metternichschen System eins, Ja nicht einmal auch nur mittelbar
seine Grundlage. Ebensowenig kann er mit bestimmten Formen legitimistisch-
konservativen Denkens gleichgesetzt werden, da dieses sich erst im Lauf des
19. Jahrhunderts ausgebildet hat und uns etwa in der Person Erzherzogs
Albrecht (1817—1895) entgegentritt. Andererseits waren neben dem Josephinismus
mit ihm aufs engste verwandte Strömungen vorhanden, so bestimmte
Formen der doktrinären Aufklärung, die sich bis In den beginnenden Vormärz
gehalten haben. Auch sie dürfen nicht mit den Josephinlschen Strömungen
zusammengeworfen werden und ebensowenig die radikalen Theologen und
Literaten während der Regierung Josefs IL, die den Kaiser mitunter In wenig
würdiger Form feierten und später als Gegner der staatlichen Kulturpolitik
die Grundlage für die spätere politische Opposition in der Monarchie schufen.

Eine erweiterte 2. Auflage (1945 Verlag Max Schick)
bringt Neues „zur Quellkunde" und wertvolle kleine Ergänzungen
ohne das Gesamtbild des Josephinismus zu ändern.

Man kann Valjavec für die gründliche und vielseitige Erforschung
der geistigen, kirchlichen und staatlichen Entwicklung
, die die habsburgische Monarchie im 18. und 19- Jahrhundert
genommen hat, und den Nachweis, welche bedeutende
Rolle der Joephinismus dabei gespielt hat, dankbar sein. Dabei
ist er ohne alle Voreingenommenheit nach rechts oder
links. Die Arbeit ist gleichermaßen für den Theologen, Kirchenrechtler
, Kulturgeschichtler wertvoll und lehrreich und
förderlich für die richtige Beurteilung dessen, was in dem oft
wenig beachteten Südostraum in den letzten zwei Jahrhunderten
geschehen ist. Man wird heute das Wort des Joscphi-
ners Grillparzer von dem Weg, der von der Humanität über
die Nationalität zur Bestialität führt, besser verstehen als
noch vor einem Menschenalter.

Cannstatt/Stuttgart Roland Steinacker

Niemöller, Wilhelm: Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kirche.

Bielefeld: L. Bechauf [1948]. 527 S., XXVII S. Bellagen und Personen-V«r-
zeichnis, 10 S. Abb. gr. 8«. Oeb. DM28.—
— Gottes Wort ist nicht gebunden. Ein Tatsachenbericht über den Kirchenkampf
. Ebda [1948]. 170 S. 8' = Sonderheft d. Materialkartei „Botschaft u.
Dienst" Reihe 8. D. Weg d. Kirche = Schriftenreihe f. Männerarbeit d.
EKD. 8°. Kart. DM 5.20.

Der Verf. schreibt in seinem Vorwort in großer Bescheidenheit
: „Als ich dieses Buch zu schreiben begann, gedachte
ich nicht unter die Historiker zu gehen". Aber er hat es tatsächlich
doch getan und wir dürfen sagen: mit Erfolg. Er hat
uns in diesem Werk ein Buch geschenkt, das seine Bedeutung
hat und behalten wird. Auch dann, wenn das gilt, was er
weiter sagt: „Das Ganze ist ein erster Versuch, dem hoffentlich
bald bessere folgen werden". Es ist sehr zu begrüßen, daß
er diesen Versuch unternommen hat, der durchaus als gelungen
bezeichnet werden kann; denn es ist an der Zeit, daß es geschieht
. In dieser schnellebigen Zeit liegt die Gefahr nahe, daß
vieles von dem, was geschehen ist und was der evangelischen
Kirche in Kampf und Not geschenkt wurde, in Vergessenheit
gerät, während es doch dringend nötig ist, es lebendig zu er-