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Ausgabe:

1949 Nr. 9

Spalte:

527-532

Autor/Hrsg.:

Jeremias, Joachim

Titel/Untertitel:

Die aramäische Vorgeschichte unserer Evangelien 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 9

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aus zwei Gründen ein Mißverständnis zu sein: einmal darum,
weil die Lutherforschung eine ganz aktuelle kirchliche Bedeutung
hat für die Kirche in Schweden. Das Luthertum der
schwedischen Kirche ist keineswegs eine so selbstverständliche
Sache, wie es dem Außenstehenden vielleicht erscheinen
könnte, vielmehr ist die schwedische Kirche ein großes lutherisches
Haus, in dem die verschiedensten Geister wohnen —
kaum aber der Geist Luthers! Es wirken in ihr pietistische
Strömungen neben aufklärerischen und idealistischen, hoch-
kirchliche Tendenzen neben solchen völliger Säkularisation.
In dieser Lage der Gefährdung des lutherischen Erbes hat die
Lutherforschung für die schwedische Kirche den hochaktuellen
Sinn, ihr zu einer neuen Begegnung mit dem Reformator
zu verhelfen und damit zu einer Neubesinnung auf das
Evangelium und das Wesen der Kirche überhaupt. Luther
muß durch die Lutherrenaissance in Schweden erst wieder zurückerobert
werden!

Wie sehr der schwedischen Kirche eine Rückbesinnung
auf Luther not tut, geht schon aus der Tatsache hervor, daß
es keine schwedische Ausgabe der Hauptwerke Luthers gibt.
Man arbeitet nach den deutschen Ausgaben, da ja die Kenntnis
der deutschen Sprache für jeden Theologen in Schweden
selbstverständlich ist. In den letzten Jahren sind verschiedene
wichtige Schriften Luthers übersetzt worden. 1925 übersetzt
G. Rudberg Luthers De servo arbitrio ,,Om den trälbundna
viljan", 1928 gibt Brilioth De captivitate Babylonica heraus:
„Om kyrkans babyloniska fangenskap", 1929 J. Svennung
Von der Freiheit eines Christenmenschen: „Om kristenmän-
niskas frihet", 1931 G. Ljunggren den Großen Katechismus:
„Den stora katekesen", 1936 erscheinen die Schmalkaldischen
Artikel, zugleich mit Einleitung, 1939 übersetzt M. Lindström
den großen Galaterbriefkommentar: „Stora Galaterbrevs-
kommentaren".

Diese Lutherforschung hat aber zugleich eine aktuelle
theologische Bedeutung über die schwedische Kirche hinaus,
weil sie nicht rein historisch bleibt, nicht in der Fülle des geschichtlichen
Details aufgeht, sondern immer zu einer Gesamtanschauung
vorzudringen sucht, systematische Lutherforschung
ist. Sie läßt sich von Luther die Rangordnung der

theologischen Problematik weisen und kann daher auch für
die deutsche Theologie ein gutes und wichtiges Korrektiv
werden. Bei Aulen und Nygren, aber nicht minder bei Lindroth
wird die Theologie ganz entscheidend von dem lutherischen
„Grundmotiv" der Versöhnung und der göttlichen
Kondeszendenz her gestaltet. Es wird hier sichtbar, daß das
eigentliche theologische Grundproblem nicht die Offenbarung
ist, sondern die Versöhnung. Das Problem der
Offenbarung bleibt ein formales, das seine eigentliche Herkunft
in der Aufklärung und dem Idealismus hat, während
das Problem der Versöhnung das eigentlich biblische mate-
riale Grundthema der Theologie sein muß. Die Inflation des
Offenbarungsbegriffs in der Theologie der Gegenwart verrät
deren Herkunft und Gebundenheit an die Situation des 18. und
19. Jahrhunderts, während das Versöhnungsproblem den obersten
Rang in der Theologie einnehmen sollte.

Weiter zeigt die schwedische Theologie, wie der lutherische
Dualismus von Gesetz und Evangelium keineswegs zu
einem Auseinanderfallen der beiden Größen zu führen braucht
und die Einheit des Gottesgedankens gewahrt bleibt, auch
wenn an diesem Dualismus festgehalten wird. Dieser Dualismus
braucht weder zu einem Schöpfungsdoketismus noch zu
einem Christomonismus zu führen, weder zu einer Preisgabe
des weltlichen Regiments an den Teufel noch zu einer quie-
tistischen Indifferenz gegen die Welt, sondern findet seine
Lösung in der Anerkennung des doppelten Werkes Gottes,
der trotz allem und in allem der eine und derselbe Gott bleibt,
der in beiden Regimentern der Herr ist. Die Arbeiten von
Bring, Olsson, Törnvall und Josefson wehren hier ein naturalistisches
oder fatalistisches Mißverständis des lutherischen
Dualismus überzeugend ab, ohne daß die Auflösung des Dualismus
zu einer katholischen Vergesetzlichung des Evangeliums
oder einer schwärmerischen Evangelisierung der Welt führen
würde. Die Arbeit Wingrens vollends führt aus der Alternative
rein ideenhafter Sachlichkeit und psychologisch-biographischer
Auflösung des theologischen Sachgehalts in die Mitte der
zwischen Himmel und Erde stehenden und für Gott oder den
Teufel sich entscheidenden Existenz. Die historische Forschung
wird hier zu einer Form der indirekten Verkündigung,
des heimlichen Rufs zur Entscheidung.

Die aramäische Vorgeschichte unserer Evangelien1

Von Joachim Jeremias, Göttingen

Es ist eines der wichtigsten und brennendsten Probleme
der neutestamentlichen Forschung, die Frage nach dem aramäischen
Hintergrund der Evangelien und der Apostelgeschichte
, das M. Black, ein ausgezeichneter Kenner des Aramäischen
und Syrischen, erneut aufgreift. Von seinen Vorgängern
— A. Meyer, G. Dalman, J. Wellhausen, E. Nestle,
5. F. Burney, C. C. Torrey, A. J. Wensinck — ist er am stärksten
Wellhausen, in zweiter Linie Burney und Wensinck verpflichtet
. (Daß ihm die hervorragenden Untersuchungen von
P. Joüon entgangen sind, überrascht sehr: der Name kommt
in dem ganzen Buch nicht vor; auch die einschlägigen Arbeiten
von A. Schlatter kennt B. offensichtlich nicht; an der
einzigen Stelle, an der Schlatters Name begegnet [S. 103
Anm. 1], wird ihm zu Unrecht eine von G. Kittel widerlegte
These E. Hirschs zugeschrieben.)

1.

Die Frage, die jede derartige Untersuchung zunächst beantworten
muß, ist die nach den Hilfsmitteln, die für die
Rekonstruktion des von dem Galiläer Jesus von Nazareth
und von seinen Jüngern und Tradenten gesprochenen Aramäisch
in Betracht kommen. Wie man weiß, standen sich bis
vor kurzem zwei Ansichten gegenüber. G. Dalman meinte ursprünglich
, daß die Sprache der kanonischen Targume(Onkelos
zum Pentateuch und Pseudo-Jonathan zü den Propheten) dem
Aramäischen der Evangelien am nächsten komme, legte aber
in seinen späteren Jahren — mit Recht! — immer mehr verstärktes
Gewicht auf das Galiläisch-Aramäische des palästinischen
Talmuds und der Midraschim. Ihm widersprach
F. Schultheß (Das Problem der Sprache Jesu, 1917), der das
christlich-palästinische Syrisch als denjenigen aramäischen
Dialekt bezeichnete, der die engste Verwandtschaft mit der
Muttersprache Jesu habe. Zu diesen beiden Thesen hat un-

') Black, Matthew, D. Litt.: An Aratnaic Approach to the Gospels
and Acts. Oxford: Clarendon Press 1946. VII, 250 S. 8'. IS«.

längst Paul Kahle eine dritte gefügt (The Cairo Geniza, London
1947; Das zur Zeit Jesu in Palästina gesprochene Aramäisch.
Theol. Rundschau 17, 1949, S. 201—216). Er hatte 1930 (in
seinem Buch: Masoreten des Westens II) fünf in der Öenizö
von Alt-Kairo gefundene Fragmente eines palästinischen Pen-
tateuch-Targums veröffentlicht, denen er ein erheblich höheres
Alter zuschreibt als den von Dalman ausgewerteten kanonischen
Targumim (die nach Kahle erst im 9. Jahrhundert von
Babylonien nach Palästina kamen). Kahle schildert in seinen»
Buche The Cairo Geniza (1947) S. 129 sehr anschaulich, wie
der (inzwischen verstorbene) Leydener Orientalist A. J. WeO"
sinck ihn 1938 bei einem Besuche gefragt habe: „Wissen Sie.
welche Texte sich mir als die wichtigsten für meinen Zweck
(die Wiedergewinnung des zur Zeit Jesu in Palästina ge'
sprochenen Aramäisch) erwiesen haben?" und als Antwort
die von Kahle veröffentlichten Pentateuchfragmente genannt
habe. M. Black schließt sich (S. i8ff.) seinem Lehrer Kahle
an, wenn er diese Fragmente des neuen palästinische11
Pentateuchtargums als erste Quelle für die Rekonstruk'
tion der Sprache Jesu nennt. Als Beispiel für deren Altertüni'
lichkeit nennt er, ebenso wie vor ihm Kahle und Wensinck.
das Wort Rabbuni, das in den neuen Fragmenten genau so
vokalisiert wird wie in den Evangelien faiyn, vgl. ^aßflov'1

Mk. 10, 51; Joh. 20, 16) und durchweg in ihnen einen irdische11
Herrn bezeichnet (während es bei Onkelos lafffl*] vokah'

siert wird und in der jüdischen Literatur gewöhnlich für de»
himmlischen Herrn reserviert wird). In einem bedeutsame»
Aufsatz: The Background of the term ,Son of Man' (Expos1'
tory Times 59, 1948, S. 283—288) hat ferner inzwischen Joh11
Bowman darauf hingewiesen, daß in den neuen Fragmente"-
„in Gn. 4, 14 Bar-Nash is used for ,anyone' while in Gn- g
5—6 Bar-Nasha (thrice) and Bar-Nash (twice) alike transh"
Ha-Adam man" (S. 286). Auch dieser weite Gebrauch voi
„Menschensohn" entspricht dem Sprachgebrauch der Ev»»1
gehen, in denen das Wort z. B. Mk. 2, 28 die Bedeutung ,."<
Mensch" (im generischen Sinn) haben dürfte; Dalmans (aU