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Ausgabe:

1949 Nr. 8

Spalte:

469-476

Autor/Hrsg.:

Brunner, Peter

Titel/Untertitel:

Zinzendorfs Spiritualismus 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 8

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(1888), Vasiliev (1902), Karabinov (1906) gewannen das Vertrauen
der Mönche1.

Das Aufflackern des jahrhundertelangen Bemühens der
Sinaiten, sich von der kirchenrechtlichen Abhängigkeit vom
Patriarchat Jerusalem zu lösen, ging nicht aus grundsätzlichen
Erwägungen hervor, sondern diente nur als Hilfe in
einer disziplinaren Angelegenheit. Aber auch dieser letzte Fall
wirkte wie die vorhergehenden in der gleichen Richtung
weiter. Wieviele zwar begabte, aber moralisch minder wertvolle
Persönlichkeiten sich im Verlauf der Geschichte auch
an der Lösung des Sinai vom Patriarchat Jerusalem versucht
hatten, und soviel Niederlagen sich dabei die Sinaiten holten,
es gelang ihnen auf die Dauer nicht, das kirchliche Recht zu
durchbrechen. Erfolgreicher waren sie in der Täuschung der

') Näheres darüber, wie über die ganze Reihe der auf dem Sinai arbeitenden
Gelehrten siehe bei BeneseviC, Les manuscrits, S. 65 ff. — Vgl. dazu auch
Beneäevii, Monumenta Sinaitica historica et palaeographica II (1912). Dazu
die Besprechung durch Heisenberg in Byzantinische Zeitschrift 26 (1926)
S. 387/88; ferner die Besprechung von Beneseviii, Les manuscrits Orecs durch
Dölgcr In Byzantinische Zeitschrift 38 (1938), S. 206 ff.

öffentlichen Meinung. Es ist bis jetzt' kaum noch in der histo-
rischen Literatur die Kenntnis des kirchenrechtlichen Verhältnisses
des Sinai zum Patriarchat Jerusalem durchgedrungen1
. Die Frage des Sinaikodex hat das bis zur heutigen
Stunde unter Beweis gestellt.

') Ganz abgesehen von der gelehrten rumänischen Literatur, die ich In
meiner Abhandlung über die kirchenrechtliche Stellung und die wirtschaftliche
Bedeutung des Sinai zu korrigieren Gelegenheit haben werde, ze'igen auch
die betreffenden Ausführungen der westlichen Gelehrten, die sich im Vorübergehen
äußern, z. B. N. Milasch, Das Kirchenrecht der Morgenländischen Kirche
(Mostar 1905), S.311, U. Delpuch, L'archeväque grec-orthodoxe du Sinai.
Bessarione 11,8 (1904/05), S. 185—213, zuletzt F. Heiler, Urkirche und Ostkirche
(München 1937), S. 175/76, M. Jugie, Le schisme byzantln (Paris 1941),
S. 297, daß sie schlecht informiert sind. Die Quellen dafür sind längst in leicht
erreichbarer Form publiziert: Papadopulos-Kerameus, Dokumente zur Geschichte
des Erzbistums Sinai. Orthodoxe Palästinasammlung 58 (russischgriechisch
, St. Petersburg 1908/09). — Die letzte Urkunde über das kirchenrechtliche
Verhältnis des Sinai zu Jerusalem In Nea Sion 1 (griechisch 1903),
S. 647 ff.: Die Urkunde über die Wahl und Weihe des neuen Erzbischofs
vom Sinai, Porphyrios IL

Zinzendorfs Spiritualismus

Erwägungen zu Gösla Hök: Zinzendorfs Begriff der Religion1

Von Peter Brunner, Heidelberg

Gösta Hök hat in der Einleitung seines Buches das Ergebnis
seiner Untersuchung in folgender Formulierung angezeigt
: „Zinzendorf ist, im Gegensatz zu der Anschauung der
bisherigen Forschung, weder Pietist, noch Lutheraner, obwohl
er selbst sich bald für das eine, bald für das andere ausgegeben
hat. Sein Denken . . . ist seinem Typus nach am ehesten
katholischer Spiritualismus" (4 f.). Diese auf den ersten Blick
Welleicht überraschende These wird durch die Darlegungen H.s
m- E. in folgenden Punkten eindeutig bewiesen: 1. Zinzendorfs
Auffassung von Gottes Hcilsliandeln am Menschen steht in
zentralen Punkten im Gegensatz zum lutherischen Bekenntnis.
*■ Zinzendorfs Auffassung von der Bekehrung und vom Verhältnis
des Bekehrten zur Sünde steht im scharfen Gegensatz
zum Pietismus. 3. An allen Punkten, an denen die für die Versündigung
entscheidende dogmatische Weichenstellung vorgenommen
wird, bricht bei Zinzendorf eine Haltung durch, die
ttian als Spiritualismus und Schwärmertunl wird bezeichnen
müssen. 4. Dabei ergibt sich an mehreren Punkten eine über-
rascheude Analogie, wenn nicht gar eine Wesensverwandt-
sehaft mit gewissen katholischen Lehrbildungen.

Schon diese Feststellung dürfte zeigen, welche Bedeutung
dieser Monographie nicht nur für das rechte historische Verständnis
der Anschauungen Zinzendorfs selbst zukommt, sondern
vor allein auch für die Beantwortung systematischer
j^rundfragen nach dem rechten Inhalt des christlichen Glaubens
. Gleichzeitig fällt durch die Untersuchung H.s auf die
theologiegeschiehtliche Stellung Zinzendorfs ein neues Licht.
Die Bedeutung Zinzendorfs für Schleiermacher und für die
gesamte neuprotestantische Entwicklung des 19. Jahrhunderts
erfährt eine wesentliche Klärung. Es ist offenbar vor allem das
Spiritualistische, schwärmerische Element in Zinzendorfs Denzen
, durch das er die neuprotestantische Entwicklung vorbereitet
hat. Schleiermachers Denken erscheint von dem
.Untergrund der II.sehen Untersuchung aus gesehen tatsächlich
im großen Umfang als „ein auf ganz bestimmte Weise umgebogener
und ausgebauter Herrnhutismus" (3). Dem Verf.
Slng es darum, mit dieser Untersuchung „einen Brückenkopf
schaffen für die Brücke, welche die Wissenschaft 'der Zu-
»inft von Zinzendorf zu Schleiermacher schlagen muß" (ebd.).

* ui wird sagen dürfen, daß er diese Aufgabe in einer vorbild-
'e'ien Weise gelöst hat. Er hat einen festen Grund gelegt, von
s'Tl aUS f*er Umbruch und Ausbau des Herrnhutismus bei
^ clileierinacher untersucht werden kann. Man darf gespannt
jjV^ ob uns H. selbst mit einer solchen Untersuchung demachst
bereichern wird. Daß er dazu sowohl die systematische

praft für die Erkenntnis der entscheidenden dogmatischen
.Rundfragen mitbringt, als auch über die sorgfältige Beob-
2 !ll"igsgabe für- die geschichtlichen Tatbestände verfügt,
eht auf Grund der vorgelegten Untersuchung außer Zweifel,
hat ^S hängt mit der Aufgabe zusammen, die H. sich gestellt
^^daß^jer nur einen Ausschnitt aus den religiösen Uber-

') Hök, Gösta: Zinzendorfs Begriff der Religion. Uppsala: Lundc-

* 'stska Bokhandeln u. Leipzig: Harrassowitz [1948]. XII, 221 S. gr. 8» =
"Psala Universitets Arsskrift 1948 : 0. Kart. Kr. 10.—.

Zeugungen Zinzendorfs behandelt, den er unter den Begriff
„Religion" zusammenfaßt. In zwei großen Kreisen wird
ZinzendorfsReligionsbegriff umschrieben. Im ersten Teil wird
Zinzendorfs Auffassung vom „Wesen der Religion" behandelt,
der zweite Teil trägt die Überschrift „Das Wesen des Christentums
". Jeder Teil gipfelt in einer Analyse des Religionsbegriffs,
wobei im ersten Teil Kap. III die eine zu allen Zeiten gleiche
Religion beschreibt, während im zweiten Teil Kap. VI die
Untersuchung abschließt mit dem Aufweis der teleologischen
Entwicklung dieser einen Religion durch die drei Hauptökonomien
hindurch. Diese Einteilung darf freilich nicht so
mißverstanden werden, als ob Zinzendorf einen Allgemeinbegriff
Religion vertrete, der auf der biblischen Entwicklungslinie
zu seiner Höchstgestalt sich entfalten würde. H. zeigt,
daß gerade an dieser Stelle ein wichtiger Unterschied zwischen
Zinzendorf und Schleiermacher noch besteht (S. 123 f.). Hier
hat H. gegenüber B. Becker, O. Uttendörfer und auch gegenüber
R. Otto wichtige Korrekturen anzumelden. Zinzendorfs
Religionsbegriff, auch sein sensus numinis, hat stets eine
gnadenhafte „übernatürliche" Realität im Auge, der im Bereiche
des „Natürlichen" lediglich eine negative Voraussetzung
entspricht (115ff., 120f.). Daher handelt das ganze
Buch, nicht nur der zweite Teil, von dem, was nach Zinzendorf
christliche Religion ist. Daher bietet H.s Untersuchung
tatsächlich auch vielmehr als eine Analyse des Religionsbegriffes
bei Zinzendorf. Die für jede christliche Theologie
entscheidende Frage nach der Rettung des verlorenen
Menschen durch das Heilshandeln Gottes steht auch im Zentrum
dieser Untersuchung. Vielleicht hätte der Verf. seine
These noch überzeugender durchführen können, wenn er
seinen Stoff um den ordo salutis gruppiert hätte. Denn Zinzendorfs
Verständnis von dem Heilshandeln Gottes am Menschen
ist das zentrale Thema seiner Abhandlung. Es sei uns gestattet
, nur eine Linie unter diesem Gesichtspunkt durch die
Kapitel dieses Buches hindurchzuziehen, an der das Abgleiten
Zinzendorfs von der biblischen Linie des lutherischen Glaubens
und sein schwärmerischer Spiritualismus besonders deutlich
sichtbar wird.

Kap. I handelt vom Glaubensbegriff (11—60). „Tote
Erkenntnis göttlicher Dinge" ist Glaube im uneigentlichen
Sinn des Wortes, ist eine scientia satanae, die sich bei den
nicht wiedergeborenen Menschen findet, welche die christliche
Lehre lediglich äußerlich angenommen haben. Dieser
tote Glaube ist für das Heil wertlos. Glaube im eigentlichen
Sinn ist „der Hang und die Liebe des menschlichen
Herzens zu- Christus". Für diesen Glauben ist kennzeichnend
, daß er mit der durch den Geist ausgegossenen
Liebe zusammenfällt. „Er enthält kein Erkenntnismoment,
sondern nur den Hang des frommen Herzens zum Heiland."
Dieses „gefühlige Glauben im Herzen" ist prinzipiell gelöst
vom äußeren Wort (17). Der Schöpfer-Heiland und
der Mensch haben es hier allein miteinander zu tun, ohne
daß ein Mensch, ein Buch, eine Erkenntnis dazwischenkäme
. Der spiritualistische Charakter dieses Liebesglaubens
liegt auf der Hand. Die entscheidende Wendung vom Tod