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Ausgabe:

1949

Spalte:

457-470

Autor/Hrsg.:

Hotzelt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die kirchenrechtliche Stellung von Bistum und Kloster Sinai zur Zeit der Entdeckung der Sinaibibel 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr." 8

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getan wurde, seinen Ort innerhalb dieses schöpfungstheolo-
gischen und anthropologischen Elementarkursus der speziellen
Dogmatik haben und nicht vor ihm. Das Verfahren, das A.
demgegenüber einschlug, ist tatsächlich, trotz allen Vorbehalten
, ein Stück „natürlicher Theologie" in neuer Gestalt.
Im Grundriß (I § 6) ist diese natürliche Theologie durch einen
Abschnitt „Die Wirklichkeit des Zornes Gottes" (= „Der verborgene
Gott") wirksam begrenzt. Diese Begrenzung ist im
§11 der Ch.W. nicht mehr so unmißverständlich zu hören, obwohl
auch er vom „Nicht-Wissen um Gott" und vom „verborgenen
Gott" (I 111) spricht. Eine genaue Analyse der Aussagen
von §§6—11 würde bestätigen, daß diese „natürliche
Theologie" nicht durchweg festen Boden unter den Füßen
hat, — am deutlichsten wohl in § 10, aber auch in so schwebenden
Sätzen, wie dem, daß „unter der Selbstbezeugung (seil.
Gottes) Erkenntnis Gottes grundsätzlich möglich und wirklich
" sei (I 108). Um der Sache auf den Grund zu gehen:
müßte für die Durchleuchtung der Lage des Menschen unter
der Ur-Offenbarung die biblische Kategorie des Gesetzes in
der Zweieinheit seiner lebentragenden und seiner richtenden
Funktion nicht viel kräftiger eingesetzt werden als es z. B.
I 90 geschieht ? Die paulinische Lehre vom Gesetz ist ja, wie
A. selbst genau weiß, beinahe der entscheidende Ansatz für
die Konzeption der Ur-Offenbarung. Selbständiges Recht
hätten die förderlichen Erkenntnisse und Ausblicke dieses
ganzen Kapitels wahrscheinlich in einer „Apologetik", wie wir
sie oben für die systematische Theologie zurückforderten, aber
nicht in einer dogmatischen Prinzipienlehre.

Das Problem der Ur-Offenbarung hängt tief zusammen
mit der dritten Frage, die an diese Dogmatik gerichtet werden
muß: wie verhält es sich mit Althaus' Verständnis des Alten
Testaments (I, §21) und der mit ihm weitgehend identischen
,,Vorbereitung der Heilsoffenbarung Gottes durch sein Wort
an Israel" (I, § 12) ? Die Frage gliedert sich in zwei Teilfragen:

1. darf die theologische Konzeption der „Heilsgeschichte" (die
A. selbst gegenüber Barths Offenbarungs-Monismus I 71 und
gegenüber dem gesetzlichen Biblizismus der calvinischen Theologie
I 284 geltend macht) so, wie es in §21 geschieht (vor
allem I 234), auf den Gedanken einer „durch Gottes Führen
bewirkten Geschichte des Glaubens" reduziert werden ? Die
Frage könnte dahin präzisiert werden, ob unter diesem Aspekt
der „Bund" Gottes mit Israel noch Wirklichkeit bleibt.

2. aber: wie verhalten sich die (allgemeine) Ur-Offenbarung
und die vorbereitende Offenbarung Gottes „durch sein Wort
an Israel" zueinander? — Wir greifen vorerst diese zweite
Frage auf. A. sagt uns, das AT bzw. die in ihm bezeugte
prophetische Offenbarung sei gleichsam die Reinform der UrOffenbarung
, die „entgegen der allgemeinen heidnischen Entstellung
die ursprüngliche Selbstbezeugung Gottes neu und
rein herausstellt" (I 117), vgl. I228: „Das AT bezeugt und
deutet die Ur-Offenbarung Gottes, die an uns alle ergeht",
I 118: „Dem AT eignet die Autorität der Ur-Offenbarung".
Mit diesen Sätzen verbindet sich bei A. der klare Wille, das
AT als Urkunde einer „besonderen Offenbarung an Israel" zu
verstehen, „die sich von aller anderen Offenbarung, wie sie
Hinter den Religionen steht, abhebt" (I 116). Wie sich mit
diesem Willen die Auslegung des AT als Reinform der Ur-
Offenbarung verträgt, ist nicht völlig durchsichtig gemacht.
Wir pflichten der evangelischen Kritik des AT, die A. in
scharfer Frontwendung gegen die heute repristinierte „christo-
mgische" Exegese des AT übt, im wesentlichen bei. Wir vermissen
aber hinter seinem Verdikt über die „national-partiku-
wistische Verkehrung" des Erwählungsgedankens (I 232) die
m dieser Formulierung logisch geforderte Anerkennung
der heilsgeschichtlichen Wirklichkeit „Erwählung"
selbst. Die unwiderlegbaren Feststellungen über die „zwei
gegensätzlichen Linien nicht nur in der Frömmigkeit Israels,
sondern auch im AT" (I 231) würden diese Anerkennung
ebenso wenig hindern wie der Protest gegen die christologische
Exegese, die den Unterschied des Alten zum Neuen Testament
im Grunde aufhebt. Hier werden bei A. jedoch Hemmungen
und Reserven fühlbar, die aus den biblizistischen
Irrungen der Föderaltheologie älteren und neueren Stils wohl
verständlich sind, nichtsdestoweniger aber die alte Sorge
M. Kählers bekräftigen, daß die Preisgabe der heilsgeschicht-
lichen Realität des Alten Bundes die Geschichtlichkeit der
Christusoffenbarung (an der auch A. alles gelegen ist) zu einem
wunderlich in der Luft schwebenden Ausnahmefall machen
müßte. Wir glauben, daß A. in dieser sonst so reiflich ausgewogenen
Dogmatik hier ebenso wie zur Frage der Ur-Offenbarung
noch nicht sein letztes Wort gesagt hat. Beide anfechtbare
Stellen im Gesamtgefüge dieser Dogmatik hängen unter
sich zusammen. Man kann nicht, wie Barth, die Ur-Offenbarung
von einer geheimnisvoll ausgeweiteten Bundes- und
Erwählungstheologie einfach absorbiert werden lassen, man
kann aber erst recht nicht die Autorität des AT auf die
„Autorität der Ur-Offenbarung" reduzieren. Der gelegentlich
versuchte Ausweg, eine „dreifache Offenbarung" zu registrieren
, bietet keine überzeugende Lösung des Problems. Das
Nebeneinander der alttestamentlichen und der allgemeinen
Offenbarung ist ein verborgenes Ineinander, — vielleicht
widersteht es überhaupt der systematischen Bewältigung.

Von der kritischen Durchleuchtung dieser Lehre vom AT werden wir zu
einer letzten Überprüfung der A.sehen Lehre von der Heiligen Schrift überhaupt
weitergeführt. Wir müssen Ihren Einwänden gegen Barths trotz allem
Scharfsinn innerlich zwiespältige Schriftlehre recht geben. Nur zwei Punkte
bedürfen u.E. bei A. der Korrektur. Zuerst: der Begriff der Inspiration
wird im Lichte der A.sehen Analyse so fragwürdig, daß er folgerichtig auch die
theologische Brauchbarkeit verliert, die A. ihm in § 19 doch noch irgendwie
beizulegen versucht. Wohl aber verlangt die Gewißheit, daß Entstehung und
Geschichte der Heil. Schrift unter einer speziellsten Führung Gottes gestanden
hat, die der Kern der Geschichte Gottes mit der Kirche überhaupt Ist, wahrscheinlich
unter Preisgabe des Inspirationsbegriffs, nach einer dogmatischen
Neufassung, die einige Grade nachdrücklicher sein dürfte als das, was A.
I 214—216 darüber zu sagen hat. Weiter aber: die geforderte christliche
(evangelische) „Kritik" des AT, die Im Grunde nur eine Anwendung des
diakritischen Verhältnisses von Gesetz und Evangelium Ist, entbindet den
Dogmatlker nicht von der Verpflichtung, die Heil. Schrift zuerst und zuletzt
als ein Ganzes zu nehmen. Eine entsprechende Revision des methodischen
Ansatzes bei A. (I 178) würde nicht verdunkeln, daß unsere Bindung an die
Heil. Schrift ganz und gar die Bindung durch das Evangelium von Jesus
Christus ist.

Es wäre zu Althaus' Dogmatik noch manches an Fragen
vorzubringen. Unser letztes Wort ist aber die Bekundung
unserer großen Dankbarkeit für diese unter dem Schatten
schwerster Zeitfügungen dennoch makellos ausgereifte Meistergabe
. Je nüchterner wir die theologischen „Zeichen der Zeit"
prüfen, desto mehr freuen wir uns über die seltenen Männer,
denen es heute gegeben ist, in einem solchen Gleichgewicht von
Fülle und Einfalt, von evangelischer Eindeutigkeit und diako-
nischer Weite zu uns zu reden. Es ist zu befürchten, daß
Dogmatiker dieser Art und dieses Ranges in Zukunft noch
seltener werden. Es ist auch zu befürchten, daß wir, denen
solches Vermögen nicht gegeben ist, den Mangel durch gesteigerte
Lautstärke unseres Wortes zu kompensieren versuchen
. Die vielgescholtene Apologetik haben wir abgetan. Die
Versuchung einer Rhetorisierung der Dogmatik ist keineswegs
abgetan. Ihr gegenüber ist der unanfechtbare wissenschaftliche
Rang dieser Dogmatik eine Gewissensmahnung und ein Vorbild
, das wir nicht genug zu Herzen nehmen können. Die
Hemmungen, die der Wirkungsbreite einer so gearteten Dogmatik
heute noch entgegenstehen mögen, werden ziemlich
bald durch die schmerzhafte Erkenntnis überwunden werden,
daß die radikalistischen Parolen von gestern und heute allesamt
in Sackgassen führen. Der Kultus des Augenblicks, der
kein Gestern mehr gelten lassen will, wird uns auch kein wirkliches
Morgen eröffnen. Die besondere Berufung von Paul Althaus
beruht nicht zuletzt darauf, daß sehie Dogmatik eine
Brücke vom Gestern zum Morgen baut. Es mögen manche
manches an dieser Dogmatik vermissen. Aber wir wissen
keinen, der sie uns ersetzen könnte.

Die kirdienrcchiliche Stellung von Bistum und Kloster Sinai zur Zeit der Entdeckung der Sinaibibel

Von Wilhelm Hotzelt t

Petersburg vom Berg Sinai nach London ins Britische Mu-

Vor ungefähr einem Jahrzehnt ist ein Bibelmanuskript
des 4. Jahrhunderts, dem nicht bloß nach seiner Schriftgestaltung
, sondern auch in seinem Einfluß auf die Herstellung
des ursprünglichen Textes der hl. Schrift eine hervor-
ragende Bedeutung zukommt1, auf dem Umweg über Sankt

') Von den erhaltenen 345'/2Blättern treffen auf dasAlteTestament 199, auf
das Neue Testament 147'/j. Vgl. dazu C. Tischendorf, Notitla editionis codicis

bibliorum Sinaitici (Leipzig 1860), S. 10/11. — Kirsopp Lake, Codex Sinaitlcus
Petropolitanus. The New Testament, the eplstle of Barnabas and the shepherd
of Hermas(Oxford 1911), S. XVI. The Old Testament (Oxford 1922). —Vogels,
Handbuch der neutestamentlichen Textkritik (Münster 1923). — Das Werk
von Marcu Beza, Heritage of Byzantium. London, Society for promoting
Christian Knowledge. 1947, das einen Aufsatz über den Codex Sinaiticus ent-