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Ausgabe:

1949 Nr. 6

Spalte:

355-357

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Künneth, Walter

Titel/Untertitel:

Der große Abfall 1949

Rezensent:

Mulert, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 6

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geistigen Leistungen das Böse als unvermeidliche Begleiterscheinung erkennt.
Die christliche Schau der Geschichte steht jenseits der Tragödie, weil sie das
Böse nicht als etwas ansieht, was dem Dasein selbst anhaftet, sondern als
etwas, was schließlich auch noch unter der Herrschaft eines guten Gottes steht"
(7). Damit steht Niebuhr vor der Frage der Versöhnungslehre. Hier vollzieht
nun N. den Bruch mit der liberalen Theologie vollständig und wird biblischer
Realist. Er fühlt immer noch sehr lebendig die Spannung, die zwischen der
mythischen Form der biblischen Wirklichkeit und einem modernen rationalen
Verständnis besteht. Die Paradoxie von 2. Kor. 6, 8 läßt ihm hier die Ent-
mythologisierung als eine Antinomie erscheinen, die weder in Richtung auf den
modernen Rationalismus, noch auf einen konservativen Biblizismus aufzulösen
ist. Einerseits gilt, daß es kein echtes Verständnis von Leben und Geschichte
gibt ohne die Offenbarung, anderseits wird der theologische Sinn des christlichen
Dogmas verfehlt, wenn seine mythische Ausdrucksform als geschichtliches
Geschehen genommen wird. Zur gegenwärtig viel verhandelten Frage
der Entmythologisierung stellt gerade der erste Essay einen wertvollen
Beitrag dar. Gegenüber seinen früheren Schriften fällt auch besonders die stärkere
Betonung des Eschatologischen auf. Er nimmt den Gedanken der Wiederkunft
Christi durchaus ernst, wie den der Auferstehung des Leibes. Er bekennt,
daß ihm gerade der Auferstehungsglaube In seinen liberalen Anfängen besondere
Schwierigkeiten gemacht hatte. „Doch sind einige von uns jetzt der
Überzeugung, daß es richtig sei, den Stein, den wir damals verwarfen, zum
Eckstein zu machen" (166). Dabei will aber N. auch diesen Gedanken nicht
wörtlich nehmen, aber doch bringt er besser als der der Unsterblichkeit der
Seele die Einheit von Leib und Seele zum Ausdruck, und Ist ein unveräußerliches
Symbol dafür, daß ein Begriff von der Erfüllung des Lebens nur im Zusammenhang
mit der Anschauung unseres gegenwärtigen Lebens ausgedrückt
werden kann.

Niebuhrs Bibelauslegung zeichnet sich dadurch aus, daß
sie bei aller Treue gegen den eigentlichen Sinn diesen nicht in
der historischen Ferne des Urchristentums findet, sondern ihn
für die Gegenwart durchleuchtend werden läßt. So wird für
ihn der Gegensatz der Kinder dieser Welt und der Kinder des
Lichtes (Luk. 16, 8) zu der Formel, durch die der Gegensatz
zwischen den zynischen Verächtern der Moral und den Vertretern
der Demokratie erhellt wird.

Niebuhr verfolgt in seinem Buch „Die Kinder des Lichts und die Kinder
der Finsternis" ein doppeltes Ziel: die negative Aufgabe der Destruktion der
Ideologie oder wie N. sagt, eine „Kritik der herkömmlichen Verteidigung der
Demokratie", und die positive der Rechtfertigung der Demokratie gegenüber
den moralischen Zynikern. N. ist sich darüber klar, daß die Demokratie unter
einem Doppelaspekt gesehen werden kann. Einmal ist sie Produkt des bürgerlichen
Zeitalters und teilt dessen Schwächen und Schicksal, die Überschätzung
der Freiheit des Einzelnen und die Blindheit gegen die ökonomischen Grundlagen
. Soll die Demokratie überleben, so braucht sie eine solidere Grundlage
als sie die bürgerliche Lebensanschauung darstellt. Die Demokratie wurde von
unklugen „Kindern des Lichtes" gebaut, von sentimentalen Illusionisten,
denen die „Kinder der Finsternis", die moralischen Zyniker, gegenüberstehen,
die erklären, daß Macht vor Recht geht. In der Betrachtung der Demokratie
macht N. sein geschichtlich-übergeschichtliches Denken fruchtbar, indem er
davon spricht, daß es eine christliche Selbsttranszendierung des Ich gibt, die
darum weiß, daß Gottes Reich höher ist als alle geschichtliche Verwirklichung.
Von diesem Bewußtsein strömen neuer Reichtum und höhere Möglichkeiten
einer besseren Gerechtigkeit in die Geschichte und die Gestaltung der Gesellschaft
. N. ist stark durchdrungen von dem Wissen um die Ambivalenz der
Geschichte, und ringt um die rechte Mitte zwischen einem historischen Determinismus
, der in der geschichtlichen Entwicklung das Gefälle eines unerbittlichen
Gesetzes erblickt, und einer Freiheitslehre, die sentimental und illusionistisch
wird. N.s Versuch eines Verständnisses der Demokratie wird zu einem
weitgespannten Entwurf einer Geschichtstheologie. „Es wird lange dauern,
bis die modernen Idealisten erkennen werden, daß die tiefen Wahrheiten des
christlichen Glaubens, die sie verleugnet haben, unentbehrliche Hilfsmittel
zur Lösung der geschichtlichen Aufgaben bieten, die vor uns Hegen. Diese Wahrheiten
sind berechtigterweise darum verleugnet worden, weil sie durch Bildungsfeindlichkeit
verdorben und eng mit den kulturellen Voraussetzungen längst
zerstörter Kulturen verbunden waren. Andererseits aber sind sie zu Unrecht
darum verleugnet worden, weil die moderne Kultur die Geschichte selbst als
die Erlösung ansah und daher an einer tieferen Deutung der Beziehung von
Geschichte und Erlösung uninteressiert war" (121).

Tübingen H. H. Schrey

Künneth, Walter, Prof. D. Dr.: Der große Abfall. Eine geschichtstheo-
logische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und
Christentum. Hamburg: Wittig 1947. 319 S. 8».

Hauptinhalt des Buchs ist: im Nationalsozialismus kam
der Abfall von Gott, der weltliche Sinn des Abendlandes, der
Säkularismus auf seinen Gipfel; Rettung aus dem Zusammenbruch
gibt es nur durch Rückkehr zu vollem biblischen
Christentum. Der erste Abschnitt gilt dem geistesgeschichtlichen
Hintergrund (Skepsis, keine Gewissensbindung mehr)
und als Wegbereitern des NS Darwin, Nietzsche, Chamber-
lain, Spengler (wobei K. durchaus sagt, wieviel diese Männer
vom NS scheidet). Im zweiten wird die religiöse oder weltanschauliche
Denkweise der Führer des NS aufgezeigt und
die Wirkung von Vermassung und Terror, im dritten seine
antichristliche Wesensbestimmtheit, Religion des Bluts und
Ethik des Bluts, im vierten der Kampf gegen die Kirchen,
im fünften der Bruch mit dem christlichen Bild unserer Geschichte
.

Daß K. viel zitiert, ist im Stoff begründet (merkwürdigerweise
wird § 24 des NS-Programms nicht wörtlich wiedergegeben
) und von manchem Buch, das in anderen Zonen erschien
, erfuhr ich erst durch ihn. Und wie wenig kennen
Deutsche noch heute weithin die Geschichte unsrer letzten
16 Jahre. So ist sein Buch verdienstlich. In der Ablehnung
des NS stimme ich mit ihm ganz überein, auch in solchen
Urteilen wie: „Jeder totale Staat ist seinem Wesen nach anti-
christlich" (137), ebenso darin, daß er die andren Völker
fragt, ob nicht bei ihnen ähnliche Entwicklung hier und da
einsetze oder drohe. In der Tat gehört zu gerechtem Urteil
über die Sache der Blick auf auswärtige Revolutionen (um
nur eine aus der Vergangenheit zu nennen: die große französische
; die bleibenden Unterschiede werden leicht klar
werden).

Als entscheidenden Gegensatz sieht K. freilich nicht den
zwischen Humanität und NS an, sondern zwischen säkularisierter
Menschheit und biblischem Christentum. Alle Geschichtsphilosophie
wird für ihn im Grunde Geschichtstheologie
. Und er nimmt den Glauben an widergöttliche, satanische
Mächte ernst. Wie ich mit ihm in vielem Grundsätzlichen
übereinstimme, z. B. in der engen Verbindung zwischen
Christenglaube und Dienst am Nächsten, so scheint mir auch
seine Kritik des NS-Geschichtsbilds treffend. Nur wäre, wenn
man zeigt, welchen Wert das Christentum führender Deutscher
für unser Volk gehabt hat, als Gegenseite gerechterweise
zu erwägen, daß das einseitige religiös-kirchliche Interesse
solcher Herrscher wie Friedrich Wilhelms III. und Wilhelms I.
in ihren späteren Jahren starke und schlimme Wirkungen auf
unser staatliches Leben gehabt hat. Von Mängeln der Christen
spricht K. ernst (nur die Fülle kirchenbehördlicher Erklärungen
für den NS 1933 beurteilt er zu nachsichtig). Klerikale
Neigungen hat er nicht, erwartet nicht nach diesem zweiten
Weltkrieg ein Jahrhundert der Kirche, sondern tut düstere
apokalyptische Ausblicke.

Oft empfinde ich Widerspruch. K. ist wesentlich für das
Luthertum interessiert; daß, wieso, warum gerade Reformierte
dem NS wirksam entgegentraten, kommt nicht ausreichend
zur Sprache. Der Aufklärung und dem Idealismus
geht es bei ihm fast so schlecht wie bei Barth, und ebenso
der „liberalen Theologie". Lessings Wort vom Wert des
Suchens nach Wahrheit lehnt er ausdrücklich ab; daß die
Führer der deutschen Erhebung 1813 (zwar nicht Rationalisten
, aber auch) nicht Lutheraner in K.s Sinn waren, verkennt
er, ebenso, welchen sittlichen Ernst viele Liberalen und
Demokraten des Westens haben, die keine Kirchenchristen
sind. Echte Freiheit dürfe nicht als Autonomie des Gewissens
interpretiert werden (117), Widerstand gegen den Christusglauben
ernte ethische Verwahrlosung; religionslose Ethik
erscheint ihm also als unmöglich. Wohl will auch er keine Ver-
balinspirationslehre, aber wie oft Bibel- und Wunderkritik
einfach aus Wahrheitssinn erwuchsen, sieht er offenbar nicht.
Muß nach ihm „ein durch das Sieb des Verstandes gepreßtes
Christentum der Verkündigung der Kirche als eine grauenvolle
Karikatur, ja als eine Schändung des Heiligen erscheinen"
(28), so fragt man: haben Biedermann, Herrmann, Albert
Schweitzer das Heilige geschändet und wo ist in solchem Urteil
der Sinn unseres Meisters ? Und gewiß ist, wie K. meint, der
Arierparagraph in der Kirche ein Verstoß gegen die christliche
Brüderlichkeit, wie sie sich namentlich beim Abendmahl
zeigen soll; nur ist die schon oft durch unendlichen
Abendmahlsstreit vermeintlich rechtgläubiger Christen verletzt
worden. Aber statt weiterer Kritik spreche ich zuletzt
lieber den Wunsch aus, es möge sich künftig als wahr erweisen
, daß die Bekennende Kirche (die K. im ganzen recht
gut schildert; nur erwähnt er nicht, wie viele ihr angehörten
und angehören, die keineswegs K.s Bibelglauben haben) „eine
Wiedererweckung christlicher Glaubens- und Lebenskräfte"
bedeute, „wie sie in diesem Umfang seit den Tagen der Reformation
nicht zu verzeichnen war" (229). Ich würde heute nicht
wagen, die Wendung von 1933 an zum Vaterglauben schon
für bedeutsamer zu erklären als die um 1820, die Erweckung
und Restauration des vorigen Jahrhunderts. Wir übersehen
besonders noch nicht, wie Kirchliches und Politisches weiter
aufeinander wirken werden. Spricht dies Buch christlichkirchlichen
Protest gegen den NS aus, so hätte gerechterweise
auch gefragt werden müssen, ob und wie zu der politischen
Wandlung, daß der NS sich ausbreitete und die Mehr-