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Ausgabe:

1949 Nr. 6

Spalte:

354-355

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Reinhold

Titel/Untertitel:

Jenseits der Tragödie 1949

Rezensent:

Schrey, Heinz-Horst

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 6

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muß. Darüber kommt keine wirklich zu Ende gedachte Philosophie
jemals hinaus.

Es gibt in dem Buch viele Sätze und Ausdrücke, die dem
evangelischen Theologen das Blut in den Kopf treiben, so z. B.
wenn immer wieder wie von jedem Zweifel entzogenen Selbstverständlichkeiten
von der „natürlichen Religion", der „natürlichen
Gotteserkenntnis", der natürlichen „Ethik" usw. geredet
wird, oder wenn es geradezu heißt: „Philosophische
Gotteserkenntnis zieht die Liebe Gottes notwendig nach
sich", dann an anderer Stelle: „Neben oder über der bisherigen
(d. h. auch den Heiden zugänglichen) objektiven Welt
des Seins, der Wahrheiten und der Werte zeigte sich dem
Menschen eine neue höhere Welt geoffenbarter Wahrheiten ..."
So wurde das Christentum zu einem „Wendepunkt in der Geschichte
der Philosophie". Durch diese Sätze allein wird der
ganze Charakter, die ganze Haltung des Buches hinreichend
gekennzeichnet. Sie enthüllen eben das, was für den katholischen
Denker grundlegend und für den evangelischen unannehmbar
ist. Aber vielleicht bedeutet gerade der offenkundige
Widerspruch, der sich da zeigt, ein warnendes Signal für beide
Seiten. Vielleicht sollten wir uns, vor ihn gestellt, der Aufgabe
nicht entziehen, auch den eigenen Standpunkt kritisch und
gründlich zu überprüfen.

Berlin-Zehlendorf Erwin Reisner

Bredow, Oerda von: Sittlicher Wert und Realwelt. Studie zur Problematik
des Wertreichs. Oöttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1947. 76 S-
gr. 8«. DM4.80.

Verf. stellt unter Berufung auf N. Hartmann zuerst
»est, daß es unmöglich sei, ein Wertreich einheitlich unter
einer Idee zusammenzufassen. Sie begnügt sich deshalb damit
, das verschiedene Wertverhalten des Menschen zu verschiedenen
Situationen, schließlich zur Gesamtsituation analysierend
darzustellen. Es wäre vielleicht möglich gewesen,
diesen Teiluntersuchungen eine gedankliche Einheit zu geben,
so daß in der Abfolge derselben doch ein geschlossenes Ganze
des Arbeitsfeldes sich hätte beobachten lassen. Das ist nun
leider nicht der Fall. Zwar beginnt Verf. mit einer Analyse
der menschlichen Situation, dann aber folgt nach einer Untersuchung
über die aristotelische Mesotes-Theorie, unter dem
Titel „Die Ergänzung des sittlichen Einzelwertes durch andere
Belange seiner Situation", eine Betrachtung über die Problematik
eines anvertrauten Geheimnisses und die möglichen
Verhaltungsweisen im Umgang mit Geld und Geldeswert. Die
Teilmomente, die sich auf diese Weise ergeben, sind: „im
Gelde die Leistung, die dahinter steckt, achten; das Verdienst
anerkennen; das Geld arbeiten lassen; es wirklich Mittel sein
{assen; Herr sein über das Geld; großzügig sein; ehrlich sein;
kreditwürdig sein; nicht käuflich sein; nicht bestechen; das
Geld nur seinem niederen Range gemäß anwenden". Damit
sollen die sittlichen Werte, die diesem Situationstypus zugehören
, beschrieben und ihre Verbindung untereinander festgestellt
sein (S. 19). Auch hier muß der Mangel an einer folgerichtigen
Gliederung der Gedanken auffallen und die Frage
entsteht, ob es nicht richtiger ist, statt von der „Situation"
Vom Menschen auszugehen und von da aus die möglichen
Verhaltungsweisen zu ordnen.

Das ausführlicher entwickelte Beispiel muß genügen, um
°jie Methode der Untersuchung zu charakterisieren. Es folgen
dann Betrachtungen über Wertgegensätze, die zum Teil etwas
^»lkürlich aufgestellt sind, z. B. Illusionismus — Zynismus.
«■ hätte doch zuerst ein klarer Begriff des Gegensatzes und
.. Möglichkeit des Entstehens solcher entwickelt werden
niussen. Dann werden wir wieder zur anthropologischen
Situation zurückgeführt und das Thema „Mensch und Zeit-
,lcnkeit" ohne eigentliche Tiefe auf etwa zehn Seiten behandelt
. Die beiden letzten Kapitel handeln von der Situation
und dem sittlichen Guten und dem inneren Ethos. Als die
"-•rundwerte des inneren Ethos werden Haltung, Ehre, Dienst-
Darkeit und Herz beschrieben.

Es ist mir recht zweifelhaft, ob aus der Schrift Ergebnisse
von größerer Bedeutung gewonnen werden können. Ein
^nindmangel ist die Unbestimmtheit der Formulierung. Wir
erhalten z.B. die Definition der Ehre: „Ehre haben heißt
' händig sich orientieren und ausrichten nach der erkannten
und erfühlten Ordnung der Werte". Daß diese Begriffsbestimmung
zu weit ist, läßt sich doch leicht einsehen. Verf.
'geht sich aber nun weiter in folgenden Wendungen: „Man
nniß s;c [die Werte] schauen, muß sie fühlen. Ihre Ordnung ist
«■eine logische, ableitbare, sondern eine Ordnung (?) des
Gerzens" (67). Dies Zitat soll zugleich zeigen, daß die
.cJrjft gelegentlich recht populäre Töne anschlägt. So lassen
Sit das Aussetzen des Zeitbewußtseins doch wohl andere
Nationen denken als die Ausbesserung einer Gardinenschnur
, über die man das Verblassen des Abendrotes vergißt
(S. 46 f.). In merkwürdigem Gegensatz dazu steht eine gewisse
Künstlichkeit der Sprache. Zwei Uberschriften als Beispiele
mögen genügen: „Die anthropologische Situation als Kraftort
sittlicher Belange", „Die Einheit des Guten über den
Einzelwerten als Totalforderung der Situation".

Halle/Saale P. Menzer

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Niebuhr, Reinhold: Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen
Deutung der Oeschichte. München: Chr. Kaiser 1947. 178 S. 8*. DM5.40.
— Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung
der Demokratie und eine Kritik Ihrer herkömmlichen Verteidigung.
München: Chr. Kaiser 1947. 123 S. 8V DM4.—.

Der Name Reinhold Niebuhr ist in Deutschland kein
unbekannter mehr. Allerdings hat es dazu der deutschen Katastrophe
des Jahres 1945 bedurft, um uns auf Niebuhr hören
zu lassen; ein Teil seiner Schriften aus dem letzten Jahrzehnt
ist dem deutschen Publikum durch Ubersetzungen heute zugänglich
, nachdem ein bekannter deutscher theologischer Verlag
im Jahre 1937 einen Vorschlag des Verf.s dieser Besprechung
, eine Ubersetzung von Niebuhrs An Interpretation
of Christian Ethics herauszubringen, mit der stolzen Bemerkung
abgelehnt hatte, daß doch wohl die deutsche Theologie nicht
viel von Amerika lernen könne! — Ohne Frage ist Niebuhr
zunächst nur aus seiner amerikanischen Situation heraus zu
verstehen. Er hat mit dem Liberalismus des social gospel
ebenso zu kämpfen wie mit dem Fundamentalismus. Dabei
ist Niebuhr aber nicht ein unbefriedigter Liberaler geblieben
wie etwa Fosdick, noch auch Barthianer geworden, und es
ist die Bedeutung seiner Theologie, daß sie, obgleich von Einflüssen
von Emil Brunner und Paul Tillich genährt, weder
eine bloße Abzweigung der deutschen dialektischen Theologie
noch eine reine Rekonstruktion der liberalen Theologie ist.
Niebuhr hat seine originellsten Leistungen auf dem Gebiet des
'sozialethischen Denkens. Dort stößt er auf ein Problem, das
ihn unmittelbar in das Herz der Theologie führt: auf die Frage
nach dem Sinn der Geschichte und dem Verhältnis von Zeit
und Ewigkeit. Dabei fallen für ihn Transzendenz und Immanenz
weder ganz auseinander noch ganz zusammen, sondern
„das Transzendente steht in organischer Verbindung mit dem
Historischen, so daß keine Spannung zwischen beiden dem
Historischen seine Bedeutung nehmen kann" (Interpretation
of Christian Ethics, S. 9). Damit ist Niebuhrs Standpunkt
nach beiden Seiten hin gekennzeichnet: er lehnt einerseits die
liberal-amerikanische Synthese zwischen christlichem Glauben
und dem philosophischen Gedanken der Immanenz, wie er sich
in Evolutionimus, Meliorismus usw. ausdrückt, ebenso ab wie
eine Restaurierung der Offenbarungstheologie, in der die Beziehung
zwischen Zeit und Ewigkeit bedeutungslos wird. Das
ist ohne Frage die ökumenische Bedeutung Niebuhrs, daß
seine Theologie der Tatsache der Inkarnation gerecht zu werden
sucht, aber immer zugleich aktuell und für die Gegenwart
relevant ist. Mit Recht stellt der Schwede George Hammar
in seiner Dissertation Christian Realism in Contemporary
American Theology (Uppsala 1940) fest, daß Niebuhrs theologische
Position oft schwer zu fassen sei. „Eine gewisse Un-
entschiedenheit und Undeutlichkeit machen Niebuhrs theologische
Position schwer faßbar. Zeitweise wechselt sie die
Farbe wie ein Chamäleon. Der Reichtum seiner Gedanken
führt manchmal zu einer lockeren Gedankenführung. Restbestände
einer liberalen theologischen Position, die im allgemeinen
überwunden ist, können auch wiederauftauchen . . .
Niebuhr überwindet diese Unbedachtsamkeit in „Jenseits der
Tragödie" (a. a. O., S. 251).

Damit ist die sachliche und biographische Stellung dieses
Buches gut getroffen: es ist Ausdruck der theologischen Vertiefung
, die bei Niebuhr am Ende der dreißiger Jahre einsetzt
und in seinen Gifford-Lectures von I938-io39 (Human Na-
ture and Human Destiny) ihre vorläufige Vollendung findet.

Die 15 Essays in „Jenseits der Tragödie" waren zuerst Predigten, die in
Universitäts- und College-Oottesdiensten gehalten wurden. In Ihrer vorliegenden
Form sind sie kaum mehr als Predigten zu betrachten, sondern theologische
Meditationen, die viel geschichtliches und philosophisches Wissen voraussetzen
, dagegen auf die der Predigt eigentümliche persönliche Ansprache
verzichten. Im Titel drückt Niebuhr sein Christentumsverständnis aus: christlicher
Glaube überwindet das höchste natürliche Selbstverständnis des Menschen
, nämlich das tragische, Indem das Kreuz nicht verstanden wird als
tragisches Scheltern und als „Enthüllung des Lebens als Frage- und Antwortspiel
seiner selbst" (104), sondern als Sieg in der Niederlage. „Die christliche
Schau der Oeschichte ist tragisch insofern, als sie auch an den höchsten