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Ausgabe:

1949 Nr. 6

Spalte:

341-343

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Jeremia 1949

Rezensent:

Herrmann, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 6

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Weder mit Verachtung, noch mit einem Grauen, das sich
wegwendet — mit immer tieferer Liebe antwortet Veronika
auf dieses unheimliche Geschehen. Sie hält fest am Verlöbnis
mit Enzio, so unbeirrt, daß sie sogar den Schein der Untreue
an ihrem eigenen Auftrag wagt. Dieser freilich ist ihrer Seele
eingeprägt wie das Angesicht Jesu dem Schweißtuch der
Veronika: wer es auslöschen will, müßte das Tuch selbst verbrennen
. Wem die Treue in den Kern des Wesens drang, der
fürchtet den Schein der Untreue nicht. Enzio will die Bedingung
, von der die Kirche seine Ehe mit Veronika abhängig
macht: kirchliche Trauung und christliche Erziehung der Kinder
, nicht zugestehen — ja, aus seinem Wahn heraus kann er
es nicht. „Ich kann den Segen deiner Kirche nicht empfangen,
ohne mich ihr zu beugen, und ich kann ihr meine Kinder nicht
ausliefern, ohne ihr die Zukunft auszuliefern . . . Hier ist unweigerlich
die Grenze meiner Liebe." Da Enzio seine Liebe
so mit Grenzen umschließt, tut Veronika den Schritt über die
Grenze zu ihm hinüber: sie will auf die kirchliche Trauung
verzichten, und sie wird in ihrer Absicht, worin der Gehorsam
der anima christiana wahrlich sich selbst übersteigt,
durch einen Brief bestärkt, den ihr alter Pater aus Rom
ihr schreibt. In dem Brief — er ist das Kernstück dieser
kühnen und tiefen Dichtung — wird unterschieden zwischen
einer natürlichen Haltung, die Kampf gegen Kampf setzt, und
einer übernatürlichen, die das Unterliegen als den geheimnisvollen
Weg zum Siege in ihren Willen hereinnimmt.

„Ist denn Unterliegen eine christliche Gefahr? Vergessen wir doch
nicht, daß Christus erst jenseits des Todes und des Grabes siegte, daß gerade
diese der Preis seines Triumphes waren. Wer will den überwinden, dessen
s'eg die Niederlage voraussetzt? Darum lassen Sie sich in Ihrem Entschluß
nicht beirren: halten Sie dem Ungläubigen die TreueI Verlassen Sie ihn nicht
■ seiner Dunkelheit, verlassen Sie ihn unter keinen Umständen! Teilen Sie
bewußt seine Dunkelheit, und er wird unbewußt Ihr Licht teilen. Wenn Sie,
die Sie Gott lieben, bei ihm bleiben, so bleibt eben die Liebe zu Gott bei ihm —
selen Sie durch Ihre Gottesliebe seine letzte Verbindung zu Gottl"

Daß eine solche Haltung Widerspruch finden muß von
Seiten der Kirche — das wird vorausgesehen und in demütiger
Beugung anerkannt. Ich weiß nicht, ob man als evangelischer
Christ sich überhaupt äußern kann zu diesem Kernproblem
eines katholischen Romans unserer Zeit; denn als die Erben
gefährlicher Freiheit wird man uns von vornherein im Verdacht
haben, daß die Geheimnisse des Gehorsams uns ein unzugängliches
Licht seien. Ich möchte also, was ich zu sagen habe,
nur in Gestalt einer Frage aussprechen. Kann nicht einer
Seele etwas auferlegt sein, über Menschenkraft, über alle
Schutzmauern des „Heerlagers der Gläubigen" hinaus? Pro-
tuberanz einer Sonne, in die eisige Kälte des Weltraums sich
hinauswerfend, um ihn zu erwärmen ? — Mir scheint, das ist
^s, was hier geschieht. Kein Vorbild, keine Forderung an alle,
sondern eine äußerste Möglichkeit will sich hier darstellen.
u"d indem wir die Zeit und ihre tiefe, bis in die Wurzeln
greifende Gefährdung bedenken, mag uns wohl der Gedanke
anrühren, ob nicht in der Geschichte des Christentums die

Stunde gekommen sein könnte, wo die äußerste Möglichkeit
zu der äußersten Notwendigkeit wird.

Der Roman, der dieses Wagnis schildert, schildert auch
den vollen Schrecken der Gefahr. Was eigentlich das Sakrament
ist und was einer Seele genommen wird, die seiner entbehren
muß, das könnten Gläubige wie Ungläubige an dem
Erlebnis dieser Veronika erkennen, die nach ihrem Entschluß
zu einer Ehe ohne kirchliche Segnung sich selber, als einer
mit Enzio zusammen Ausgestoßenen, das Abendmahl versagt:

„Es war jetzt, als könne alles widerstandslos in mich eindringen. Ich
spürte, wie die Abgrenzungen meiner Person mehr und mehr hinfällig wurden.
Uberall in meinen inneren Räumen gab es Breschen, wo nichts mehr von mir
standhielt. Alles schien nur noch erfüllt und überspült von dem lautlosen
Strömen aufgelöster Wesenheiten."

Man kann im Zweifel sein, ob die künstlerische Aufgabe
, die mit dieser Themenstellung gegeben ist, hier ganz bewältigt
wurde; es gibt ja nichts Schwereres, als das Eingreifen
und Übergreifen der geistlichen auf die Menschenwirklichkeit
deutlich zu machen, ohne daß die letztere, indem sie transparent
wird, etwas von ihrer festen, dichten Glaubwürdigkeit
einbüßt. Die biblischen Berichte, in denen jeder Zug die unmittelbare
Zeugenschaft verrät, bleiben darin dem Dichter
das unerreichte Vorbild. Es scheint mir, daß den meisten
Figuren im „Kranz der Engel" etwas Gedachtes anhängt;
man sieht und spürt sie nicht sehr stark, man spürt mehr das,
was mit ihnen waltet. Aber Veronika selbst steht vor uns
in unvergeßbar leuchtendem Umriß, und die Visionen ihrer
Traumwanderung durch das „Land ohne Gnade", durch die
„Welt ohne Gnade" — wiederaufnehmend, was schon die kindliche
Veronika einst bei ihrer Wanderung mit Enzio durch
das nächtliche Rom erlebt hatte, nun aber durchklungen von
einem noch schwermütigeren Rhythmus der Hoffnungslosigkeit
— gehören zum Größten, was diese große Dichterin geschrieben
hat.

Enzios Wille, gewaltsam übersteigert, will sich nicht loslassen
und fügen, er ist bereit, über Leichen zu gehen und
verschuldet sich immer tiefer an Dingen und Menschen und
Seelen. Da aber Veronika erkrankt und dem Tode nahe
kommt, da holt er ihr doch den Priester; an der Schwere ihrer
Erkrankung erst erkennt er die Schwere des Opfers, das ihre
Liebe ihm bringen wollte, und in der Angst um ihr Leben
gesteht er das vorher Verweigerte zu, die kirchliche Segnung
der Ehe. — Man könnte einwenden, das sei eine allzu milde,
eine Märchenlösung. Aber dieser Roman meint und zeigt, daß
der zu jedem Opfer bereiten Liebe geholfen werde aus der
Gnade, die das Wagnis überholt und die der Liebe dort
Früchte schenkt, wo sie sich ins Leere gesät zu haben scheint.

In dem Werk der Dichterin als Ganzem bezeugt sich ein
Impuls aus dem Urquell unseres Glaubens her, und das ist es,
was sie für uns alle gleich wichtig macht. Den evangelischen
Lesern möchte man sagen: blickt in ihr Gewissen, ihr werdet
sie jeder Uberzeugungstreue fähig sehen; und den katholischen:
prüft ihren Gehorsam, ihr werdet sie demütig finden.

ALTES TESTAMENT

Rudolph, Wilhelm: Jeremla. Tübingen: J. C. B.Mohr 1947. XXII, 282 S.

gr. 8» m Handbuch zum Alten Testament, hrsg. von Otto Eißfeldt. I. Reihe

B<1. 12. DM 12.50; geb. DM 14.30.
1 . In der dem neuen Kommentar vorausgeschickten Ein-

itung nimmt nach einer kurzen Darstellung des Lebens, des
Wirkens und der Theologie Jeremias die Zusammenfassung
jf* Rudolphs Anschauungen vom Jeremiabuch den meisten

j Was zunächst die Quellen des Buches anlangt, so ist die
Hauptsache, daß Rudolph im Gegensatz zu der in allen
eueren Kommentaren zu Jeremia und den Einleitungen zum
SM vertretenen Anschauungen von zwei Hauptquellen (die
Worte Jeremias und die Erzählung Baruchs) der von Duhm
•gebahnten Annahme Mowinckels zustimmt, der noch eine
ntte Quelle annimmt. Danach treten neben die Worte Jeremias
nicht nur jene Erzählungen über Jeremia, die erweislich
Sfl?*' IIand. u»d zwar auf die des Baruch zurückgehen,
v lc"t eine Biographie, sondern eine Schilderung der Leiden
Dr 1VtTfolgllI1Ken darstellend, denen Jeremia durch seinen
* ophetischen Beruf ausgesetzt war, beginnend mit dem Re-
p,crungsantritt Jojakims und endigend mit der erzwungenen
(11 1 aus c*er IIl"imat) sondern als eine dritte Hauptquelle
nach Mowinckel) Reden Jeremias in deuteronomischer Bertling
, Prosa, in einem stets gleichbleibenden, fast monotonen
Stil, der ab und zu an den Stil Baruchs anklingt, sich
aber vor allem an die deuteronomische Ausdrucksweise anlehnt
, immer das gleiche Thema behandelnd. Hierzu gehört:
7, 1—8, 3; 11, 1—14 (17); 16, 1—13 (18); 17, 19—27; 18. 1 bis
12; 21, 1—10; 22, 1—5; 25, 1—14; 34, 8—22; 35. Sie sind es,
die dem Jeremia den Ruf eines matten und langatmigen Redners
eingetragen haben. Aber sie stammen in dieser Form
nicht von Jeremia, sondern sind durch eine Bearbeitung von
deuteronomischer Hand hindurchgegangen, sind jedoch
andererseits auch keine freien Schöpfungen, sondern fußen
auf echten Aussagen Jeremias. „Wir haben hier offenbar eine
Arbeit der exilischen Deuterouomiker vor uns; wie die Geschichtsurkunden
Israels im Exil von ihrer Hand ihre entscheidende
Gestalt bekamen, so haben wir hier ein Beispiel,
wie sie die prophetische Predigt der Erhaltung der religiösen
Eigenart der Exilsgemeinde dienstbar machten. Das Volk
mußte begreifen, daß das Elend des Exils selbstverschuldet
war, und mußte daraus für die Zukunft lernen. Die vorliegenden
Abschnitte sind allem nach Proben des Vortrags in der
exilischen Synagoge. Sie haben in manchen Stücken der
anderen Quellen ihre Parallelen, in der Hauptsache aber
liegen Worte oder Selbstberichte Jeremias zugrunde, die uns
anderweitig nicht bekannt sind."

Für die Bearbeitung des Textes konnte Rudolph auf der
von ihm hergestellten Ausgabe des Textes in Kittels Biblia
Hebraica fußen; daß er sich aber, wie er ausdrücklich bemerkt
, an diese nicht durchaus gebunden gefühlt hat, ist