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Ausgabe:

1949 Nr. 6

Spalte:

333-342

Autor/Hrsg.:

Heiseler, Bernt

Titel/Untertitel:

Gertrud von le Fort 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 6

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Rechenschaftsablegung vor Gott. Das bedeutet, sich unter das
Gericht Gottes zu stellen.

Diese Buße wird uns verkündigt durch Golgatha, durch
den Anblick des Leidens und des Todes, des Kreuzes und des
Gekreuzigten, der hierbei in den Gesichtskreis unseres Geistes
kommt.

Wir können die Akropolis mit einem ganz ungebrochenen
Sinne anblicken, wir können uns über deren Schönheitsvisionen
freuen und dadurch vielleicht die Erhöhung unseres
eigenen Lebenswertes fühlen und dabei in unserem Innersten
ganz unverändert bleiben. Zu Golgatha können wir uns nicht
so verhalten, wenn wir ernst und wahrhaft sein wollen. Wenn
wir Golgatha ernst und wahrhaftig erleben, müssen wir uns entweder
davon abwenden und unser Herz verhärten, oder wir
müssen vor diesem Anblick innerlich zerbrechen, Buße tun
und unsere Sünde vor Gott bekennen.

Die instinktmäßige Angst vor Golgatha ist nicht nur und
nicht hauptsächlich eine Angst vor dem Anblick des Leidens
und Todes. Wir fühlen nicht dieselbe Angst, wenn wir an die
schauderhaften Schilderungen der hellenischen Tragödien
denken. Diese Angst und Abneigung ist die Flucht unseres
Herzens vor einer ernsten Buße. Diese Flucht vor Golgatha
ist wohl die tiefste Ursache der europäischen Kulturkrise und
des jetzigen Zustandes in der Welt. Die ersten Menschen versteckten
sich nach der Genesis vor dem Angesicht Gottes
unter den Bäumen im Garten. Symbolisch können wir sagen,
daß die modernen Kulturvölker eine Deckung in der Akropolis
vor dem Bußrufe Golgathas gesucht haben. Man suchte das
Leben auf dem in Hellas aufgebrochenen Grunde zu bauen.
Aber das Herz des Menschen sehnt sich nach wahrem Leben.
Das kann man nicht in den Ruinen der Akropolis finden.
Piaton konnte es nicht geben, er hatte nur von dem Baume der
Erkenntnis gegessen. Die farblose und formlose Welt der
Ideen, die Piaton in seinem Erosflug erreichte, war leer und
Jeblos. Die moderne Lebensphilosophie hat ein radikal ab-
'ehnendes Verhältnis zu dem hellenischen Intellektualismus
genommen. Nietzsche ist nicht der einzige unter den bedeutenden
modernen Denkern, für die Piaton nicht ein ehrwürdiger
Meister, sondern Jin Irrlehrer gewesen ist. Auch
Klages hat Piaton streng gerichtet.

Die Äußerung Wilamowitz-Möllcndorffs, daß Jesus von
dem Baume des Lebens gegessen hat, ist zu schwach, das
Wesen und die Bedeutung des Heilands zu beschreiben. Jesus
■* selbst der Baum des Lebens. Wir können auch mit Luther
"•Ken, daß das Kreuz auf Golgatha der Baum des Lebens ist.
Wir hören von Golgatha nicht nur die Worte: „Tut Buße."
~as Kreuz auf Golgatha verkündet uns wie Jesus selbst: „Tut
«uße und glaubet an das Evangelium." Paulus sprach in
Athen nicht nur von der Buße, sondern auch vom Glauben,
Welchen Gott gibt. Der Glaube ist nicht eine leere Vermutung
oder ein lebloses Sich-Stützen auf Dogmen, sondern eine Gabe
Rottes durch das Evangelium, Leben aus Gottes ewigem
Leben. Wilamowitz-Möllendorff („Piaton"', I. Bd. S. 386,
Anni über Eros und Agape) beschreibt klar den Unterschied
?wiscken dem platonischen Eros und der Agape, die Paulus
"n 13- Kapitel des 1. Korintherbriefes preist. Was für Piaton
Mythus ist — sagt er —, ist für Paulus Wirklichkeit im Glauben.
Man kann diesen Unterschied nicht klarer charakterisieren,
"er platonische Eros ist ein Mythus, ein Symbol der religiös-
Pnilosophischen Idee. Agape im Neuen Testament ist Wirk-
»chkeit im Glauben, eine neue Lebenswirklichkeit, die aus dem
Glauben an das Evangelium geboren wird und die besteht,

sofern der Glaube besteht, und ist eine lebendige Wirklichkeit,
sofern der Glaube lebendig ist. Diese neue Lebenswirklichkeit
ist vor allem ein neues Verhältnis zu Gott, ein Verhältnis
des Friedens und der Liebe. Das Evangelium ist Verkündigung
der Sündenvergebung, die uns ein Lebensverhältnis mit Gott
bietet. Dies allein gibt dem Herzen die Befriedung, die der
Mensch anderswo umsonst sucht.

Die neue Lebenswirklichkeit, zu der der Glaube führt,
wirkt nicht ein negatives Verhalten zu dieser sichtbaren Welt
und zum irdischen Leben. Der gläubige Christ kann sich über
alles Schöne und Große freuen, auch wenn es außerhalb der
Christenheit entstanden ist, auch über die Kolonnade des
Parthenon, über die Reliefs des Pheidias und über die Ideen
des großen hellenischen Denkens. Er kann sich über all dieses
freuen wie über die erhabene Sternenwelt, über die schönen
Blumen, über die wogenden Kornfelder und über die majestätische
Einsamkeit der Gebirge. Aber in dieser Freude gibt es
keine Vergötterung der Natur und der Werke und Gedanken
der Menschen. Der gläubige Christ kann sich über das alles
freuen, aber er freut sich darüber in Gott, und er soll sich auch
an die Worte des Psalmsängers erinnern: „Freuet euch mit
Zittern". Denn ein lebendiger Glaube hat immer ein Gefühl
von der Allgegenwart des heiligen und gerechten Gottes.

Der größte Mangel in der hellenischen Lebensempfindung
war der Mangel an Bewußtsein der Heiligkeit und auch einer
wirklichen Gerechtigkeit. Der homerischen Götterwelt fehlt
ganz Gerechtigkeit und Heiligkeit. Der Glaube an solche
Götter konnte nicht veredelnd wirken. Es war ein Beweis für
die Entwicklung des ethischen Bewußtseins, daß die hellenischen
Philosophen die homerischen Mythen verurteilten oder
sie symbolisch zu erklären versuchten. Aber auch später
kamen in der hellenischen Weltanschauung zwei ethisch
schwächende Faktoren vor. Erstens sah man im Fall des Menschen
und in der Übertretung nur ein Unglück und Schicksal,
aber man hatte kein klares Bewußtsein der Schuld. Dies zeigt
sich besonders in der Lebensanschauung der großen Tragödiendichter
. Zweitens sah man das Böse nur in dem Materiellen,
Körperlichen und Sinnlichen. Diese zwei für das griechische
Denken typischen Betrachtungsweisen waren nicht geeignet,
ein ernstes ethisches Streben zu fördern. Wenn das Böse und.
die Übertretung Schicksal sind, kann man sie nicht vermeiden.
Und wenn das Böse in dem Materiellen und Körperlichen liegt,
ist es wesentlich für dieses irdische Leben. Man kann im Phai-
dros sehen, daß Piaton selbst das absolute ethische Ideal angibt
. Wilamowitz-Möllendorff sagt darüber: „Wir werden es
nur schön finden, daß er die himmlischen Richter minder streng
sein läßt, als er es als Gesetzgeber ist. Aber dann kommt in
seinen ganzen Bau ein Riß. Gerechtigkeit kennt kein Verzeihen
." Wilamowitz-Möllendorff hat recht darin, daß die Gerechtigkeit
kein Verzeihen kennt. Die Gerechtigkeit kennt es
nicht ohne Versöhnung. Aber auf Golgatha ist die Versöhnung
geschehen. Diese Versöhnung enthält die Sündenvergebung.
Diese Sündenvergebung ist nicht eine Zustimmung zum Bösen,
sondern der Sieg über das Böse. Sie gibt Kraft zu einem
neuen Leben, denn sie vereint den Menschen mit Gott. Und
mit diesem auf die Versöhnung sich gründenden neuen Gottes-
verhältnis ist auch eine unbedingte Gewißheit über das ewige
Leben verbunden. Piaton hat schön von dem ewigen Leben
gesprochen; Christus gibt uns ein ewiges Leben. Auf der
Akropolis können wir eine Ahnung von einem ewigen Leben
bekommen, auf Golgatha bekommen wir eine volle Gewißheit
davon.

Es ist wohl nötig, ein Wort der Erklärung vorauszu-
:.dicken, wie ich als evangelischer Christ mir den Mut fassen
Konnte, über die große katholische Dichterin Gertrud von le
°rt zu sprechen. — Nun, die Erklärung liegt darin, daß es
's allen, katholischen wie evangelischen Menschen, um die
Wiederentdeckung des Einen Christentums geht, nach den
aiigen verhängnisvollen Zeiträumen, in denen der Strom der
"östlichen Botschaft fast schon wie unterirdisch dahinzu-
•eßen schien. Gertrud von le Fort ist eine von denen, die
as lebendige Wasser wieder gefaßt und uns zum Trinken gegeben
haben. Das Schicksal, das unser Volk und die Mensch-
eit durchleiden mußte, ist ja nicht von heute und gestern,

Gertrud von le Fort

Von Bernt von Heiseler, Vorderleiten/Brannenburg

es hat Ursprünge, die weit zurückliegen. Gertrud von le Fort
hat die ganze Gewalt und Not dieses Schicksals mit wacher
Seele durchgelebt, und die Werke, in denen sie ihr Erlebnis
gestaltet, zeugen von einer dichterischen Kraft ersten Ranges.
Wie stark diese Werke in unsere Zeit hineingreifen, wie
dringend und unmittelbar sie uns angehen, läßt sich nur erkennen
, wenn man sie etwas eingehend betrachtet. Ich will
also den Versuch machen, den Gehalt dieser Bucher der Reihe
nach — in der zeitlichen Folge ihrer Entstehung — darzustellen
und dabei immer zu zeigen, wie sich in ihnen unser Volks-
schicksal und Zeitsqhicksal spiegelt.

') Wiedergabe eines Vortrages, gehalten auf einer Una-Sancta-Tagung,
Instanz 1U47.

Das Werk der Gertrud le Fort beginnt (1923) mit dem
Buch „Hymnen an die Kirche". Ich darf den Prolog zu
diesen Hymnen wörtlich ins Gedächtnis rufen: