Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1949

Spalte:

289-291

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lohmeyer, Ernst

Titel/Untertitel:

Das Vater-unser 1949

Rezensent:

Oepke, Albrecht

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

289

Theologische Literaturzeitung 194g Nr. 5

290

Hauptgruppen Nordindiens ,,die Standard-Textbücher über
Indische Geschichte sich meist ausschweigen". Mit den Yogis,
den Schülern des Gorakhnath, begann diese militante Bewegung
, die sich zunächst gegen die Mohammedaner, bald aber
auch gegen die Hindubrüder richtete. Die nächste, größte und
aggressivste Kampfgruppe bildeten die Sannyäsis (seit 1565).
Auch Visnu-Verehrer (die Bairägis) bewaffneten sich, und kurz
nach Akbars Tode auch die Sikhs. Menschenopfer gehörten
nicht zu den Ungewöhnlichkeiten. Man aß Fleisch, zerstörte
Hunderte von Tempeln und Götterbildern, genoß Opium und
Alkohol, lief nackt (darum ihre Bezeichnung als Nägä; Sanskrit
: nagna) umher und lieferte aufschlußreiche und uns willkommene
Beispiele zu dem angeblich so glanzvollen Kapitel
indischer „Toleranz". Denn Sivaiten zeigten sich als „geschworene
Feinde der Visnu-Verehrer" (S. 8). Zwei sivaitische San-
niyäsis, genannt Cosain (von Goswämi), hatten das Gelübde
abgelegt, täglich zwei visnuitische Asketen zu erschlagen, ehe
sie eine Speise anrührten. Konnten sie das nicht tun, so machten
sie sicli wenigstens zwei „Feinde" aus Lehm und erschlugen
die Feinde in effigiel

Die Pax Britannica führte zum Aussterben der Nagas,
deren letzte Reste in geordnete Militärdienste der Indischen
Staaten traten, so im Jodhpur-Staat bis 1875, und der Jaipur-
Staat unterhielt noch vor ungefähr 20 Jahren eine Truppe von
5500 Nagas, von denen die meisten Dädüpanthis waren.

Dresden Arno Lehmann

NEJJES TESTAMENT

Lohmeyer, Ernst: Das Vater-unser erklärt. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht [1946). 216 S. gr. 8°. DM6.50.

Diese Anzeige steht im Zeichen des Schmerzes um den
uns so jäh zu einem unbekannten Schicksal Entrissenen. Aber
nicht persönliche Empfindung hat hier das Wort. Es gilt, das
eine Lebensarbeit vorläufig abschließende Werk rein sachlich
zu würdigen.

Uber den Gegenstand ist bis in die jüngste Zeit viel geschrieben
worden. Die historischen Zusammenhänge sind, so
möchte man meinen, nahezu erschöpfend geklärt. Wird es

gelingen, über die bisherigen Fragestellungen und Ergebnisse
inaus Neues und Eigenes zu bieten ? Daß der Verf. sich lediglich
als „Buchhalter der Forschung" betätigen wird, ist nach
seinen früheren Arbeiten kaum zu befürchten. Eher wird man
sich erinnern, daß in seinem Herzen neben dem Forscher der
Dichter haust; ob jenem feinsten Spürsinn leihend oder das
sachgebundene Verständnis eigenwillig durchkreuzend, ist
manchmal schwer, und peinvoll, zu entscheiden.

Das Ziel ist klar umrissen: jedes einzelne Wort des Vaterunsers
aus dem Ganzen der evangelischen Botschaft zu interpretieren
, das Gebet als ein breviarium totius evangelii (Ter-
tullian) verständlich zu machen. Dieser Versuch ist wohl noch
lie so umfassend und mit so reichen Mitteln unternommen
Worden. Darin liegt das Neue und Bahnbrechende der Arbeit.
Man kann ihr weithin anstandslos folgen und empfängt starke
Anregungen, auch für die heutige Verkündigung, ohne doch
von der Empfindung je ganz verlassen zu werden, daß „dichterischer
" Eigenwille immer wieder die klare Linie schlichter
Sinnerfassung, auch an entscheidenden Punkten, zu krümmen
droht, was hier freilich nur an einigen Beispielen gezeigt werden
kann.

Die Forschung von den Vätern bis heute wird mit souveräner
Stoffbeherrschung je nach Bedarf und, soweit ich
urteilen kann, zuverlässig herangezogen. Auch die Retrover-
sion der Texte ins Aramäische ist gut fundiert. Die Verwechslung
von höben und hajjäben (S. 175) ist wohl nur ein Augen-
olicksvcrsehen (richtig S. 15). Aber in der Aufspürung der
Rhythmen (Mt. 6, 9—13: fünf Zeilenpaare zu je 2 x 2 Hebungen
; Lk. 11, 2—4: sieben Zeilen zu je sieben Silben) redet,
gelbst wenn Philologen wie Burney, Littmann und Torrcy
Wegweiser waren, vielleicht schon der Dichter. Ein Blick in
das Inhaltsverzeichnis macht stutzen: wieder die aus früheren
Werken des Verf.s bekannte Zahlenarchitektonik, um nicht
Zu sagen: -mystik. Nicht die heilige Siebenzahl, wie man erwarten
möchte, sondern die Zwölfzahl paart sich diesmal mit
der Fünfzahl. Ist diese Einteilung in zwölf Kapitel zu je fünf
Abschnitten von der Sache diktiert oder ist sie Manier ? Wenn
das letztere, so wird man auch der durchgehenden Rhythmisierung
der Texte mit einiger Vorsicht begegnen. Aus der
-■poetischen Struktur" werden nun aber weitreichende Folgerungen
für das Verständnis von Inhalt und Anordnung der
Ritten gezogen. Manchem wird das gekünstelt erscheinen.
Durch die Einkleidung in eine überzüchtete Sprache, die ge-
'egentlich selbst das rein grammatische und logische Verständnis
rätselvoll macht, wird dieser Eindruck nicht gerade
gemindert.

Als ein Meisterstück biblisch-theologischer Erörterung
mutet die Entfaltung der Anrede an. Uberzeugend wird herausgearbeitet
, daß es sich bei der Vaterschaft Gottes im Sinne
Jesu nicht um ein Stück natürlicher Theologie handelt, sondern
um eschatologisches Geschehen im Sohne. Das daraus resultierende
„wir" gibt dem ganzen Gebet Charakter und Zusammenhalt
und begegnet fast auf jeder Seite des Buches.
Wenn von da aus das Vater-unser immer wieder als Zeugnis
für eine in Jesu Verkündigung gegebene geschichtliche und
sachliche Mitte zwischen dem synoptischen und dem johan-
neischen Evangelium gewürdigt wird, so ist das gerade von
dieser Seite kommend bedeutsam. Etwas enttäuscht ist man
dann freilich, wenn in den abschließenden Folgerungen das
Verhältnis von Jüngertum und Gotteskindschaft plötzlich
auch umkehrbar erscheint: weil „wir" die Kinder Gottes
sind, darum sind wir auch die Jünger Jesu, und wenn neben
die richtigen Feststellungen, das Vater-unser sei nicht ein Gebet
für den vereinzelten Menschen und für ein Volk, die
dritte wesentlich fragwürdigere tritt, es sei nicht ein Gebet
für eine Gemeinde oder Kirche, jede Besonderheit eines Glaubens
oder einer Offenbarung, einer geschichtlichen Erwählung
oder einer eschatologischen Verheißung gehe unter in der
gleichen Ungesichertheit des Betens zum Vater. Als ob es
Kirche und Gemeinde nur in institutioneller Verzerrung und
Verhärtung gäbe! Hier brechen liberale Grundvoraussetzungen
, nur zum Schein überwunden, aufs neue wieder durch.
Der Gottesvolkgedanke, obschon öfter gestreift, ist in seiner
vollen neutestamentlichen Tragweite nicht erfaßt.

Die drei ersten Bitten werden in ihrer engen Zusammengehörigkeit
und ihrer Abtönung gegeneinander fein und
wesentlich richtig analysiert. Besonders die Erörterung der
dritten ist auch philologisch ein Kabinettstück. Mit der
vierten beginnen die Probleme. Für imoiaioe wird die etymologische
und semasiologische Entscheidung ausgeschaltet.
„Hintergründig" faßt bei Mt., während Lk. einfach an den
gewöhnlichen Tagcslauf denkt, das sonst ungebräuchliche (?)
Wort Gegenwart und Zukunft zusammen. Das tägliche Essen
und Trinken der Jünger mit dem Meister spendet in aller
Kärglichkeit des Tages die Fülle eschatologischer Gemeinschaft
. Das „heutige" Brot, das Stück kärglichen Gerstenbrotes
, das heute den Hunger stillt, ist zugleich das „künftige"
Brot der neuen Welt. So verstanden ist die Brotbitte Herz-
und Wendestück des ganzen Gebets. Alles schwingt spiegelbildlich
um dies Zentrum. Die Sache Gottes, zunächst in
voller Objektivität vorgestellt, enthüllt sich nun nach ihrer
Verbundenheit mit der Jüngerexistenz. Die fünfte Bitte entspricht
der dritten, die sechste der zweiten und die siebente
der ersten. Das Stilgefühl (des Dichters ?) ist befriedigt. Die
Unterscheidung von debita ex contracto und debita ex delicto
in Anwendung auf die fünfte Bitte (S. 117) wird wohl den
meisten Lesern ebenso unverständlich bleiben wie dem Rezensenten
. Daß die dfed^/nara aus dem gesetzten Grundverhältnis
zwischen Gott und Menschen erwachsen, ist zweifellos
richtig. Aber die Bitte geht nun eben nicht dahin, von den
Verpflichtungen freizuwerden — ein unmöglicher Gedanke —,
sondern dahin, daß das aus deren Nichteinlösung entstandene,
aber selbstverständlich auch debita ex delicto einschließende
Hindernis der Gottesgemeinschaft aus dem Wege geräumt
werde. Ein Blick auf Lk. 7, 41 ff. macht den Sachverhalt ganz
deutlich. Das vielleicht gemeinte Richtige ist, scheint mir,
unter viel Schiefheit verborgen, auch hinsichtlich des Verhältnisses
von göttlicher und menschlicher Vergebung: nicht
um unsere Mächtigkeit, Gottes eschatologisches Werk an
unseren Schuldnern (draußen ?) zu tun, geht es doch, sondern
um die aus der göttlichen Vergebung sich ergebende Pflicht
und Kraft, zu vergeben. Das Gleichnis vom bösen Knecht
tilgt jeden Zweifel. Daß es sich in der sechsten Bitte in keiner
Weise um die Verlockungen des täglichen Lebens, sondern
ausschließlich um die „eschatologische" Versuchung handelt,
ist mir auch nicht sicher. Die persönliche Fassung des „Bösen",
für die siebte Bitte sehr zu erwägen, führt verallgemeinert
zu schweren Widersprüchen (Mt. 5, 39 vgl. mit 1. Pt. 5, 8 f.;
Eph. 6, 11), die durch die ausgleichenden Bemerkungen
S. 151 f. in keiner Weise behoben werden. Kurz: für die vier
letzten Bitten bleiben viele Fragen übrig, weniger für die
Doxologie.

In der lukanischen Form des Vater-unsers findet Verf.
einen anderen Geist: Rückkehr zu vertrauteren jüdischen Anschauungen
, zunehmendes Uberwiegen des Individualismus
und der menschlichen Dinge, Wandlungen der eschatologischen
Anschauung, womit auch der Fortfall der dritten und
siebten Bitte zusammenhängen könnte. Hier ist manches gut,