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Ausgabe:

1949 Nr. 5

Spalte:

279-288

Autor/Hrsg.:

Lendle, Ludwig

Titel/Untertitel:

Medizin und Technik 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 5

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die physikalische Analys'e sogar wie die Profanierung von
etwas Heiligem unangenehm sein. Dann betrachte ich es eben
nicht mit den kühlen Augen des Naturforschers, sondern, ergriffen
von Dankbarkeit über die Fügung meines Lebens, sehe
ich in ihm die Äußerung des ewigen göttlichen Geistes, der
alles lenkt, sehe ich in ihm also ein Wunder.

Man kann sogar sagen, daß die Naturwissenschaft selber
in gewisser Weise auf einem religiösen Glauben beruhe. Denn
Naturwissenschaft ist nur deswegen möglich, weil in der Natur
ein Geist herrscht, welchem der menschliche Geist so angepaßt
ist, daß er die Natur erforschen kann. Jeder Naturforscher
muß also in gewisser Weise ein frommer Mensch sein.
Obwohl er allen seinen Untersuchungen das Kausalitätsprinzip

zugrunde legt und so alles Geistige aus seinem Weltbild auszuschalten
sucht, spürt er doch in dem wunderbar geordneten
Ablauf alles Naturgeschehens den göttlichen Geist. Aber das
Wirken dieses Geistes in der Natur bleibt immer rätselhaft
und geheimnisvoll. Gott verbirgt sich dem Forscher und bleibt
ihm fremd. Niemals kann der Mensch durch seine eigene
Geistesarbeit zu einer Erkenntnis des persönlichen lebendigen
Gottes gelangen, der in der Welt wirkt und der seine Geschöpfe
liebt. In seiner Liebe zu uns hat Gott seinen Sohn Jesus
Christus auf die Erde gesandt. Durch ihn können wir wirklich
zu Gott geführt werden. Dem Menschen, der an ihn
glaubt, wird die Tiefe und die Fülle des göttlichen Geistes
offenbar.

Medizin und Technik

Von Ludwig Lendle, Göttingen

Die Technik bestimmt heute entscheidend die Daseinsbedingungen
des Einzelnen und der Völker. Ihre großartige
Entwicklung hat im vergangenen Jahrhundert mit einem gewaltigen
Wirtschaftsaufschwung die Voraussetzungen für eine
bedeutende Bevölkerungszunahme geschaffen und zugleich
den Lebensstandard der Bevölkerung gegenüber dem vorausgegangenen
Jahrhundert gesteigert. Wir bewundern die gewaltigen
Industrieanlagen, die neuzeitlichen Bauwerke und
Verkehrsmittel und auch die kleinen technischen Hilfsmittel
in Haushalt und Alltagsleben, müssen uns aber auch eingestehen
, daß die Technik für viele Nöte und Mißstände des
modernen Lebens verantwortlich sein kann. Es ist keineswegs
so, daß die Technik nur Werte schafft, und den Menschen befreit
, sie ist auch Ursache der vermehrten Abhängigkeit des
Einzelnen. Sie läßt seine Wünsche bei Erweckung gesteigerter
Bedürfnisse in vermehrtem Maße unerfüllt.

Unsere Betrachtung soll die Wechselbeziehungen von
Medizin und Technik behandeln. Sie mag zeigen, welche
Errungenschaften die moderne Medizin der Technik verdankt
und welche Aufgaben die Technisierung der Welt aber auch
der Medizin stellt. Vielleicht ergibt diese Betrachtung auch
einige Gedanken vom ärztlichen Standpunkt zur sog. „Philosophie
der Technik", die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts
als Thema aufgenommen wurde, als man die doppelte
Natur der technischen Welt tiefer zu erkennen begann, nämlich
ihre gigantisch aufbauende Leistung in sich häufenden Erfindungen
und ihre zerstörende Dämonie, mit der sie den Menschen
aus seinen naturhaften Bindungen riß und in zwei Weltkriegen
alle Kräfte den zerstörenden Mächten der Politik auslieferte
.

Es ist hier nicht möglich, einen Uberblick über alle wichtigen
Deutungen des Wesens der Technik und eine eigene
Wertung etwa vom ärztlichen oder christlichen Standpunkt
zu geben. Die Diskussion mag einzelne Fragen aufgreifen, vielleicht
können später die angedeuteten Gedankenrichtungen
weitergeführt werden. Ich will mich mehr auf eine Einführung
beschränken, indem ich gerade auf dem Gebiet der Medizin
am praktischen Beispiel das Doppelgesicht der technischen
Entwicklung aufzeige.

I. Vom Wesen und der Entwicklung der modernen

Technik

Am Eingang unserer Darstellung müssen wir die Frage
beantworten, was wir unter Technik verstehen wollen. Technik
ist die Summe der vom Menschen auf Grund seiner erworbenen
Kenntnisse der Naturgesetze entwickelten Verfahren zur Beherrschung
der natürlichen Umwelt unter Ausnutzung vorhandener
Rohstoffe und Naturkräfte. Technik ist also die
praktische Auswertung des Wissens für menschliche Zwecke,
die Erfüllung der Aufgabe des Wissens im Sinne des „Positivis-
mus", nämlich der Vorausberechnung (voir pour prevoir),
d. h. Wissen als Macht der Lebenssicherung.

Eine technische Erfindung, die einen neuen Stoff, eine
neue Einrichtung oder auch ein Verfahren betreffen kann, ist
eine spezifisch menschliche Leistung, die im Rahmen des von
der Natur als möglich Gegebenen bleiben muß, die aber das in
der Natur Vorhandene keineswegs nur nachahmt (z. B. als
synthetischer Stoff oder Ersatz). Es handelt sich oft um eine
schöpferische Weiterführung über das hinaus, was die Natur
selbst kennt, aber die Erfindung bleibt im Raum des Naturgesetzlichen
. Die technische Welt unserer Zeit hat mit Mitteln
der Natur und des menschlichen Geistes das Antlitz der Natur
verändert und dem Menschen die Pflicht auferlegt, seine persönlichen
und gesellschaftlichen Daseinsbedingungen diesen
Änderungen anzupassen.

Man hat mit Recht die Frage erhoben, woraus sich diese
umwälzende Entwicklung seit dem vergangenen Jahrhundert
erklärt, da doch in der Tier- und Pflanzenwelt auch eine „Technik
" im Verhalten der lebenden Wesen bekannt ist und da
doch schon die Völker der Antike höchst entwickelte Formen
der Technik besaßen. Ja, man spricht selbst bei den Urvölkern
vorgeschichtlicher Zeiten von einer mehr oder weniger primitiven
Technik.

Die Technik der Tierwelt ist instinktgebunden, starr und
ohne Entwicklung, dabei zum Teil höchst vollendet in der Anpassung
an die natürlichen Aufgaben. Erst der menschliche
Verstand bietet die Möglichkeit, schöpferisch in überlegtem
Handeln und unter Verwertung von Erfahrungen auf neuen
Wegen fortzuschreiten. Auch diese Entwicklung verlief in
großen Zeiträumen ohne Sprünge. Die Auffindung von neuem
Material, wie Bronze, Eisen usw. bot neue Entwicklungsmöglichkeiten
. Der Mythos von Prometheus, der den Menschen das
Feuer brachte, berichtet zugleich auch schon von der Gefahr,
die in einer solchen Gabe liegen kann, wenn sie den Menschen
aus ehrfurchtsvoller Bindung an die Gottheit löst.

Uber Jahrtausende, auch durch die Kulturgeschichte bis
zur Renaissancezeit war die Technik das wichtigste Mittel der
Völker zur Beherrschung der Natur. Der Verstand schuf erfinderisch
neue Werkzeuge und auch Maschinen. Leonardo
träumte von der Möglichkeit des Fliegens. Baco vonVerulaii'
schrieb 1624 eine Utopie „Nova atlantis", in der eine paradiesische
Welt der Technik gepriesen wurde.

Nirgends aber leuchtet der Gedanke auf, daß eine solche
technische Entwicklung das Maß der natürlichen Ordnung
überschreiten könne, den Menschen aus der Bindung an Gott
in selbstmächtiger Haltung lösen würde. Noch für Pascal,
der selbst als Erfinder einer Rechenmaschine, Konstrukteur
einer hydraulischen Presse, sowie als Gründer der ersten Pariser
Omnibusgesellschaft eine ausgesprochen mathematisch-technische
Begabung bewies, war die Technik kein Problem der
menschlichen Not. Die Maschine, der Automat, diente ihm sogar
als Beispiel, um gewisse seelische Verhaltensweisen des
Menschen verständlich zu machen. Freilich war gerade er weit
entfernt davon, den Menschen nur als Maschine zu betrachten,
wie die Philosophie seines großen Landsmannes Descartes es
wenige Jahre vorher inauguriert hatte.

Seit der Befreiung des menschlichen Denkens aus religiösen
Bindungen im Zeitalter der Renaissance und Reformation
hatte die abendländische Wissenschaft einen unerhörten Aufschwung
in der kausalen-mechanistischen Erfassung des Naturgeschehens
und aus diesen Ergebnissen der reinen Forschung
Voraussetzungen gewonnen zur technischen Verwertung
in immer größeren Gebieten des Daseins. Diese Befreiung
des Geistes hatte zugleich aber auch die Grenzen des
Fragbaren und Fragwürdigen so erweitert, daß der Verstand
das Recht beanspruchen konnte, alles Naturgeschehen und
alle Ereignisse im menschlichen Leben zu verstehen und gar
vorauszuberechnen. Dem klassischen Zeitalter der „mathematischen
Philosophie" von 1630—1750 mit Descartes, Pascal
und Leibniz als Haupt Vertretern, folgte die Aufklärung in der
unter Führung der französischen Enzyklopädisten das Interesse
für die Technik einen besonderen Aufschwung nahm.
Diderot hatte besonders klar die technischen Grundlagen
unserer Kultur erkannt. In den Tagen der französischen Revolution
wurde die erste technische Hochschule gegründet. Das
rationalistische Wissenschaftsideal wurde beispielhaft vertreten
von Laplace, dessen „Dämon" eine Intelligenz verkörpern
sollte, die imstande wäre, eine perfekte Welt im Sinne
der Vorausberechnung der Ereignisse rational zu beherrschen.