Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1949 Nr. 5

Spalte:

275-280

Autor/Hrsg.:

Mie, Gustav

Titel/Untertitel:

Naturwissenschaft und religiöser Glaube 1949

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

275

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 5

276

Thielicke wendet sich gegen diese Auffassung. Er ist der
Meinung, daß die Problematik der genannten Schrift Lessings
nicht mit der methodischen Formel von Esoterisch und Exo-
terisch zu lösen sei, daß auch Lessings Reden von Offenbarung
ohne Anführungszeichen, im eigentlichen Sinne zu nehmen
sei. Dann ergeben sich schwerwiegende Komplikationen, die
Thielicke nun in scharfsinnigen Analysen zu lösen versucht.
Es ergibt sich dann als Zentralfrage besonders der schwerwiegende
Widerspruch zwischen den Paragraphen und 77 in
seiner Antithetik, daß einerseits „die Offenbarung dem Men-
schengeschlechte nichts gebe, worauf die menschliche Vernunft
sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde", und
daß andererseits die Offenbarungsreligion auf „nähere und
bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur,
von unseren Verhältnissen zu Gott leiten könne, auf welche
die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen
wäre". Offenbarung also, wie Thielicke sagt, einerseits unter,
andererseits über dem „Wasserspiegel" der Vernunft. Thielicke
löst dann diesen Widerspruch, indem er einen doppelten
Vernunftbegriff bei Lessing herausarbeitet: auf der einen
Seite Vernunft als transzendentales, zeitloses Vermögen im
platonischen Sinne, auf der anderen Seite Vernunft als empirisch
geschichtliche, immer auch verhüllte Gestalt, für die
der Vorgang der Offenbarung als tranzendentaler Akt unvermeidlich
ist. „Dieser Dualismus und seine Aufhebung ist das
Zentrum des Lessingschen Denkens" (157). Meint Lessing die
absolute Vernunft, dann ergibt sich der Gegensatz von zufälligen
Geschichtswahrheiten und absoluten Vernunftwahr-
heiten. Dann kann die Wahrheit der christlichen Religion
a priori eingesehen werden, „es ist nicht einzusehen, warum
die christliche Religion itzt nicht ganz ohne die Schrift sollte
bestehen können". Dann wird die Vernunft selbst zum Träger
des Offenbarungsgehalts. Dann werden auch die Offenbarungswahrheiten
der positiven Religion sub spezie dieser
Vernunftwahrheit relativiert. Ist die Vernunft dagegen selbst
ein geschichtliches Faktum als jeweils bestimmte Stufe der geschichtlichen
Entwicklung, dann ist Offenbarung nötig als
Schrittmacher und Wegweiser der Vernunft. Dann ergibt sich
die für Lessing so charakteristische Situation eines Gesamtverhaltens
als Erwartung und Frage, die immer wieder neu
aufbricht und zu dem ewigen Suchen nach Wahrheit führt,
deren Besitz dem Menschen versagt ist. Von diesem Dualismus
des Lessingschen Denkens aus ergibt sich auch die Erhellung
des im krassen Widerspruch zur Religionsphilosophie
des Erziehungsbuches stehenden Jakobi-Gesprächs. Natürlich
ist Lessing nicht in dem Sinne Spinozist gewesen, daß er den
Pantheismus dieses Philosophen ganz übernommen hätte.
Aber wenn er von absoluter Vernunft redet, so weist dieser
Begriff auf den immanenten Gottesgedanken Spinozas hin,
während die historisch begrenzte Vernunft die theistische Einstellung
von Leibniz zur Voraussetzung hat. Im übrigen bemerkt
Thielicke mit Recht, daß der Aufklärer Lessing uns in
diesem Gespräch vor ein letztes Geheimnis führt, über den
er nur in Ironie, „Witzelei" und „Cabbalisterey" zu reden vermochte
und das zugleich die gespannte Dynamik seiner Denkbewegung
kennzeichnet.

Als Resultat seiner Untersuchung stellt Thielicke fest,
daß bei Lessing Offenbarung und Vernunft „aufeinander hin-
geschaffen und zu einem unlöslichen Sinnzusammenhang zusammengefügt
" sind. Werden beide voneinander isoliert, so
bleiben sie prinzipiell auf der gleichen Stufe der Ungewißheit.
Nur von der Vernunft her kann der Offenbarungsgehalt einsichtig
gemacht werden. Nur die Offenbarung vermittelt der
Vernunft Einsichten, auf die sie sich selbst überlassen, nie
kommen würde. Die letzte Wahrheit bleibt dem Menschen
aber auch dann noch verschlossen, da alle Wahrheit historisch
bedingt ist, und daher auch alle Religionen als historische Erscheinungen
nicht absolut sein können. Da, wo Lessing über
das geschichtsphilosophische Denken der Aufklärung hinausgeht
, das die Geschichte zur zeitlosen Darstellung zeitloser
Ideen degradierte, verharrt er in der Ehrfurcht vor der Irrationalität
der konkreten Geschichte, die allein durch den Eingriff
der „aktuellen Transzendenz" mit ihrer zielsicheren Führung
der menschlichen Ratio frei wird zu dem Telos, das diese
Vernunft sich selbst überlassen nie erreichen würde. So mündet
Lessings „wahre Ansicht" aus in eine Frage, in eine „höchst
ungeklärte Frage", die auch die aufgeklärte Vernunft in ihre
unbedingte Grenze weist.

Es besteht immer für den Systematiker die Gefahr, seine
eigene Systematik in den historischen Gegenstand hineinzutragen
, dem er sich zuwendet, auch wenn er sich ausdrücklich
wie Thielicke die Aufgabe stellt, nur „hinzuhören, wie es wirklich
gewesen ist". Bei Lessing ist diese Gefahr um so größer,
weil er zu den Denkern gehört, die der Meinung sind, die Wahrheit
nicht ohne Maske sagen zu können. Wie die Grenzen
zwischen „Exoterisch" und „Esoterisch" bei Lessing verlaufen
, wird historisch nie ganz feststellbar sein. Aber selbst
wenn man den Nachweis für erbracht sieht, daß Thielicke den
Gedanken der autonomen Vernunft bei Lessing zu wenig betont
hat zugunsten der Offenbarung, daß er das Verhältnis
von Offenbarung und Geschichte mehr in die Richtung seiner
eigenen Geschichtsschau gedeutet hat, muß man doch zu dem
Ergebnis kommen, daß auch er die historische Lessingforschung
durch seine Studie ungemein befruchtet hat, indem
er die Problematik, um die Lessings Denken kreiste, bis in
ihre letzte Tiefe aufwühlte und so auch den Historiker vor
Fragen stellte, die ihm bisher nicht gekommen sind. Darüber
hinaus liegt die besondere Bedeutung der Studie darin, dem
modernen — und nicht nur dem theologischen — Denken gezeigt
zu haben, daß es weder allein mit Vernunft noch allein
mit Offenbarung getan ist, daß beide Vorgänge doch irgendwie
aufeinander hingeordnet sind, und daß aus dieser Hinordnung
die Haltung des stolzen Besitzes zerbrochen wird in der
Erkenntnis, daß wir das Ewige nur haben in der Verhüllung
der Geschichte. Die nicht aufhellbare Spannung von Offenbarung
und Vernunft zeitigt in der Tat als letzte Konsequenz
die nicht ruhende Frage, da nun einmal der echte Ring verloren
ging, jene Frage, mit der der „Meister der Kabba-
listerey" bereits auf die unbedingte Grenze hindeutet, die
dann Kant in seiner Vernunftkritik unverlierbar herausarbeitete
.

DAS GESPRACH: NATURWISSENSCHAFT UND RELIGIÖSER GLAUBE

Naturwissenschaft und religiöser Glaube

Von Gustav Mie, Freiburg i. Br.

Dem oberflächlichen Betrachter kann es leicht so scheinen,
als ob Naturwissenschaft und religiöser Glaube einander
widersprechen müßten. Denn die Naturwissenschaft geht von
der Voraussetzung aus, daß es keine Wunder gibt, und alle
mit ihr erreichten Erfolge scheinen in der Tat die Wahrheit
dieser Voraussetzung zu bestätigen. Religion dagegen ist ohne
Glauben an Wunder nicht möglich, denn sie gründet sich ja
auf den Glauben, daß Gott alles einzelne, was geschieht,
selber lenkt. Ein Ereignis, in welchem man das Walten Gottes
besonders eindringlich spürt, nennt man ein „Wunder". Es
ist daher für einen Christen ganz unmöglich, den Glauben an
Wunder aufzugeben.

Um deutlich zu erkennen, weswegen die Naturwissenschaft
die Möglichkeit von Wundern leugnen muß, wollen wir
zunächst das Wesen der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode
genauer betrachten. Wir können sagen: Die Erkenntnisweise
der Naturwissenschaft besteht darin, daß sie in allem,
was wir erkennen wollen, Vorgänge erblickt, die nach Raum
und Zeit geordnet ablaufen und von dem erkennenden Subjekt
völlig unabhängig sind, Vorgänge in einer völlig objektiven
, unpersönlichen, Raum und Zeit erfüllenden Welt.

Die Begriffe, mit denen die Naturwissenschaft, insbesondere
die grundlegende Wissenschaft, welche wir als „Physik
" bezeichnen, operiert, werden dem Ziele, die zu erkennenden
Dinge von unserem Bewußtsein völlig unabhängig zu
machen, dadurch angepaßt, daß aus ihnen alles unmittelbar
Erlebte so gut wie völlig entfernt wird. Jeder physikalische
Begriff wird durch eine endliche Anzahl von Merkmalen starr
und unveränderlich festgelegt, und wir können nun mit ihm
arbeiten, ohne immer wieder auf unser Erlebnis zurückzugreifen
. Im Gegensatz zu den lebendigen Begriffen, deren
Sinn nur immer wieder durch persönliches Erleben erfaßbar
ist, sind die in der Physik verwendeten Begriffe unlebendig-
Um auszudrücken, daß sie durch eine endliche Anzahl vo»
Merkmalen starr festgelegt sind, pflege ich sie als „definite"
Begriffe zu bezeichnen. Es gibt eine eigene Wissenschaft der
reinen definiten Begriffe, sozusagen eine Logik der definiten
Begriffe, das ist die Mathematik. Eine Physik ohne Mathe-