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Ausgabe:

1949 Nr. 5

Spalte:

273-276

Autor/Hrsg.:

Schultz, Werner

Titel/Untertitel:

Vernunft und Offenbarung 1949

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273

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 5

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bekommen (2. Kor. 5, 1). Der sog. „Theandrismus"1, der von
diesen Spekulationen in der ostkirchlichen Theologie von Ori-
genes bis zu Vladimir Solovjev und Nikolaj Berdjaev und in
der ostkirchlichen Frömmigkeit von Euagrios über die Ikono-
dulen und Hesychasten bis zu den russischen Starzen lebt, ist
auch ein Raub am Sevtepoe äv9Qomoe, von dem es ausdrücklich
heißt: 6 Sevie^oe tiv&gumoe 6 xvgws ovyavov (i. Kor.
I5>47. nach dein Koinetext) I

') Ein frühes Zeugnis dieses „Theandrismus" bei Euagrios (II, 56): xal
fi6vot tivd'fiuiTios rov tfeov rov rije yveuaeon; ItVxYqmnov yivcboxtiv Svvarat
(Bousset, a. a. O., S. 321). — Über den Theandrismus — der übrigens auch den
letzten theologischen Hintergrund von Dostojewskijs berühmter Puskinrede
ausmacht — bei Berdjaev schreibt Karl Pfleger in seinem geistreichen Buch:
Geister, die um Christus ringen (Heidelberg 1940) die zusammenfassenden
Worte: „Man kann nicht behaupten, daß Im Evangelium und auch nicht
in dem seither in Erscheinung getretenen Christentum die ganze Wahrheit
über den Menschen und die Welt erschlossen worden ist. Die christliche Offenbarung
birgt in sich die denkbar vollkommenste Anthropologie, aber diese ist
bis jetzt eben noch nicht erschlossen, noch nicht ins Licht des christlichen
Bewußtsein gestellt worden. Die griechischen Kirchenväter haben mit der
Theosislehre die Erschließung der wahren Anthropologie nur angefangen, doch
bedrückt, allzu sehr bedrückt von dem Sündenerlebnis, von dem negativen
Aspekt des Et lösungsprozesses haben sie seine positive Seite, nämlich die Verklärung
und Vergottung der Menschennatur, nicht deutlich genug sehen

7. Im Rahmen dieses Artikels darf ich mich mit diesen
Andeutungen begnügen. Angesichts der bedrängenden Apoka-
lyptik, welche die spezifisch ostkirchliche Schau der Eschato-
logie in der russischen Frömmigkeits- und Geistesgeschichte
ausgelöst hat und wie sie neuerdings geistreich von Hans von
Eckardt1 dargestellt wurde, dürfte eine Kritik ostkirchlicher
Theologie und Frömmigkeit an diesem zentralen theologischen
Thema von großem Nutzen sein.

können. Die Freilegung der eigentlichen christologischen, d. h. gottmenschlichen
Natur, Ist die große Aufgabe der neuen orthodoxen Gnosis" (S. 293).
Vgl. damit Berdjaev, Anthropodizee (Östliches Christentum, Dokumente,
hrsg. v. Ehrenberg-Bubnoff, Bd. II, München MCMXXV, S. 246 ff.).
') Russisches Christentum (München 1947).

Abkürzungen:

EA= Enchiridion Asceticum. Loci SS. Patrum et Scriptorum Ecclesiasticorum
Ad Ascesim Spectantes Quos collegerunt M. J. Rouet de Journel S. J.
et J. Dutilleul S. J. Friburgi Brisgoviae MCMXLVII.

EP= EnchiridionPatristicum Loci SS. Patrum, Doctorum, Scriptorum Ecclesiasticorum
Quos in Usum Scholarum collegit M. J. Rouet de Journel
S. J. Friburgi Brisgoviae MCMXLVII.

ES = Henricus Denziger: Enchiridion Symbolorum Definitionum et Decla-
rationum de Rebus Fidel etMorum. Friburgi Brisgoviae MCMXLVII.

Vernunft und Offenbarung. Zu Lessings Religionsphilosophie1

Von Werner Schultz, Kiel

Es bleibt immerhin beachtlich, daß das uralte Problem
..Vernunft und Offenbarung" von einem Theologen wie Thie-
Ücke erneut aufgerollt wird, nachdem durch den Ansturm der
dialektischen Theologie zunächst der Eindruck entstehen
konnte, daß es im Raum der theologischen Selbstbesinnung
uiit der Vernunft nun endgültig vorbei sei. War aber bereits
innerhalb dieser Theologie die Auseinandersetzung um das
Verhältnis von Vernunft und Offenbarung schon früh wieder
aufgebrochen, wie besonders die Kontroverse zwischen Barth
und Brunner deutlich machte, so mußte das im Jahre 1941
erscheinende Werk von W. Köhler über Ernst Troeltsch jeden
aufmerksamen Leser davon überzeugen, daß in diesem ganzen
Problemzusammenhang noch eine Reihe ungelöster Aufgaben
vorliegen, die auch der heutigen und der kommenden theolo-
ischen Generation erneut gestellt werden. Thielecke selbst
emerkt in dem Vorwort zur 1. Auflage seiner Studie, die
nun unverändert in 2. Auflage erschienen ist, daß sein Ringen
'un eine theologische Deutung der Geschichte ihn vor den
Ernst der Alternative gestellt habe: od geschichtlich gebundene
Offenbarung oder geschichtslose emanzipierte Idee.
Die entscheidende Frage wird von ihm so formuliert: „Sollte
wirklich der Augenblick eintreten können, wo die Zeitlosigkeit
der Idee (etwa der „christlichen" Idee) die geschichtliche Offenbarung
des Christus oder den geschichtsförmigen „Mythus"
des Christus abzulösen vermöchte, wie das im Hegeischen
Idealismus geschieht, wie das — neuerdings — in gefährlichster
Weise in der Theologie Tillichs da ist oder wie es in der letzten
Konsequenz bei M. Heidegger und seinem säkularisierten
^aulinismus vollzogen wird? (VII f.). Wie hat Lessing diese
Frage beantwortet ? War wirklich sein ganzes Reden von
Offenbarung nur eine uneigentlichc Rede, eine exoterische
Verhüllung, hinter der sich die absolute Vernunftgläubigkeit
Lessings verbarg ? Die gesamte historische Lessingforschung
bejaht diese Frage. Im Gegensatz dazu bezeichnet es Thie-
licke als das besondere Anliegen seiner Studie, zu zeigen, daß
Lessings Reden von Offenbarung mehr ist als eine gut getarnte
Verhüllung, daß es „um eine ernsthaftere Wirklichkeit
" geht, daß Lessing also wirklich Offenbarung memt, wo
er von ihr redet, daß er also das Verhältnis von Offenbarung
und Vernunft wirklich als Problem empfunden hat, daß er
trotz seiner Vernunftgläubigkeit der aus der Transzendenz
kommenden Offenbarung im göttlichen Erziehungsplau der
Geschichte eine bestimmte Geltung zuerkannt hat. Hat Thie-
beke diesen Nachweis erbracht ?

Es muß zunächst auffallen, daß Thielicke für seine Beweisführung
von Lessings Schriften im wesentlichen nur „die
Erziehung des Menschengeschlechts" aus dem Jahre 1780
heranzieht, wozu dann noch die in einem Exkurs vorgetragene
demselben Jahr entstammende Analyse des Jakobi-Gesprächs

') T h i e I i c k e, Helmuth, Prof. 1 Vernunft und Offenbarung. Eine Studie

über die Rellglonsphilosophie Lessings. 2.Aufl. Oütersloh: Bertelsmann
[1947]. X, 161 S. 8«. geb. DM 7.50.

hinzutritt. Hätte es nicht nahe gelegen, zum mindesten auch
das in dem Jahr vorher erscheinende Drama „Nathan der
Weise" mit seiner für Lessings theologische Haltung so ungemein
bedeutsamen und aufschlußreichen „Ringparabel" in
den Kreis der Untersuchung mit aufzunehmen, um von hier
aus die an sich schwierige Gedankenführung der nachfolgenden
theologischen Prosaschriften zu erhellen ? Der Süin dieser
Parabel ist deutlich: erst die Gesinnung des Bekennens einer
positiven Religion verleiht dieser Religion einen Wert, den sie
an sich nicht hat, auch nicht dadurch, daß sie sich auf eine
historische Offenbarung beruft. Der Streit um die Wahrheit
der objektiven Religionen ist völlig sinnlos. Und in „tausend,
tausend Jahren" wird es niemanden mehr geben, der um die
Wahrheit der positiven Religionen mehr stritte. Dann wird
es nur noch eine allgemeine Menschheitsreligion geben, eine
Vernunftreligion, deren Kennzeichen Liebe, Sanftmut und
Ergebenheit in Gott sein werden. So sind im „Nathan" die
aufgeklärten Feinde der Religionen in Wahrheit Anhänger
dieser Vernunftreligion, die die Bekenner der positiven Religion
einfach in ihrer Beschränktheit tolerieren. Hinter dem
Ganzen steht die Anschauung: man lasse die Vernunft des
Menschen sich ruhig entfalten ohne die naturwidrige Beeinflussung
durch historische Religionen, sie wird sich dann ganz
von selbst zu dem entfalten, was als göttlicher Kern in ihr liegt
und die Eigentlichkeit menschlichen Daseins 'bedeutet: zu
Güte, Sanftmut und Ergebenheit durch Glauben an die Vorsehung
. Deutlich weist die Deutung Lessings von Vernunft
und Offenbarung auf das Ergebnis des Aufsatzfragments
„über die Entstehung der geoffenbarten Religion" zurück,
wonach die beste positive Religion die sei, welche die wenigsten
Zusätze zur natürlichen Religion enthalte. Der entscheidende
Maßstab aller geoffenbarten Religion ist die Vernunftreligion.

Analysiert man von diesen Voraussetzungen aus die
Schrift über „die Erziehung des Menschengeschlechts", kommt
man notwendig zu dem Ergebnis, das Fittbogen in seinem
grundlegenden Werk „Die Religion Lessings" dahin formuliert
, daß das Wort „Offenbarung" in dieser Schrift Lessings
überall nur in „Anführungszeichen" zu setzen sei als äußere
Akkommodation an die Anhänger der supranaturalen Offenbarung
, daß es also von Lessing nur im exoterischen Sinne
gemeint sei (ebenso auch K. Aner in seiner „Theologie der
Lessingzeit" und seiner Kirchengeschichte IV). Lessing will,
wie er in dem Vorbericht betont, die Religionsgeschichte aus
der Entwicklung der menschlichen Vernunft ableiten. Er will
aufzeigen, daß eine Spaltung zwischen Vernunft- und offenbarungsgemäßer
Religion nur im Wahn der Menschen bestehe,
daß in Wirklichkeit die religiöse Entwicklung der Völker
aus einer einheitlichen Wurzel, eben der Vernunft hervorgehe,
daß daher auch in den niederen Religionsformen bereits etwas
von religiöser Vernunft enthalten sei als die Entwicklung der
autonomen Vernunft zu dem in ferner Zukunft liegenden Ziel
einer einheitlichen Menschheitsreligion, wie sie im „Nathan"
gezeigt wurde.