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Ausgabe:

1949 Nr. 1

Spalte:

7-18

Autor/Hrsg.:

Mulert, Hermann

Titel/Untertitel:

Antinomieen 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 1

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nach dem Wesen dieses Aons, sondern laßt euren Sinn umgewandelt
werden in Ubereinstimmung mit dem neuen Äon."

Es ist nun umittelbar klar, worin der Fehler „der Schwärmer
" besteht. Sie nehmen das gegenwärtige Zeitalter nicht
ganz ernst. Sie tun so, als wäre Gottes Reich schon in Herrlichkeit
gekommen. Das Evangelium, das für das neue Zeitalter
gilt, verwandeln sie in ein Gesetz, das im alten Zeitalter
gelten soll. Sie träumen sich fort von der gegebenen Wirklichkeit
und fälschen damit das Evangelium. Gott hat eine
Ordnung für sein eignes Reich, und eine andere Ordnung für
diese Welt. Man vermischt sie nicht ungestraft.

Aber ebenso klar ist es, worin der Fehler der säkularisierten
Betrachtung liegt. Sie lebt in der gegenwärtigen Welt,
als ob diese die einzige wäre, sie lebt in der gegenwärtigen
Welt, als ob diese die einzige wäre, sie lebt, als ob es keinen
Gott gäbe. Das Christentum wird behandelt, als ob es höchstens
etwas von dem zukünftigen Leben zu sagen hätte; aber
von dem gegenwärtigen Leben ist es ausgeschlossen.

Diesen beiden Anschauungen gegenüber steht Luthers
Wort von den beiden Reichen, von den beiden Regimenten.
Vom Neuen Testament hat er es gelernt, die gegenwärtige
Lage des Christentums realistisch zu betrachten. Mitten in
diesem wirklichen Dasein, in dem wir leben, stellt Gott seine
Forderungen an uns; und Gottes Forderungen an uns sind
nicht vielfältig, sondern immer eine und dieselbe. Letzten
Endes ist es stets die dienende Liebe, die er fordert. Und diese
fordert er, einerlei, ob wir die eine oder die andere Stellung
einnehmen, ob unser Amt zum geistlichen Reich gehört oder
zum weltlichen. Der Verkündiger des Wortes soll in dienender
Liebe das Evangelium zur Erlösung der Menschen vortragen.
Der Fürst soll in dienender Liebe Gerechtigkeit üben, das Land
gegen Angreifer verteidigen und Missetäter strafen. In all seiner
Strenge kann dies Werk sich scheinbar wie der Gegensatz zur
Liebe erweisen. Und doch ist es das Liebeswerk Gottes, da9

der Fürst zum Besten des Volkes ausführt. Wenn der Fürst,
um sein Werk im Äußeren mehr an die christliche Liebe erinnern
zu lassen, Gesetz und Recht unter die Füße treten und
das eigne Land von fremden Eindringlingen unterdrücken ließe,
dann wäre er dem Auftrag, den Gott ihm anvertraut hatte,
untreu, dann wäre er der Liebe untreu.

In der Ausübung der weltlichen Macht gibt es ebenso wie
in jedem anderen Beruf zwei Möglichkeiten: entweder dem
Fürst dieser Welt dienen oder Gott dienen. Das erstere geschieht
, wenn die Macht nur um ihrer selbst willen gebraucht
wird. In der Macht wohnt eine ungeheure Versuchung, eine
Versuchung zur Selbstsucht und Selbstverherrlichung. Deshalb
lautet Luthers Mahnung: „Welcher nun ein christlicher
Fürst sein will, der muß freilich die Meinung ablegen, daß er
herrschen und mit Gewalt fahren wolle. Denn verflucht und
verdammt ist alles Leben, das ihm selbst zu Nvitz und zu gut
gelebt und gesucht wird, verflucht alle Werke, die nicht in der
Liebe gehen. Dann aber gehen sie in der Liebe, wenn sie nicht
auf eigne Lust, Nutzen, Ehre, Gemach und Heil, sondern auf
anderer Nutzen, Ehre und Heil gerichtet sind von ganzem
Herzen."

Bei Luther suchen wir vergebens nach einer durchgeführten
Staatslehre. Aber er hat gegeben, was mehr ist als
dieses. Er hat gezeigt, wie man auf christliche Weise das weltliche
Regiment und seine Aufgaben verstehen soll. In dieser
Zeit, die so erfüllt ist von brutaler Machtgier und Staatsvergötterung
und daneben oft von einer geheuchelten Christlichkeit
in der Staatsauffassung, ist es mehr als sonst notwendig,
daß wir auf die Absicht Gottes mit der weltlichen Macht
aufmerksam sind. Und zu dem Zweck können wir keine
bessere Führung erhalten als diejenige, die uns vom Neuen
Testament gegeben wird und von seinem größten Deuter,
Martin Luther.

Antinomieen

Von Hermann Mulert, Niederbobritzsch

Für die Denker der Aufklärung war Klarheit ein Hauptkennzeichen
der Wahrheit eines Satzes und Deutlichkeit eine
Voraussetzung der Gewißheit. Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
waren ihnen die Idealwissenschaften. Auch die
Ethik sollte nach mathematischer Methode demonstriert werden
. Diese Denkweise herrscht stark auch im Sprachgebrauch.
„Es stimmt" sagen wir oft für „es ist wahr". Unzählige Gläubige
meinen, ihr Glaube sei ihnen deshalb gewiß, weil seine
Sätze unter sich und mit all unseren Erkenntnissen — viele
sagen unbedenklich: mit unseren sonstigen Erkenntnissen —
zusammenstimmen. Urbild oder Vorbild aller Gewißheit ist
vielen, die überhaupt Wissenschaft kennen lernen, die wissenschaftliche
Gewißheit. In der Tat sind die Ubergänge von der
Gewißheit irgendeines Gefühls zu der des Wissens oft fließend.
So ist die Geschichte des Christentums voll von Versuchen,
den Glauben in Wissen zu verwandeln. Die Geschichte der
Dogmen und der Streit um sie sind wesentlich von da her zu
verstehen.

Bei solchem Streben aber wird verkannt, daß in echter
Frömmigkeit neben der Gewißheit immer das Geheimnis steht,
Geheimnis und Klarheit jedoch einander widerstreiten. Durch
Aufklärung oder Erklärung verliert eine Sache, die geheim ist,
diesen ihren bisherigen Charakter. Von klarem Geheimnis zu
reden wird meist sinnlos erscheinen. Gemeint könnte damit
sein, daß ein an sich klarer Sachverhalt doch nur einem engen
Kreise bekannt gegeben werden soll. Etwas Ähnliches mag
man sagen wollen, wenn man von geheimer Klarheit redet.
Vielleicht handelt es sich hier auch nicht darum, daß etwas vor
den Massen geheim gehalten werden soll, sondern daß ein in
sich klarer Zusammenhang vielen noch nicht aufgegangen ist.
Aber an sich bleiben Klarheit und Geheimnis in Spannung.
Und weil ihm Geheimnis unveräußerlich ist, hat der Glaube
oft widerspruchsvoll geredet. Vielleicht war es übertrieben,
wenn Wundt meinte, in der Geschichte der Kirche sei oft das
Mystischste — er wollte offenbar sagen: das Widerspruchsvollste
— zum Siege gekommen. Auch die Dreieinigkeits- und
die Zweinaturcnlehre haben ein rationales Element. Aber noch
abgesehen von allen Verwicklungen, Spannungen, Widersprüchen
, in die der christliche Glaube kam, weil in ihm die
Erlösung als geschichtliche und der Aufblick zum Ewigen untrennbar
verbunden sind — schon im Gottesglauben, und besonders
in einem Gottesglaubeu von stark ethischem Inhalt,
liegen so starke Spannungen, daß das Recht des Namens systematische
Theologie fraglich scheint. Sollte man die Glaubensgedanken
etwa vielmehr als eine Kette von Antinomieen darstellen
?

Die Sache, eine Reihe von Widersprücnen in unserem
Denken, ist immer viel allgemeiner da gewesen, als die Besinnung
darauf. Ernste Menschen haben, seit man der gesetzmäßigen
Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen nachdachte
, die auch in unserem Wollen und Handeln besteht, diese
nie wirklich auszugleichen vermocht mit dem Gefühl unserer
Verantwortlichkeit und Freiheit. Und schon viel früher haben
Fromme nie ihren Glauben an Gottes Allmacht mit dem an
menschliche Verantwortung vor Gott wirklich vereinbar
machen können. Die Gedanken wohnten leicht beieinander
ohne recht darauf zu achten, ob sie sich tatsächlich vertragen
könnten, hätten aber immer wieder hart aufeinander stoßen
müssen, wenn man über ihre Vereinbarkeit nachgedacht hätte.
Wie naiv auch nachdenkliche Fromme von den Dingen redeten,
dafür ist oft als Beispiel Paulus angeführt worden: „Schafft,
daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es,
der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen".
Wenn er es in uns wirkt, dann schafft er unsere Seligkeit oder
Unseligkeit, und dann hat es keinen Sinn zu sagen, wir sollten
sie schaffen. Umgekehrt: können wir das, dann ist nicht er es,
der in uns das Wollen und Vollbringen wirkt. Oder er kann es
doch nur dann sein, wenn man den Standpunkt der Betrachtung
wechselt. Der Hinweis darauf, daß Paulus, hebräisch
denkend, das „denn" nicht so scharf gemeint habe, wie wir
es tun, hilft wenig. Und wenn lange Zeit hindurch viele Christen
neben oder zwischen Gott und Mensch hier den Teufel
stellten, der seinerseits uns hindere, unsere Freiheit recht zu
brauchen, uns verführe, so wird dadurch keine Milderung des
Widerspruchs erzielt, sondern in gewissem Sinne die Sache nur
verwickelter.

Daß wir zwei widerstreitende Sätze dennoch beide festhalten
müßten, hat man oft in die Formel gekleidet: credo
quia absurdum. Aber öfter haben Theologen, weil als Ziel der
Wissenschaft ihnen ein widerspruchsloses System von Erkenntnissen
galt, solche Widersprüche auszugleichen gesucht.
Daß in der zweiten Hälfte des Mittelalters die Lehre vertreten
werden konnte, ein Satz könne in der Theologie wahr
sein, der in der Philosophie falsch sei, diese Lehre von der
doppelten Wahrheit mochte doch den meisten als eine zu verzweifelte
Ausflucht erscheine j Die Neigung, ein folgerich-