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Ausgabe:

1948 Nr. 2

Spalte:

102-103

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Quistorp, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins 1948

Rezensent:

Weber, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 2

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Ethik keineswegs dem christlichen Ethos in seiner ganzen Ausdehnung
wissenschaftlich gerecht zu werden vermag, da sie
einseitige ideologische Motivforschung bleibt. Um ihrem
ganzen Gegenstande gerecht zu werden, muß die theologische
Ethik vielmehr auch Sozialforschung betreiben, und zwar
Sozialanalytik und Sozialmethodik (Zweck und Mittel bzw.
Mittel und Zweck des christlichen sozialpolitischen Handelns
erforschen). So baut Holmström in die theologische Ethik die
christliche Sozialethik ein. Diese christliche Sozialethik ist damit
einerseits ein Stück der theologischen Ethik geworden,
anderseits bleibt sie ein Stück der Sozialwissenschaften überhaupt
, nämlich jenes Stück der Sozialwissenschaften, welches
das christliche Ethos im Gesellschaftsleben erforscht. Dabei
erweist es sich, daß sich die Sozialwissenschaft täuscht, wenn
sie die Zweckuntersuchung als von subjektiver Wertung bedingt
gegen die Methodenforschung als eine Kausalforschung
abhebt; denn beide, sowohl Sozialanalytik als auch Sozial-
methodik, gehen kausal vor, die Sozialanalytik regressiv
(Zweck — Mittel), die Sozialmethodik progressiv (Mittel —
Zweck), also immer: Ursache und Wirkung aufsuchend. (Hingegen
das sozialpolitische Handeln geht teleologisch vor.)
Innerhalb der theologischen Ethik bleiben Sozialanalytik und
Sozialmethodik dadurch theologische Wissenschaften, daß sie
als das Subjekt des sozialen Handelns den christlichen Menschen
, also den Menschen in der Gewalt des Hl. Geistes, in
der Gnade des Herrn, voraussetzen. (Kann wirklich das Objekt
eine Wissenschaft zur theologischen machen ?) Mit großer Eindringlichkeit
zeichnet H. den Unterschied zwischen Wissenschaft
und Praxis, und die wissenschaftlichen Wege, welche
die christliche Sozialethik zu gehen hat — aber auch den praktischen
Gewinn, den eine solche wirklich wissenschaftlich betriebene
christliche Sozialethik für das Handeln abwirft. Eine
formal-wissenschaftliche Untersuchung, welche nicht Normen,
sondern Erkenntnisse zu geben hat, so aber dem moralischen
Leben in seiner Normgebung logische und materialbezogene
Dienste tut.

Holmström ist ein Schüler von AHders Nygren in Lund. Sein Buch entstand
aus 30 Vorlesungen, die er im Sommersemester 1938 als Stipendiatdozent
in Lund hielt. Der nähere Anlaß zu diesen Vorlesungen und zum Buche
wurde der Vorwurf, den man gegen Nygren erhoben hatte, seine Ethik führe
zum ,,sozialethischen Nihilismus". So baut H. die Position Nygrens, Oesinnungsethik
, nämlich Liebesethik, thetisch und kritisch aus. Von anderen
theologischen Ethiken hat er wenig benützen können, da sie meist „normative
Ethik" sein wollen, während H. mit Nygren daran festhält, daß die Ethik nicht
Normen zu geben habe, sondern Forschungsergebnisse, daß also bloß eine
kritische und eine deskriptive Ethik den Namen Wissenschaft verdiene. H. geht
von der Beobachtung aus, daß in der Literatur „Ethik" sowohl eine Wissenschaft
als eine Lebenshaltung bezeichnet. Mit Recht streitet H. dafür, daß
„Ethik" nu r die Wissenschaft, nämlich die Wissenschaft vom sittlichen Leben,
meinen kann, während das sittliche Leben selbst als Ethos, Moral, Sittlichkeit
zu bezeichnen ist. Dem entspricht es dann, daß „Sozialethik" die Wissenschaft
, hingegen „Sozialpolitik" die Praxis meint. Und die wissenschaftliche
Ethik stellt nicht Urteile auf, die auf „gut oder bös" lauten, sondern Urteile
auf „wahr oder falsch". Dabei untersucht die kritische Ethik die Gültigkeit
des Sittlichen überhaupt (sie ist „die transszendentale Deduktion der formalen
Grundkategorien der Sittlichkeit"); die „deskriptive Ethik" (welche Schleiermacher
begründet hat) beschäftigt sich mit der Darstellung der historisch gegebenen
sittlichen Lebensideale und Wertungen. So konstatiert die deskriptive
Ethik auch, daß die christliche Moral ein Liebes-Ethos ist; in diesem Liebesethos
konstatiert die deskriptive Ethik sowohl die Gesinnung als den Zweck,
als das Mittel. Daraus ergeben sich für H. dreierlei wissenschaftliche Fächer
zur Erforschung von Gesinnung, Zweck und Mittel im christlichen Liebesethos
: Motivforschung, Zweckforschung, Methodenforschung. Es ergibt sich,
daß im christlichen Ethos selbst das Motiv, d. i. die Gesinnung, primäre sittliche
Geltung hat, der Zweck sekundäre, das Mittel tertiäre — ohne daß doch
eines der drei Momente fehlen könnte. Ist also die christliche Moral Gesinnungs-
n,oral, so darf das nicht dahin mißverstanden werden, als könnte die Liebesgesinnung
bei sich selbst bleiben, vielmehr ist sie auf den Zweck hin und
handelt auf den Zweck hin mit den tauglichen Mitteln. Demgemäß erforscht die
Motivforschung (welche in der Lunder Theologie durch Gustav Aulen —
z-B. durch die Bücher „Das christliche Gottesbild" 1927, „Der christliche
Versöhnungsgedanke" 1930 — und durch Anders Nygren — z. B. durch das
Werk „Der christliche Liebesgedanke" I 1930, II 1936 — eingebürgert wurde,
und zwar hauptsächlich als Darstellung des zentralen Grundmotivs, also
..ideengeschichtlich", während Holmström dazu noch die psychologische Aufgabe
fügt) das in der Handlung vorliegende Motiv des Handelnden unter dem
Gesichtspunkt der sittlichen Geltung oder der psychologischen Notwendigkeit.
°ie Zweckforschung untersucht das denkbare Ziel der Handlung unter dem
Gesichtspunkt der faktischen Wirklichkeit (= die Bedingungen für die Verwirklichung
des Ziels). Die Methodenforschung untersucht die denkbaren Mittel
der Handlung unter dein Gesichtspunkt der faktischen Wirklichkeit (= zu
was für einem Resultat die Mittel führen und ob sie zu dem vorgesteckten
Zweck führen); zugleich untersucht die Methodenforschung die sittliche Legitimität
des Mittels. In der Sozialethik setzt sich das in Milieu-Forschung, Sozialanalytik
und Sozialmethodik um: die Sozialethik erforscht die Weltverflochtenheit
des Menschen nach Subjekt, Ziel und Mitteln. Wird die
Sozialforschung als Sozialanalyse und Sozialmethodik in die christliche Theologie
eingebaut, so treten damit nicht Fremdkörper in die Theologie ein,
sondern die innerhalb der theologischen Ethik bestehende Sozialethik gibt
dieser die Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit auf einen Generalplan der sittlichen
Aktivität hin zu erforschen und den Gesichtskreis der theologischen
Ethik so zu erweitern, daß sie ökumenisch im Sinne Söderbloms (for Life and
Work) arbeiten kann. (Könnte aber das die Sozialethik nicht auch als Wissenschaft
außerhalb der Theologie, die von der Theologie als Hilfswissenschaft
heranzuziehen ist?) Keineswegs wird diese christliche Sozialethik zu einer
kasuistischen Aufseherin über die christliche Moral, sondern in der moralischen
Praxis bleibt es beim freien Wehen des Hl. Geistes, bei der Berufung und dem
Ruf durch den HI. Geist — nicht einmal ein tertius usus legis greift Platz,
ja H. spricht von „neuen Dekalogen", die die christliche Liebesgesinnung nach
den wechselnden Erfordernissen des Nächsten und den durch die ethische
Wissenschaft gesichteten neuen Feldern aus sich heraussetzt. Und so erreicht
Holmström sein Ziel: von den historisch (bei Nygren und anderen) gegebenen
Ausgangspunkten vorzustoßen zu einem systematischen Aufbau der theologischen
Ethik auf dem sozialen Arbcitsfelde der Christenheit.

Das reiche und tiefe Buch Holmströms beantwortet eine Frage nicht:
Wodurch wird die christliche Sozialethik Holmströmscher Auffassung zur
Theologie? Denn offenbar nicht dadurch, daß diese Sozialethik nun von Theologen
getrieben wird, auch nicht dadurch, daß diese Sozialforschung das christliche
Ethos zum Gegenstand hat, und nicht dadurch schon, daß diese Forschung
in der theologischen Fakultät nötig ist! So, wie Holmström die Sache darstellt,
ergibt sich eine Hilfswissenschaft für die Glaubenstheologie, welche Hilfswissenschaft
aus praktischen Gründen in die theologische Fakultät überführt
werden muß.

Wertingen Leonhard Fendt

Quistorp, Heinrich: Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins. Calvins

Eschatologie. Gütersloh: Bertelsmann 1941. VIII, 208 S. 8°. geh. RM 5.50.
Mit Recht bezeichnet der Verf. Calvin als „den besonders
eschatologisch orientierten Reformator" (S. 3). Trotzdem gab
es bisher keine zusammenfassende Untersuchung und Darstellung
der Eschatologie Calvins (die Arbeiten von Karlfried
Fröhlich und von Martin Schulze können hierfür lediglich als
Vorstudien gelten). Das vorliegende Buch, eine aus der Schule
von E. Wolf hervorgegangene Hallische Dissertation, füllt
diese Lücke in dankenswerter Weise aus.

Der Aufbau ist sachgemäß. In einem ersten Teil (4—49)
wird die eschatologische Bestimmtheit der gesamten Theologie
Calvins einleuchtend dargelegt, namentlich im Bezug auf Calvins
Ethik. Es folgt (50—107) eine Erörterung über Calvins
Unsterblichkeitsauffassung und dann (io8ff.) eine ausführliche
und in fast allen Punkten Neues bringende Darstellung dessen
was Calvin über die „letzte Auferstehung" sagt.

Das theologiegeschichtliche Problem der Eschatologie Calvins
liegt im Verhältnis dessen, was der Verf. im zweiten Teile
ausführt, zum Inhalt des dritten: Unsterblichkeit der Seele
und Auferstehung des Fleisches. Diese Spannung hat der Verf.
klar herausgearbeitet. Er teilt die allgemeine Ansicht, daß die
Unsterblichkeitslehre Calvins ein griechisch-humanistisches
Element seiner Theologie darstellt, hat auch deutlich gesehen,
wie stark Calvin hier von der Alten Kirche, namentlich von
Augustiu beeinflußt ist. Demgegenüber ist die Lehre von der
Auferstehung ausschließlich von der Bibel her bestimmt.
Calvins Eschatologie ist das Ringen zwischen diesen beiden
Mächten. Der Verf. scheint mir das Rechte zu treffen, wenn er
darlegt, daß die griechisch-humanistische Metaphysik schließlich
von der Gewalt des biblischen Zeugnisses zurückgedrängt
wird, ohne indessen ganz zu verschwinden. Das gilt bekanntlich
auch für andere Bestandteile der Lehrauffassung Calvins
Gelegentlich (S. 60, 88 und 108 besonders) deutet der Verf. eine
gewisse Entwicklung bei Calvin an: dieser Punkt wäre näherer
Überlegung wert gewesen; es ist wohl tatsächlich so, daß die
humanistischen Motive von Calvin immer nachdrücklicher
überwunden werden, bis schließlich die Institutio von i^kq
(insbesondere III, 25, 7) die schärfste Abwehr des sog. Spiritualismus
zeigt. Die sehr ausgiebig auftretenden Zitate aus der
Psychopannychia müssen daher in eine (allerdings dünne)
Klammer gesetzt werden. Daß Calvin trotzdem , spiritua-
listische" Momente beibehält, ist fraglos. Vielleicht wäre
energischer, als es geschieht, zu fragen gewesen ob dafür
nicht auch Gründe in der inneren Systematik der Gedanken
Calvins vorhanden sind (also nicht bloß genetische) Wie der
sog. spiritualistische Zug in Calvins Abendmahlslehre im
Dienste einer möglichst entschiedenen Wahrung der echten
Leiblichkeit Christi steht, so könnte ja auch der Spiritualis
mus" in der Eschatologie, den der Verf. zutreffend vor allem
in der Lehre vom Zwischenzustande wirksam findet gerade
im Dienste der sehr auf das Leibhafte gerichteten Auf-