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Ausgabe:

1948 Nr. 12

Spalte:

755-758

Autor/Hrsg.:

Köhler, Hans

Titel/Untertitel:

Die Überwindung des Nihilismus als Aufgabe der Theologie 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

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weiter ins Dunkel verlierende Vergangenheit von Jahrzehntausenden
. Auch diese Veränderung unseres Weltbildes stellt
uns vor ein neues Fragen. Denn eben in jenen absehbaren
Horizonten ihres Weltbildes steht die heilsgeschichtliche Schau
der biblischen Schriftsteller. In ihnen vollzieht sich das sich
offenbarende Heilstum Gottes als das allein wesentlich geschichtliche
Geschehen wohl auch in einer abgegrenzt schmalen
Linie, während alles jenseits dieser Linie liegende Völkerdasein
und -geschehen unter keinem ihm besonders geltenden Ziel-
willenGottes steht. Es ist aber ein räumlich und zeitlich übersehbarer
Teil der Völkerwelt des damalischen irdischen Horizontes
, der so abseits liegen bleibt. Für unsere räumliche und
besonders für unsere zeitliche Schau der Völkerwelt mit ihren
unübersehbaren Horizonten erhält dies Außerhalbgelassen-
werden ein ganz anderes bedrückendes Gewicht. Wirklich
Jahrzehntausende menschlichen Daseins und in ihnen ganze
vergangene Völkerwelten über die ganze Erde hin außerhalb
des Gotteszieles mit der Menschenwelt, sofern ein solches nur
in jener schmalen und erst so spät einsetzenden Linie zur Verwirklichung
kommt ?

Auch hier setzt dann wohl ein neues Fragen ein, in diesem
Fall dahin gehend, ob mit dem, was die Männer des Neuen
Testaments zur Menschengeschichte zu sagen haben, wirklich
das letzte Wort dazu gesagt ist, zumal, was sie sagen, so ganz
angesichts der Niedergangserscheinungen der Kulturwelt ihres
geschichtlichen Horizontes gesagt ist. Oder sollten wir hier
trotzdem an die Weltanschauung der biblischen Schriften —
um ein Stück Weltanschauung handelt es sich ja doch bei
dieser Schau der Geschichte — glaubensmäßig gebunden sein ?
Wenn auch diese Schau der Geschichte aus Offenbarung ist,
dann gewiß. Aber es geht hier ja doch eben um die sich uns
aufdrängende Frage, ob die Schau der Offenbarung als lehrhafter
Mitteilung, in diesem Fall weltanschaulicher Art, wirklich
zutreffend und uns demgemäß in der Schrift die dem
christlichen Glauben zukommende Weltanschauung fertig gegeben
ist, oder ob sie nicht vielmehr unter ernsthafter Berücksichtigung
unseres erweiterten geschichtlichen Horizontes
und mit tieferem und für alles offenem Eindringen in dies gesamte
geistige Leben neu zu suchen uns aufgegeben ist.

Also: welcher Art ist die in der Schrift ergehende Offenbarung
? Gottes Offenbarung ist Willensoffenbarung, und so
ergeht sie als Anruf, Mahnung und Einladung: das ist die klare
Antwort aus dem alttestamentlichen Prophetenwort. Das ist
dort ihr Eigentliches und Wesentliches. So will des Herrn
Stimme gehört werden; und nur, wenn man sie so hört, hört
mau sie recht. Derselbe Gottesruf an uns ergeht auch im
Neuen Testament und ist auch hier das Eigentliche und Wesentliche
. Hier aber ergeht er aus der sich hier bezeugenden
Welt eines an Gott gebundenen neuen Lebens als uns zu der
gleichen Lebenshaltung bald ernst mahnend, bald freundlich
einladender Ruf. Diese ganze besondere Welt mit dem aus ihr
ergehenden Ruf aber hat zu ihrem Mittelpunkt und Fundament
die Gottesnähe, die in dem Einen, dem Mann aus
Nazareth, war; es ist alles Ausstrahlung dieses Lichtes. So vollzieht
sich denn Gottes Offenbarung an uns im Wort des Neuen

Testamentes in der unser Inneres ergreifenden Begegnung mit
dieser Lebenswelt und grundlegend in solcher Begegnung mit
Gottes Flerantreten an uns in der Gottesnähe des Einen, Jesus
Christus, von dem her sie ist und auf den sie immer wieder
hinweist.

Von dieser Gottesnähe in ihm und durch ihn in der ganzen
neuen Lebenswelt reden die neutestamentlichen Schriften
wohl auch in lehrhaften Gedanken über das „Wie" dieser
Gottesnähe. Aber das Entscheidende und Grundlegende sind
nicht diese christologischen und pueumatologischen Gedankenansätze
. Hätten wir nur dies Lehrhafte, so wäre darin
allein nichts von Uberführung und Aufruf. Sie alle werden bedeutsam
erst und nur von da her, daß das „Gott war in Christo"
von 2. Kor. 5, 19 in der Begegnung mit diesem Jesus als dem
Christus Gottes in seiner Aktivität praktisch zur Erfahrung
kommt. Und dies aktive und erfahrbare „Gott war in Christo"
ist darum das Entscheidende, nicht dagegen die mitgehenden
Gedanken über das dabei etwa vorzusetzende ontische „Wie"
davon. Und entsprechend sind denn auch bei der neutestamentlichen
Rede vom heiligen Geist nicht die allerlei Ein/.el-
aussagen über ihn, denen man eine Lehre vom heiligen Geist
entnehmen könnte, das Wesentliche und Eigentliche, sondern
es ist die Gewißheit von der heilige Scheu fordernden und,Heil
schaffenden Gottesnähe durch Jesus Christus in der Welt
neuen Lebens, die sich in dieser Rede vom heiligen Geist ihren
Ausdruck schafft.

Liegen aber die Dinge hier so, dann muß dies Orduungs-
verhältnis auch in der Glaubenslehre seinen Ausdruck finden.
Das heißt aber: ihr Hauptanliegen wird sein müssen, dies
Glaubenshaft-Praktische, ausgerichtet auf das Glaubenszeugnis
des Neuen Testamentes, klar und in seiner ganzen Bedeutung
, Breite und Tiefe zu erfassen und zur Darstellung zu
bringen, während die doch erst von da aus lebenswahren Gedanken
über das „Wie" dieser Gottesnähe an die zweite Stelle
treten würden1.

Mit dem allen vollzieht sich eine tief einschneidende Veränderung
für uns als Glaubende; und es ist nicht zu verwundern
, wenn wir sie schmerzlich empfinden, und wenn uns
darüber Unsicherheit und Zagen überkommen will. Ks war
doch so beruhigend, auf alle weltanschaulichen Fragen eine
fertige Antwort zu haben und in dieser einfach gegebenen Weltanschauung
wie in einem sicheren Hause zu wohnen. Und es
gab eine solch eigenartige Sicherheit, sich so greifbar nicht auf
sein Glaubenserleben gestellt zu wissen, sondern auf eine ganz
unabhängig davon durch unmittelbare Belehrung durch
Offenbarung vorgegebene Sicherheit betreffs des göttlichen
Ursprungs und der Gottesart dessen, worauf sich unser Glaube
gründet. Den Schritt aus solcher dem Subjektiv-Persönlichen
letztlich entnommenen und von Fragen der Weltanschauung
nicht ernstlich bedrohten Sicherheit in eine, wo vordem alles
eine so ausgemachte Sache war, von so viel Fragen umgebene
Situation — diesen Schritt tut man als ernsthafter Mensch
nur, weil man ihn um der Wahrhaftigkeit wegen tun mul.S.
Man darf ihn dann aber auch tun im Vertrauen, daß der Verlust
bisheriger Glaubensstützen und Sicherungen sich letztlich
als ein Glaubensgewinn erweisen werde.

Die Überwindung des Nihilismus als Aufgabe der Theologie

1 Von Hans Köhler, Leipzig

Menschen nicht mehr normativ und'deshalb auch ethisch unwirksam
. Daran ändert die Tatsache nichts, daß der Gottesbegriff
weiter gebraucht und über ihn spekuliert wurde. Normativ
waren andere, innerweltliche Größen geworden. An sie
glaubte der Mensch, von ihnen her empfing er die Richtlinien
für sein Handeln. Diese „innerweltlicheu Götter" wechselten
im Laufe dieser 150 Jahre. Einmal war es die menschliche Vernunft
, dann die natürliche Harmonie des freien Spiels der
Kräfte, zum anderen das Leben als solches. Immer handelte
es sich darum, daß ein Stück Welt angebetet wurde und daß
der Mensch sich von ihm die ethischen Richtlinien geben ließ.
Das Resultat dieser innerweltlicheu Gläubigkeit hat der
Mensch in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts erlebt, die
allen Fortschritt, den er für Augenblicke der Weltgeschichte
im 19. Jahrhundert mit dieser Immanenzgläubigkeit erreicht
zu haben glaubte, illusorisch machten. Wenn man in den Kata-

Das gegenwärtige öffentliche Gespräch bezieht sich auf
ethische Fragen. Dies ist angesichts der schwierigen äußeren
Lage, in der sich die abendländische Welt nach dem zweiten
Weltkrieg befindet, nicht verwunderlich. Es muß etwas zur
Uberwindung der Not getan werden. Der Mensch von heute
sieht sich dabei vor eine Anzahl von Möglichkeiten gestellt.
Welche von ihnen soll er wählen? Diese Frage läßt sich mit Erfolg
nicht aus der Vordergründigkeit der wirtschaftlichen Lage,
nicht aus momentanen politischen Gegebenheiten, nicht aus
der gesellschaftlichen Struktur allein heraus beantworten, sondern
sie erfordert eine Besinnung auf die geistigen Hintergründe
eines jeden Ethos. Hier liegt das Recht aller weltanschaulichen
und religiösen Auseinandersetzungen der Gegenwart
. Sie dürfen und können nicht nur theoretisch vollzogen
werden, sondern müssen in der ständigen Beziehung zur Praxis
stehen. Von dieser Gegebenheit muß auch die Theologie heute
ausgehen. Es geht um die Frage, welche Hilfe das Christentum
der gegenwärtigen Welt zu geben vermag. Die geistige
Situation, in der sich diese Auseinandersetzung vollzieht,
scheint mir dabei die folgende zu sein: Seit dem Ende des
18. Jahrhunderts war die persönliche Bindung des Menschen an
Gott verloren gegangen. Das Gottesverhältnis war für den

') Dies Ordnung*vefhAitnil mag wohl an Schlcicrmachers Verfahren und
an die alte Erlanger Schule erinnern. Es ist aher eben nicht das fromme
Selbstbewußtsein des Dogmatikers oder der Tatbestand seines Christseins der
Ansatzpunkt, sondern die im Neuen Testament objektiv gegebene Welt des
neuen Lebens.