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Ausgabe:

1948 Nr. 12

Spalte:

751-756

Autor/Hrsg.:

Steinmann, Th.

Titel/Untertitel:

Welche Forderungen ergeben sich aus der Berücksichtigung unseres heutigen Weltbildes für den Dogmatiker? 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

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straflosen Umweg über eine Scheidung erreicht. Der Effekt ist bei all diesem
Handeln der gleiche, daß das Gemeinschaftsleben in einer Ehe dadurch zerstört
und zerbrochen wird. In dem dritten Beispiel vom Schwören Mt. 5,
33—37 wird für eine wirkliche Gemeinschaft, wie sie unter Christen bestehen
sollte, nicht nur der Meineid, sondern jedes Schwören verurteilt. Denn das
Schwören ist eine Konzession an die menschliche Unwahrhaftigkeit, die in
einer echten Gemeinschaft keinen Platz haben darf. Da sollte ein Ja oder ein
Nein vollgültig und genug sein und keiner v/eiteren Beteuerung bedürfen. Von
besonderer Bedeutung für das rechte ethische Verhalten in der Gemeinschaft
ist das vierte Beispiel von der Vergeltung Mt. 5, 38—41. In ihm stellt Jesus
dem gemeinschaftzerstörenden Grundsatze „Auge um Auge, Zahn um Zahn",
„wie du mir, so ich dir" den anderen Grundsatz gegenüber „Nicht Widerstand
leisten dem Bösen", sondern „Böses mit Gutem vergelten" und durch
ein Verhalten, das nichts weniger als feige und schwächlich, sondern im Gegenteil
tapfer und mutig, ja „großmütig" ist, den Gegner überwinden und friedlicher
Verständigung die Bahn bereiten. In dem letzten Beispiel von der
Feindesliebe Mt. 5, 43—47 wird gezeigt, daß wahre Liebe im Geiste des Gottes,
der seine Sonne scheinen läßt über Böse und Gute und regnen läßt über Gerechte
und Ungerechte, sich auch den Mitmenschen gegenüber beweisen und
betätigen muß, die uns lieblos behandelt haben und uns feindlich gesinnt sind.
In dem Wort vom Richten Mt. 7, 1—6 wird das harte Aburteilen über den Mitmenschen
nicht nur als unvorteilhaft bezeichnet —, denn mit dem Maße, mit
dem wir unsere Mitmenschen messen, werden wir von ihnen gemessen werden
—, sondern auch als unberechtigt hingestellt; nur ein wirklich Fehler- und
Fleckenloser hätte das Recht dazu, während oft gerade Menschen mit viel
eigenen Fehlern sich zu „Splitterrichtern" über ihre Mitmenschen aufwerfen.
Auch dieses Verhalten ist unethisch und unsozial und wirkt gemeinschafts-
zerstörend. In Mt. 7, 12 wird in der sog. „Goldenen Lebensregel" der Inbegriff
alles sozialethischen Verhaltens in das Wort geprägt: „Alles, was ihr wollt,
das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch", eine positive Fassung,
mit der Jesus über die landläufige negative Fassung „Was du nicht willst,
das man dir tu, das füg auch keinem andern zu", weit hinausgeht.

Auch unter den sonstigen Einzel Worten Jesu, die uns in
den ersten drei Evangelien überliefert sind, finden sich noch
manche, die sittliche Weisungen für das Leben in der Gemeinschaft
geben wollen. Hier ist vor allem das Wort Mc. 9, 42,
Mt. 18, 6—7, Lc. 17, 1—2 zu nennen, das die Verantwortung
der Erwachsenen gegenüber den Kindern betont. Jesus hat,
wie uns viele Stellen in den Evangelien bezeugen, ein tiefes
Verständnis für die Kinder gehabt. Er ist ein Kinderfreund
gewesen, hat die Kinder geliebt und immer wieder einmal den
Erwachsenen als Vorbild vor Augen gestellt. Jesus wußte auch,
wie viel für Aufrechterhaltung echter Gemeinschaft auf die sittliche
Bewahrung und innere Gesundhaltung der heranwachsenden
Generation ankommt. Er hat deshalb das scharfe Wort
geprägt, daß für jeden, der einem Kinde Anstoß gibt oder zum
Verführer wird, das völlige Ausgetilgtwerden aus jeder
menschlichen Gemeinschaftdie gerechte Strafe wäre. Wichtig
ist auch die Stellung, die Jesus den Reichen gegenüber eingenommen
hat. Sie hängt zusammen mit seiner Beurteilung
des Besitzes und des Eigentums, die Mt. 25, 14—19, Lc. 19,
12—26 in dem Gleichnis von den anvertrauten Geldern zum
Ausdruck gekommen ist. Es gibt nach diesem Gleichnis, das
in erster Linie das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen
klarstellen will, kein eigentliches Privateigentum, dessen Gebrauch
und Verwendung dem Belieben und der Willkür des
Einzelnen überlassen wäre, sondern alles Eigentum ist nach
Jesu Meinung nur uns anvertrautes Eigentum Gottes, der uns
„Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und
alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und
Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Acker, Vieh und

alle Güter". Gott hat — das scheint mir ein nicht unbeacht-
licher Zug in jenem Gleichnis zu sein — dieses Eigentum nicht
gleichmäßig aufgeteilt. Er hat dem Einen mehr, dem Anderen
weniger anvertraut, er hat dem Einen diese und dem Anderen
jene besonderen Begabungen und Kräfte verliehen, und er kann
und wird Rechenschaft von uns fordern, was wir mit diesem
anvertrauten Gut gemacht und wie wir damit gewirtschaftet
haben. Er erwartet von allen Menschen ohne Unterschied, daß
sie als gute und treue Haushalter ihr Eigentum, ihre Gaben
und Kräfte für die Gemeinschaft einsetzen und in den Dienst
ihrer Mitmenschen stellen. Von da aus gesehen erwächst den
Reichen auf der einen Seite eine besondere Verantwortung, auf
der anderen Seite eine besondere Gefahr, was in dem Dialog
Mc. 10, 17—27, Mt. 19, 16—26, Lc. 18, 18—27 zum Ausdruck
kommt. Jesus hat nicht eine allgemeine asketische Verzicht-
leistung auf alles Eigentum gefordert, er hat nur in einzelnen
Fällen wie dem hier vorliegenden, wo er erkannte, daß Reichtum
, der leicht sicher und selbstbewußt macht, eine Gefahr
für das Vertrauen auf Gott und für die Hingabe an Gott zu
werden droht, die Forderung eines solchen Verzichtes gestellt,
weil er wußte „Niemand kann zwei Herrn dienen, ihr könnt
nicht Gott dienen und dem Gelde" (Mt. 6, 24; Lc. 16, 13),
Maßgebend für Jesu Meinung über die Stellung des Einzelnen
in der Gemeinschaft ist immer der Dienstgedanke, wie er am
schärfsten und deutlichsten in dem Wort Mc. 10, 42—45;
Mt. 20, 25—28; Lc. 22, 24—26. 27b (hier in der wohl ursprünglichen
Form des Schlußsatzes) zum Ausdruck kommt. Nicht
Machtstreben und Gewaltanwendung .sollten die Gemeinschaft
beherrschen — sie zerstören immer wieder wahre Ge-
meinschaft —, sondern das tragende Prinzip aller wirklichen
Gemeinschaft darf und kann immer nur das Dienen sein, wie
es Jesus vorgelebt hat. Wer in solchem Dienst ihm nachfolgt,
der ist in dem sozialen Gefüge menschlicher Gemeinschaft der
Größte und Wertvollste. Auch Gesetze und Sitten, ja religiöse
Gebräuche und kirchliche Ordnungen dürfen nicht zu
Machtproben und zu starrem Herrschaftsanspruch über die
Gewissen werden, sondern haben diesem Dienstgedaukeu sieh
unterzuordnen, wie das Wort über den Sabbat Mc. 2, 27 und
Jesu persönliches Verhalten gegenüber solchen Gebräuchen
und Ordnungen etwa bei Sabbatheilungen (vgl. Mc. 3, 1—5;
Mt. 12, 9—13; Lc. 6, 6—16) beweist. Zusammengefaßt sind
die sittlichen Forderungen Jesu für die Stellung des Menschen
in der Gemeinschaft in dem Gebot der Nächstenliebe, das als
gleich wichtig neben die religiöse Forderung der Gottesliebe
gestellt wird (Mc. 12, 29—31; Mt. 22, 37—40, vgl. Lc. 10,
26—28). Auch hier ist wieder der nüchterne Realismus beachtenswert
, der in fast allen sozial-ethischen Forderungen
Jesu zu beobachten ist. Jesus steht den Wirklichkeiten der
Welt nicht fremd gegenüber. Er kennt die Menschen genau
genug, um zu wissen, daß bei fast allen der Egoismus die
stärkste Triebfeder ihres Handelns ist. Darum macht er ganz
bedenkenlos die Selbstliebe zum Maßstab der Nächstenliebe:
mit der Selbstverständlichkeit und mit derselben Stärke, mit
der wir uns selbst lieben, sollen wir den Nächsten lieben.

Es ist eine überraschende Fülle sozial-ethischer Orientierungen
und Forderungen, die sich aus der Verkündigung
Jesu entnehmen lassen. Diese Orientierungen den Menschen
unserer Tage in der Ratlosigkeit unserer Zeit als Wegvveisung
mitzugeben und diese Forderungen für das menschliche Gemeinschaftsleben
in der Zerrissenheit der Gegenwart zu verwirklichen
, das ist und bleibt neben der Führung zur Gemeinschaft
mit Gott eine dringliche christliche Aufgabe.

Welche Forderungen ergeben sich aus der Berücksichtigung
unseres heutigen Weltbildes für den Dogmatiker?

Von Th. Steinmann, Menziken, Aargau

Wie jede geschichtliche Religion so ist auch das Christentum
in seiner geschichtlichen Erscheinung nicht nur eine bestimmt
geartete praktische Glaubenshaltung zu Gott; es umschließt
zugleich eine ihm eigene Weltanschauung in Gestalt
ganz objektiv-lehrhafter Aussagen über Gott (im Trinitäts-
dogma), über Jesus Christus, über die Welt und den Menschen.
Der in der christlichen Glaubensüberlieferung Stehende besitzt
damit in enger Verbundenheit miteinander beides in
einem: glaubenshafte religiöse Zuversicht und weltanschauliche
Sicherheit. Und er nimmt, was so in enger Verbundenheit
miteüiander an ihn herantritt, unmittelbar in einem als
im Wort der Schrift gegebene Offenbarung. Das heißt aber:
Gottes Offenbarung in der Schrift ist ihm außer praktischem
Anruf unmittelbar zugleich auch weltanschaulich lehrhafte
Mitteilung, beides fordert ganz in gleicher Weise den Gehorsam
des Glaubens; und dieser Glaube ist außer der rechten Zuwendung
zu Gott ein damit verbundenes Fürwahrhalten bestimmter
Schriftlehren, um deren möglichst zutreffende Erfassung
und möglichst präzise Formulierung sich die werdende
Kirche bemühte und die dogmatische Arbeit auch weiterhin
bemüht.

Diese Schau der in der Schrift ergehenden Offenbarung
bringt noch ein Weiteres mit sich. Es ist nicht etwa so, daß
jenes Fürwahrhalten zu der rechten praktischen Zuwendung
zu Gott als ein zweites zugleich Gefordertes noch hinzutritt.
Dies Fürwahrhalten oder richtiger: die durch die Offenbarung
verbürgte objektive Geltung der Schriftlehren ist vielmehr die
Voraussetzung und Sicherheitsgrundlage der rechten praktischen
Zuwendung zu Gott. Das demütig gläubige Vertrauen
zu Gott durch Christus gründet letztlich auf einer bestimmten