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Ausgabe:

1948 Nr. 12

Spalte:

747-752

Autor/Hrsg.:

Herz, Johannes

Titel/Untertitel:

Die sozial-ethische Gedankenwelt in Jesu Verkündigung 1948

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747

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

748

Die sozial-ethische Gedankenweh in Jesu Verkündigung

Von D. Johannes Herz, Leipzig

Unzweifelhaft war Jesu Verkündigung in ihrem Hauptinhalt
und in ihrem Hauptzweck eine religiöse Verkündigung.
Jesus wollte den Menschen die frohe Botschaft von einem
Gottesreich und einer Gottesherrschaft bringen und ein neues
Kindschaftsverhältnis zwischen den Menschen und Gott herstellen
. Aber er hat das nicht im Sinne und im Dienst eines
religiösen Individualismus und Liberalismus getan, dem die
Religion Privatsache war. Gewiß hat Jesus immer wieder auch
einzelner Menschen sich hilfreich und seelsorgerlich angenommen
, wie die vielen Heilungsgeschichten in den Evangelien
bezeugen. Aber Jesus hat in seiner Verkündigung — wie
namentlich Rade in seiner „Glaubenslehre" überzeugend nachgewiesen
hat — den Einzelnen immer in die Gemeinschaft
hineingestellt und in seiner Verbindung mit dem „Nächsten"
gesehen. Gottesliebe und Nächstenliebe wird im Evangelium
immer nebeneinander gestellt und selbst in die persönlichste
Beziehung zu Gott, in das Gebet hat Jesus den Nächsten mit
eingeschlossen, wenn er seine Jünger nicht beten lehrte (wie
die meisten Menschen wohl immer noch zu beten geneigt sind):
Gib mir mein täglich Brot, vergib mir meine Schuld, führe
mich nicht in Versuchung, erlöse mich von dem Übel, sondern
wenn er seine Jünger beten lehrte: Unser täglich Brot gib
uns heute, vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung
, erlöse uns von dem Übel. Es entspricht darum nicht
dem Geist Jesu und seines Evangeliums, wenn Harnack einmal
das Wesen des Christentums in den Satz zusammengefaßt
hat: „Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott". Es müßte
richtiger heißen: Gott und die Seelen, die Seelen und ihr Gott.
Aber auch damit wäre der gesamte Inhalt des Evangeliums
Jesu noch nicht ausgeschöpft. Jesu Botschaft hat nicht nur
religiösen, sondern auch ethischen Inhalt gehabt. Jesus wollte
den Menschen auch Wegweisung geben für ihr Handeln, und
zwar nicht nur für ihr persönliches Handeln, sondern für ihr
Handeln in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft. Das
ist in vielen Darstellungen der Predigt Jesu allzu sehr in den
Hintergrund getreten, und es ist darum vielleicht nicht unangebracht
, einmal in kurzen Strichen eine Ubersicht über die
sozial-ethische Gedankenwelt in Jesu Verkündigung
zu geben.

Jesu Verkündigung war weder weltfremd noch weltflüch-
tig. Jesus hat sich von der Umwelt, in die er sich hineingestellt
sah, nicht abgesondert, sondern er hat sich mit großer Unbefangenheit
in dieser Umwelt bewegt. Er hat mit Menschen
aller Bevölkerungsschichten verkehrt, mit Juden und Griechen
, mit Pharisäern und Sadduzäern, mit Handwerkern und
Bettlern, mit Gesunden und Kranken. Er hat mit verachteten
Zolleinnehmern und mit notorischen Sündern sich an einen
Tisch gesetzt und dadurch immer wieder den Anstoß aller
Musterfrommen und Selbstgerechten erregt. Jesus lebte auch
nicht in einem Traumland irgendwelcher Ideologien, sondern
er hatte ausgeprägt nüchternen Wirklichkeitssinn. Er sah die
Menschen in den harten Wirklichkeiten ihres Lebens mit all
ihren Verflechtungen und Schranken, mit all ihren Anfechtungen
und Nöten und wollte ihnen mit seiner Predigt und
seinem Beispiel darin Helfer und Wegweiser sein.

Aber wenn auch zugegeben wird, daß die Evangelien viele
sozial-ethische Gedanken enthalten, so ist doch immer wieder
einmal gefragt worden, ob diese Gedanken für uns heute noch
maßgebend und wegweisend sein können. Denn besteht nicht
zwischen den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und
religiösen Zuständen der Zeit Jesu und unserer Gegenwart ein
ungeheurer Unterschied und eine tiefe Kluft ? Das ist zum Beispiel
auch die Uberzeugung Friedrich Naumanns gewesen, der
gerade für die sozial-ethische Gedankenwelt in Jesu Verkündigung
einen besonders scharfen Blick und ein besonders eindringliches
Verständnis hatte. Aber die Erkenntnisse, die aus
neuen Forschungen über die politischen, wirtschaftlichen,
kulturellen und religiösen Verhältnisse im Vorderen Orient
und speziell auch in Palästina im Zeitalter Jesu gewonnen
worden sind, haben diese Anschauung als weithin irrig erwiesen
. Wenn auch, als Jesus auftrat und wirkte, gewiß die
Hauptmasse der Bevölkerung Palästinas arme Bauern und
kleine Handwerker waren, so hat es doch, wie gerade einzelne
Gleichnisse Jesu beweisen — z. B. das Gleichnis von den geladenen
Gästen Mt. 22, 1—14 und Lc. 14, 15—24, das Gleichnis
von den anvertrauten Talenten Mt. 25, 14—30 und Lc. 19,
11—27, das Gleichnis von den beiden Schuldnern Lc. 7, 41—43
und das Gleichnis vom reichen Tor Lc. 12, 16—21 —, in
Palästina in Jesu Tagen auch Großgrundbesitzer und Kapitalisten
gegeben. Ja man könnte vielleicht sogar sagen, daß die

soziale Umwelt, in der Jesus lebte, mit der Umwelt, in der
wir heute leben, eine Menge überraschender Ähnlichkeiten aufweist
und daß darum viele gesellschaftliche Probleme, die uns
heute beschäftigen, Probleme gewesen sind, die auch Jesus
gekannt hat und mit denen auch er sich auseinandersetzen
mußte. Jesus lebte mit seinem Volk in politisener Abhängigkeit
vom römischen Staat und von den von diesem Staat eingesetzten
Unterkönigen und Prokuratoren, die zumeist ein
Willkürregiment ausübten und Land und Volk rücksichtslos
ausplünderten. Römische Besatzungstruppen lagen im Lande,
nicht nur in der Residenz des Statthalters in Cäsarea und in der
Hauptstadt Jerusalem, sondern auch in wichtigen Grenzorten
und Zollstationen wie Kapernaum und Jericho. Neben
einer kleinen Zahl von Großgrundbesitzern, unter denen der
Staat und seine höheren Beamten an erster Stelle standen,
gab es die große Masse der kleinen Pächter und Unter
Pächter, die durch allerlei Auflagen und durch den schweren
Druck eines harten Steuersystems in ständiger wirtschaftlicher
Bedrängnis und Unsicherheit lebten. Für den Handel
war es eine große Erschwerung und andererseits wahrscheinlich
Gelegenheit zu allerlei Wuchergeschäften, daß, wie die
Evangelien zeigen, in Palästina und dem ganzen Vorderen
Orient damals ähnlich wie gegenwärtig bei uns zwei Währungen
in Gebrauch waren, nämlich einmal das griechische
Großgeld Talent, Mine, Stater, Drachme (vgl. Mt. 18, 24; I,e.
19, 13; Mt. 17, 27; Lc. 15, 8) und zum anderen das römische
Kleingeld Denar, Sestertius, As, Quadrans (vgl. Mt. 18, 28;
Mc. 12, 15; Mt. 10, 29; Mt. 5, 26). Schwere politische Spannungen
und Unruhen, von denen Josephus in den letzten
Büchern seiner Antiquitates immer wieder berichtet, und weitgehende
Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit waren die notwendige
Folge dieser politischen und wirtschaftlichen Zustände
. Und nicht besser war es auf dem Gebiet des geistigen
und religiösen Lebens. Schroff standen in Palästina die griechische
und jüdische Weltanschauung einander gegenüber.
Das jüdische Volk, soweit es politisch interessiert und nicht
politisch ganz gleichgültig war, war aufgespalten in die Parteien
der liberalen Sadduzäer, der konservativen Pharisäer, der
radikalen Zeloten und der revolutionären Sikkarier. Aber auch
im Privatleben standen die Menschen zumeist nicht in brüderlicher
Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft zusammen, sondern
beherrscht von Selbstgerechtigkeit und Selbstsucht mißtrauisch
und mißgünstig, ja feindselig einander gegenüber.
Auch die überlieferten religiösen Anschauungen und Gebräuche
waren weithin in Auflösung begriffen. Synkretistische Sekten
und orientalische Mysterienkulte machten unter den Hellenisten
erfolgreich Propaganda. Allerlei Aberglaube und Dämonenglaube
wurde als Ersatz des verloren gegangenen
Gottes- oder Götterglaubens aufgenommen. Mit Zauberei,
Wahrsagerei und Magie (vgl. Apg. 8, 18; 13,8; 16, -i6) wurde
Geschäft gemacht. Das war die Welt, in der Jesus lebte. Weist
sie nicht eine Menge von Parallelen mit unserer Gegenwart
auf ? Ja war sie nicht in vielen Beziehungen der Welt, in der
wir heute leben, merkwürdig ähnlich ? Sollte nicht deshalb
die sozial-ethische Gedankenwelt in Jesu Verkündigung uns
auch heute noch manches zu sagen haben ?

Am deutlichsten und unmittelbarsten kommen die sozial-
ethischen Gedanken und Weisungen Jesu in manchen seiner
Gleichnisse zum Ausdruck. Gewiß es gibt eine ganze Anzahl
von Gleichnissen, die ausschließlich irgendein Gesetz
oder eine Wahrheit des religiösen Lebens deutlich machen
wollen, aber es gibt auch viele Gleichnisse, die Verhältnisse
des menschlichen Gemeinschaftslebens schildern und für die
richtige Wertung der menschlichen Gemeinschaft und unsere
rechte Stellung in ihr uns Wegweisung geben möchten. Ich
nenne zuerst einige Gleichnisse, die über die Beschaffenheit
der menschlichen Gemeinschaft uns etwas sagen
und uns die Folgerungen, die sich daraus ergeben, klarmachen
wollen. Das sind die beiden Gleichnisse Mt. 13, 24—30 und
13, 47—48, ursprünglich wohl zwei Parallelgleichnisse, von
denen das erste in der Uberlieferung eine erhebliche ausdeutende
Erweiterung erfahren hat.

Beide Oleichnisse wollen uns an einem Beispiel aus der Natur und aus
dem Arbeitsleben aufzeigen, daU alle menschliche Gemeinschaft immer ein
Nebeneinander von guten und bösen, wertvollen und wertlosen Menschen Ist,
daß man aber diese beiden Oruppen nicht reinlich voneinander trennen kann,
wenn man nicht Schaden anrichten und sich nicht Unmögliches vornehmen
will, sondern diese Scheidung dem Gericht Oottes, das sich im Gericht der
Oeschichte vollzieht, überlassen muß. Ein ähnliches Nebeneinander im menschlichen
Gemeinschaftsleben setzt das kurze Gleichniswort Mc. 2, IG—17, Mt. 9,