Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948

Spalte:

729-736

Autor/Hrsg.:

Doerne, Martin

Titel/Untertitel:

Zu Dostojewskijs Menschenbild 1948

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

72!)

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

730

heißungen erfüllt und Sünder selig macht. Und Gott ehren
bedeutet, ihn nicht Lügen strafen durch Zweifel und Unglauben,
sondern dem Evangelium glauben und alles, auch das wunderlichste
Handeln Gottes sub contrario, sich zum Besten dienen
zu lassen. Man mag das beurteilen, wie man will, und darin
ie nachdem die Grenze oder die Größe Luthers sehen. Jedenfalls
ist das Motiv der gloria und der glorificatio Dei bei
Luther alles andere als verkümmert. Es ist ganz stark wirksam
bei ihm. Nur ist die gloria Dei von Luther entsprechend
seinem Verständnis des Evangeliums interpretiert, und das
erste Gebot wird nach Luther nicht durch Gesetzesgehorsam,
sondern durch Glauben an das Evangelium erfüllt.

Es ist, wie gesagt, nicht möglich, nach dem Dargetanen
schon eine klare und zureichende Antwort auf die Frage nach
dem Unterschied im theologischen Ansatz von Luther und
Calvin zu geben. Da müßte nun Calvin erst zu Worte kommen.
Aber es wird doch wohl recht deutlich, daß der Unterschied,
wie gesagt, schwerlich darin bestehen kann, daß Calvin die

Ehre Gottes und Luther die Liebe Gottes in den Vordergrund
stellt. Es könnte sein, der entscheidende Unterschied läge gar
nicht beim Gottesgedanken, sondern in dem verschiedenen
Verständnis von Gesetz und Evangelium. Dann müßte man,
um klar zu stellen, was gloria und glorificatio Dei bei Luther
und Calvin heißt, das gloriari Deum und die gloria Dei jeweils
dem Verständnis von Gesetz und Evangelium zuordnen. Aber
dies sind nun eben nur Erwägungen über eine Weiterarbeit
an den im Vorliegenden angestellten Überlegungen. Für
Luther dürfte deutlich sein, daß gloria Dei und erstes Gebot
theologische Mittestellung haben. Die Durchführung an wichtigen
Stücken von Luthers theologischer Gedankenbildung
macht es wahrscheinlich, daß Luthers ganze Theologie sich
vom ersten Gebot her aufrollen und um es herum ordnen läßt,
das erste Gebot nur eben so genommen, wie es Luther versteht
, als das Gebot, Gott durch gläubige Annahme semer
aller menschlicher Weisheit und Vernunft widerstreitenden
Gnadenbotsehaft ohne Zorn und ohne Zweifel die Ehre zu geben

Zu Doslojewskijs Menschenbild

Von Martin Doerne, Rostock

Die beiden großen russischen Dichter des 19. Jahrhunderts
, die am stärksten über die nationalen Grenzen hinaus
gewirkt haben, Leo Tolstoj und Feodor Michailowitsch Dosto-
jewskij, sind, jeder von ihnen in besonderer Art, zugleich
Träger einer christlichen Botschaft gewesen. Die Christlichkeit
des späteren Tolstoj bleibt ein Problem, das allen eindeutigen
Lösungen widerstrebt; es hat seinen Platz in der
rätselvollen Geschichte des christlichen Spiritualismus. Um
das Jahr 1910 stand Tolstojs radikale Prophetie noch im
Mittelpunkt der europäischen Kultur- und Gesellschaftskritik
. Aber obwohl Tostoi seinen älteren Zeitgenossen Dostojewskij
fast um ein Menschenalter überlebt hat, ist sein Wort
in der seelen- und geistesgeschichtlichen Fernwirkung seither
durch Dostojewskijs Botschaft weit überholt worden. Für die
weiteren Kreise der deutschen Leserschaft, im besonderen für
die geistig bewegte Jugend, wurde er erst nach 1918 recht entfleckt
. Das kleine, aber gewichtige Dostojewskij-Buch, das
Eduard Thurneyscn 1921 schrieb, steht in vorderster Reihe
unter den Manifesten, mit denen die „Theologie der Krisis"
vor einem Vierteljahrhundert sich das Gehör der gesamten
wachen Zeitgenossenschaft erzwang.

Es war in erster Linie der Dostojewskij der „Brüder
Karamasow", ja weithin ausschließlich der diesem letzten Bekenntnisroman
des Dichters entstammenden „Legende vom
Großinquisitor", der in dieser Ära der 1920er Jahre unter uns
wirksam wurde, weniger der Psycholog, den Nietzsche als
einen seiner Meister gerühmt hatte, als der religiöse Prophet.
Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf dieses prophetische
Schlußwort seines Werkes hat viele Leser verführt, den
Dichter allzu direkt christlich, ja theologisch zu deuten; auch
Bd. Thurneyscns verdienstliche Studie ist dieser Versuchung
nicht ganz entgangen. Die Person und die Predigt des Staretz
Sossima, die jenen letzten Roman beherrscht, darf uns nicht
Vergessen machen, daß Dostojewskijs eigenstes Wort nicht
in festgeprägten weltanschaulichen und religiösen Doktrinen
aufgesucht sein Will. Der späte Tolstoj hat es auf allgemeine
Prinzipien und Parolen abgesehen, bei fast asketischem Verzieht
auf die künstlerische Substanz seines Werkes. Ganz
anders steht es bei Dostojewskij: sein Interesse ist bis zuletzt
dein lebendigen Menschen zugewandt, ja man darf es mit
«Iefinitorischer Bestimmtheit sagen: dem Menschen „in seinem
Widerspruch". Für den Versuch einer theologischen Interpretation
Dostojewskijs bedeutet dieser Befund eine ernste
Warnung. Allerdings bieten sich einer theologischen Befragung
von Dostojewskijs Werk, mindestens in den Romanen
seiner letzten 13 Jahre, bestimmte Doktrinen und Glaubens-
J*£!* verhältnismäßig direkt dar. Ein berühmtes — und gefährliches
Beispiel ist die geschichtsphilosophische Synthese
von Christentum und Russcntum, die in den „Dämonen" der
Slawophile Schatow enthusiastisch verkündigt. Aber eine
sorgsame Gesamterforschting zeigt, daß man Doktrinen dieser
Art nicht allzu wörtlich nehmen dr.rf, daß in ihnen jedenfalls
nicht der eigentliche Kern von Dostojewskijs Botschaft ent-
halten ist. J 3

Lassen wir es vorläufig als eine glaubhafte Annahme
Kelten, daß die verborgene Mitte von Dostojewskijs dichte-
0 chem Wirklichkeitsverstäudnis durch christliche Impulse
regiert ist, so bleibt der aussichtsreichste Weg zur Erfassung
dieser geahnten „christlichen" Mitte seines Werkes der scheinbare
Umweg über das Menschenbild des Dichters, dieses

beispiellos lebendige und bewegte Bild des „Menschen in
seinem Widerspruch". — Wir bemühen uns in dieser Skizze
wenigstens die Richtung dieses Weges andeutend zu bezeichnen
. Es soll zuerst nach dem Leitbild des Menschen überhaupt
gefragt werden, wie es Dostojewskij vorschwebt.
An zweiter Stelle soll uns die Art seiner individuellen Men-
schenbetrachtung, wenn man will, seiner „Psychologie" beschäftigen
. Am linde dieses Weges werden sich die christlichen
Motive und Rückbeziehungen dieses Menschenbildes
beinahe von selbst erschließen.

Die Beschränkung unseres Fragens auf das Menschenbild
Dostojewskijs ist nicht nur die übernähme einer heute
fast schon zur Mode gewordenen geistesgeschichtlichen Frage-
Attitüde. Sie ist in unserem Falle methodisch fruchtbar, weil
Dostojewskij selbst mit einer an Einseitigkeit streifenden
Leidenschaft auf die Welt des Menschen konzentriert ist. Auch
hier unterscheidet es sich, wie Thomas Mann in seinem großen
Essay „Goethe und Tolstoj" (1922, Ges. Werke 1925, Bd. 10)
dargetan hat, wesentlich von Tolstoj. Tolstojs Weltauffassung
geht durch das Medium des Auges. Dostojewskij
gehört, wie die Charakterologen sagen, dem introvertierten,
dem unsinnliehen Typus zu. Die Landschaft, ja die ganze
Welt des vegetativen Lebens bedeutet für sein Daseinsgefühl
und Daseinsverständnis kaum mehr als eine Staffage, über
die Geheimnisse der „Natur" dürfen wir diesen Dichter nicht
befragen. Um so tiefer ist er in dem unsichtbaren Mikrokosmos
des Menschlichen zu Hause. — Dostojewskijs ganzer künstlerischer
Eifer gilt der Entdeckung und Nachgestaltung des
wirklichen Menschen; dies allein ist der LTrsprung Seiner
vielgepriesenen „psychologischen" Meisterschaft. Noch deutlicher
: er hat eine einzigartige Fähigkeit, den Menschen so zu
sehen (und uns mitsehen zu lassen), wie er ist. Das heißt:
nicht wie er sein möchte — oder wie der Nebenniensch bzw.
die Gesellschaft ihn zu sehen und zu deuten wünscht.

Es gibt eine landläufige naive Charakterkunde mit festgeprägten
positiven und negativen Wertungsformeln. Mit
ihrer Hilfe vollzieht der durchschnittliche Mensch seine praktische
Orientierung in seiner menschlichen Umwelt; eben dazu
ist sie tauglich, aber zu nichts mehr. Alle Konventionen
und Etiketten dieser vulgären „Menschenkenntnis" werden
von Dostojewskij souverän beiseitegetan. Dieser vorurteilsloseste
Kenner des Menschenherzens entlarvt die herkömmliche
Entgegensetzung von „idealen" und „niedrigen" Charakteren
als irreführende moralische Mythologie. Es gibt für
Dostojewskij, streng genommen, keine ein für allemal vorgeprägten
, definierten Charaktere. Darf man es auf eine
knappe Formel bringen ? — Dostojewskijs Menschen „sind"
nicht, sie stellen sich in der unvorhersehbareu Begegnung mit
Menschen und Mächten jeweils erst her — und jeweils neu her.
Man hat diese erstaunliche Auflockerung des sog. Persönlich-
keitsgefüges in Dostojewskijs Menschendarstellung oft aus dem
national-russischen Lebensuntergrund seines Schaffens erklären
wollen; jüngst hat Fr. Lieb (Rußland unterwegs, 1946)
diese Spur von neuem aufgenommen. Die in der slawophilen
Literatur schon vor Dostojewskij vielgebrauchte Formel von
der „breiten russischen Natur", auf die bei ihm häufig angespielt
wird, bekräftigt das relative Recht dieser volklichen
Deutungen. Aber sie treffen das Zentrum nicht. Für unseren