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Ausgabe:

1948 Nr. 12

Spalte:

719-730

Autor/Hrsg.:

Lau, Franz

Titel/Untertitel:

Erstes Gebot und Ehre Gottes als Mitte von Luthers Theologie 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

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bei dem Historiker ein Urteil bilden. Wie könnte ich denn
mit jemand persönlich umgehen, ohne daß ich in Liebe oder
in Ablehnung zu ihm Stellung nehme ? Es wäre ja die Aufhebung
jeden Verhältnisses, wenn ich kühl bliebe bis ans Herz
hinan und weder ein Ja noch ein Nein fände. Aber wer sich
gegenwärtig hält, daß der andere sein Schicksal und seine
Aufgabe hat, wird sich davor hüten, die eigenen Maßstäbe zu
verabsolutieren, und wird sich in der Gemeinsamkeit des
Menschseins darum bemühen, dem anderen Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Das Verständnis für die eminent individuelle
Prägung des geschichtlichen Lebens wird dem Historiker
große Zurückhaltung im Urteil auferlegen. Zum Umgang
mit Menschen und mit der Geschichte gehört nicht ein
fader Relativismus und ein schwächliches „tout comprendre
c'est tout pardonner". Wohl aber verbietet sich in ihm jedes
Sich-gehen-Lassen, und er verlangt Beherrschung der Leidenschaften
. Wie unter Lebenden, so kann es auch in der Geschichte
nie zur Vergötterung und nie zum Aburteilen kommen.
Die Palette des Historikers verfügt kaum über ein reines
Schwarz und ein reines Weiß, seine Kunst besteht in den
Nuancen. Liebe und Verehrung hindern nicht, daß man auch
die dunklen und gefährlichen Seiten im Bilde des anderen
sieht, und auch da, wo durch menschliche Schuld Lebender
oder Toter ein schweres Schicksal über uns gekommen ist,
werden wir uns doch nicht der Leidenschaft des Hasses hingeben
, sondern immer noch den Menschen vor uns sehen, der
ja zuletzt doch einem anderen Richter stellt und fällt als
uns, einem Richter, vor dem auch wir und unsere geschichtliche
Leistung schuldig sein werden. Die Gestalten der Geschichte
stehen ja alle schon vor ihm und sind sehr erhaben
über unser Schuldig- und Heiligsprechen.

Ich habe in diesen Gedanken über das Verhältnis des

Historikers zur Geschichte keine spezifisch christlich-theologischen
Grundlegungen vorgenommen, sondern bin von scheinbar
rein humanistischen Voraussetzungen ausgegangen, die
der Geschichtswissenschaft selbst immanent sind. Es könnte
zum Schluß noch ausgeführt werden, inwiefern diese personale
Geschichtsbetrachtung — wie aller wirklicher Humanismus
und jedes in die Tiefe vorstoßende Verständnis der Welt als
Geschichte — nur im Bereich der christlichen Kultur möglich
ist, weil erst das Christentum den Menschen wesentlich als
Person verstehen gelehrt hat, und wie das Maß, in dem diese
Betrachtung durchführbar wird, davon abhängt, wie nahe
oder wie fern der Historiker bei den Quellen des christlichen
Glaubens angebaut ist. Als ich Ranke und Mörike zitierte,
als ich von der Uberwindung des egozentrischen Verhältnisses
zur Welt sprach, als ich das Personsein des Menschen auf den
persönlichen Gott zurückführte, der ihn geschaffen hat, und
als zuletzt noch die Gestalt des Richters an der Grenze unseres
Blickfeldes auftauchte, wurden einige Hinweise gegeben, in
welcher Richtung diese Gedanken weitergesponnen werden
müßten. Aber vielleicht ist es gut, wenn man einmal nur
die allgemeine und menschliche Seite des Problems ins Auge
faßt. Man kann ja auch zur Kirchengeschichte nur dann ein
Verhältnis bekommen, wenn man etwas davon spürt, was
überhaupt Geschichte ist, und gegen gewisse Gefahren, denen
wir Theologen in der Behandlung unserer Mittheologen aus
den letzten Jahrhunderten ausgesetzt sind, feien wir uns vielleicht
am besten, wenn wir uns zunächst einmal das Einfachste
vornehmen: sie anzusehen nicht als Träger von Theologien
und Ideen, nicht als Durchgangspunkte von Entwicklungen,
nicht als Vertreter der Kirche oder der Welt, der Rechtgläubigkeit
oder der Ketzerei, sondern als Menschen, ganz einfach
: als Menschen.

Erstes Gebot und Ehre Gottes als Mitte von Luthers Theologie

Von Franz Lau, Leipzig

Es gilt weithin fast als ein Axiom, also als ein Satz, den
man als feststehend hinnimmt und den man nicht weiter nachprüft
, daß man den grundlegenden Unterschied, der zwischen
den beiden Reformatoren Luther und Calvin besteht, auf eine
ziemlich einfache Formel bringen kann. Die Formel lautet ungefähr
so, daß der Unterschied im Gottesbegriff liegt. Bei
Calvin dominiert im Gottesbegriff die Majestät Gottes, seine
unbedingte Souveränität, seine Ehre, die anerkannt und
durchgesetzt werden muß. Bei Luther hingegen dominiert im
Gottesbegriff die grenzenlose Barmherzigkeit, die schenkende
Liebe.

Die Belege dafür, daß Calvin immer den majestätischen
Gott vor Augen hat, der seine Ehre keinem anderen läßt und
seinen Ruhm nicht den Götzen, lassen sich aus Calvins Worten
unschwer beiziehen. Aber nicht nur, was Calvin gesagt und
geschrieben hat, weist immer auf die gloria Dei, sondern auch
Calvins Handeln, sein kirchliches Regiment in Genf und seine
große Kirchenpolitik werden doch nur verständlich von der
Ehre Gottes her, der, wie er meint, Anerkennung geschaffen
werden muß. Es gilt, in der Praxis der Kirche den majestätischen
Anspruch Gottes zur Geltung zu bringen.

Dafür, daß im Mittelpunkt von Luthers Denken der
grenzenlos barmherzige Gott steht, sind Belege in Luthers
Schriften, Vorlesungsnachschriften und Predigten in Fülle
vorhanden. Läßt sich auch bei Luther das kirchliche Handeln
von dem Ansatz im Gottesverständnis verstehen ? Luther
mußte offenbar ganz und gar daran gelegen sein, diese unendliche
Barmherzigkeit zu preisen und Menschen zu sammeln,
die an sie glauben. Alles andere konnte gleichgültig sein.
Der Trieb, die Gemeinde aufzubauen so, daß der Majestät
Gottes damit Genüge getan war, konnte gar nicht da sein,
wo nicht die Majestät, sondern die Barmherzigkeit Gottes die
große Erfahrung war.

Es ist durchaus verständlich, daß der Grundunterschied
zwischen Luther und Calvin immer wieder an der bezeichneten
Stelle gesehen wird. Was Luther betrifft, so läßt es sich
nicht nur als Tatsache feststellen, daß sein ganzes Sinnen,
Glauben und Denken um die sündenvergebende Barmherzigkeit
Gottes kreiste. Es läßt sich doch auch genetisch darlegen,
wie Luther dazu gekommen ist, so einseitig nach dem gütigen
Herzen Gottes zu blicken. In seinen Klosterkämpfen hat
Luther einen Wandel des Bildes Gottes erlebt. Schrecklich
stand vorher vor ihm das Bild des Zornesgottes, des souveränen
Herrn, der Gehorsam verlangte und nicht die kleinste
Abweichung von seinem Gebot duldete. Aber als er erkannte,
daß das Evangelium nicht die Gerechtigkeit Gottes offenbart.

die er bei sich hat und vor der wir zusammenbrechen, sondern
eine Gerechtigkeit, mit der er uns beschenkt, fühlte er sich
ins Paradies versetzt. Daß Luther also vor allen Mitrcforma-
toren so warm und so ergriffen von der unumschränkten Liebe
sprach, ist kein Wunder. Nur er hat diese Kämpfe um den
gnädigen Gott durchgemacht. Vielen hat er den Gott, der den
Sünder rechtfertigt, gezeigt. Er allein aber hat sich aus
innerster furchtbarer Bedrängnis ursprünglich zu dem Gott
der Gnade heimgefunden.

Das leuchtet gewiß alles ein. Und daß der beschriebenen
und verbreiteten Sicht der Dinge eine Fülle richtiger und
treffender Beobachtungen zugrunde liegt, soll gar nicht bestritten
werden.

Dennoch läßt sie sich, was Luther betrifft, so schwerlich
halten. Behauptet man, daß bei Luther die Barmherzigkeit
Gottes dominiert, während die Ehre und Majestät Gottes bei
ihm zurücktritt oder die andere Seite des Bildes Gottes bei
ihm gar verkümmert ist, so muß man es sich gefallen lassen,
Seite um Seite von ihm selber widerlegt zu werden. Der
Luther, der seine Rechtfertigungslehre ausformt, kämpft
nicht einen Kampf für Gottes Barmherzigkeit und gegen
seine unbedingte, uns beugende Souveränität. Er kämpft auch
nicht etnen Kampf für die Barmherzigkeit Gottes derart, daß
das Bild des majestätischen Gottes zwangsläufig dabei verblassen
muß. Vielmehr kämpft er bei dem Ringen um das
rechte Verständnis der paulinischen Botschaft von der rechtfertigenden
Gnade Gottes einen ganz bewußten Kampf für
die gloria Dei. Es geht ihm ausgesprochenermaßen darum,
daß Gott nach aller Verunehrung, die er bislang durch die
mittelalterliche Theologie erfahren hat, endlich zu seiner Ehre
und zu seinem Rechte komme. Auch bei Luther ist vorhanden
ein ganz starkes Pathos der glorificatio Dei, und zwar auch
und sogar gerade dort, wo er die Barmherzigkeit Gottes preist.
Der Nachweis soll in den folgenden Zeilen versucht werden.

Man kann das auch so ausdrücken und weiterführen, daß
man sagt: es geht Luther überall um den Gehorsam gegen
das erste Gebot, und zwar in seiner ganzen Theologie, insbesondere
in seiner Rechtfertigungslehre. Dabei ist von nicht
sehr großem Belang, wie oft Luther ganz ausdrücklich auf
den Wortlaut des ersten Gebotes Bezug nimmt. Oft tut er es.
Andernorts wird olmedies deutlich, daß es ihm um den Gott
geht, der seine Ehre mit niemand teilen will und ausschließliche
Furcht, Liebe und Vertrauen beansprucht. Gelegentlich
leiht auch die erste Bitte des Vaterunsers die Worte für das,
worum es Luther geht. Luther hat seine Theologie bekanntlich
in Abgrenzung zu einer unerlaubten theologia gloriae als