Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948 Nr. 12

Spalte:

713-720

Autor/Hrsg.:

Rückert, Hanns

Titel/Untertitel:

Personale Geschichtsbetrachtung 1948

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

713

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 12

714

keit als ,.untüchtig" — sie bedeutet ein übergehen von der
Gerechtigkeit des Glaubens zu der Gerechtigkeit der Werke —
das Wiedertaufen kommt als die „bessere Gerechtigkeit" zu
stehen. Luther sieht hier den Abfall der Galater von der Gerechtigkeit
des Glaubens wiederholt — ,,Wir Deutsche sind
rechte Galater und bleiben Galater", und das ist ein Meisterstück
des Teufels. Dieser konnte es nicht leiden, daß die
Deutschen „durchs Evangelium Christum recht erkannten",
nämlich die Gerechtigkeit des Glaubens — daher schickte er
die Wiedertäufer (26, 162, 17 ff )-

Es ist also zuletzt die Reinheit des Rechtfertigungs-
glaubens, um derentwillen Luther sich gegen die Wiedertaufe
und damit überhaupt gegen den Ersatz der KT durch die allgemein
geforderte Erwachsenentaufe wendet. Wie tief er dabei
das Wesen des Glaubens verstanden hat, mag zuletzt noch
an einer der größten Stellen gezeigt werden. Man darf die

Taufe nicht auf den Glauben bauen, denn weder Täufer noch
Täufling sind des Glaubens ganz gewiß, sie stehen jedenfalls
in der Gefahr und Anfechtung der Ungewißheit. „Denn es
kommt, ja es gehet also zu mit dem Glauben, daß oft der,
so da meinet, er glaube, nichts überall glaube, und wiederum,
der da meinet, er glaube nichts, sondern verzweifele, am
allermeisten glaube" (26, 155, 16 ff.). Es ist zweierlei: tatsächlich
glauben und: um seinen Glauben wissen. Jesus sagt: „Wer
da glaubet . . .", nicht: „Wer da weiß, daß er glaubt". „Glauben
muß man, aber wir wollen noch könnens nicht gewiß
wissen" (155, 21 ff.). Luther kannte die Anfechtung, in der
ich nicht mehr weiß, daß ich glaube, und doch ebendann vielleicht
gerade recht glaube. Weil es so um den Glauben stellt,
kann und darf man die Taufe nicht von des Täufers und Täuflings
Gewißheit um den Glauben des Täuflings abhängig
machen.

Personale Geschichtsbetrachtung

Einleitende Überlegungen zu einer Vorlesung über Kirch enge schichte der Neuzeit

Von Hanns Rückert, Tübingen

Die Vorlesung, die diesem Aufsatz zugrunde liegt und deren Form
ich nicht vollständig zerstören wollte, wurde am Anfang des Wintersemesters
1946/t7 inTübingen gehalten. Ich widme sie Horst Stephan
zum 75. Geburtstag am 27.9.1948. Möchte der Verfasser des
4. Bandes des „Handbuchs der Kirchengeschichte" und der „Geschichte
der evangelischen Theologie seit dem Deutschen Idealismus
" dem jede Vorlesung über neuere und neueste Kirchen-
geschichtc Grundlegendes verdankt, in den folgenden Gedanken
auch einen Widerhall seines Lebenswerks entdecken können!
Je mehr der Historiker mit dem Gang der Jahrhunderte
vorwärtsschreitet und sich der eigenen Zeit nähert, desto erregender
wird für ihn die Beschäftigung mit dem Vergangenen.
Zwar hat alle Geschichte, auch die älteste, eine Beziehung auf
die Gegenwart, indem sie uns unsere Existenz und die Welt,
in der wir leben, in ihrer historischen Bedingtheit verstehen
lehrt. Aber diese Aktualität ist bei der Beschäftigung mit
früheren Jahrhunderten sehr verborgen. Es bedarf intensiver
Arbeit und eines geschulten historischen Auges, um die Linien
zu erkennen, durch die die Gestaltungen des Altertums und
des Mittelalters mit der Gegenwartsproblematik verbunden
sind, und auch noch im Umgang mit der Epoche der Reformation
und Gegenreformation weht uns von dem ganz anderen
Lebensgefühl und Selbstverständnis dieser Menschen her
immer wieder der Hauch einer Befremdung erkältend an. Er
schafft eine Distanz, die es uns manchmal fraglich macht,
ob wir diese Menschen überhaupt wirklich verstehen.

Das wird anders in dem Augenblick, wo wir mit dem Zeitalter
des Pietismus und der Aufklärung die Schwelle der Neuzeit
überschreiten. Von da an drängt sich jedem ganz unmittelbar
und mitunter fast quälend das Bewußtsein auf, daß
wir es auf Schritt und Tritt mit den bewegenden Kräften
unserer eigenen heutigen Welt, mit ihren guten und bösen
Geistern zu tun bekommen. Dem gegenüber, was hier geschieht,
kann man auf keinen Fall in der Rolle des mehr oder weniger
interessierten Zuschauers verharren. Die Dinge rücken uns
mit einer beunruhigenden, aufdringlichen Unabweisbarkeit
auf den Leib und fordern zur Stellungnahme heraus. Die Gefühle
werden angesprochen, und zwar nicht mehr bloß unsere
Sympathie und Antipathie, wie wir sie ja wohl auch älteren
Erscheinungen gegenüber aufbringen, sondern in einem viel
tieferen, leidenschaftlicheren Sinn, im Sinne geistiger Entscheidungen
, die sich niit ihnen verbinden. Denn mit jedem
Jahrzehnt, das wir zurücklegen, schallt es uns lauter entgegen
: Tua res agitur. Wir sehen immer deutlicher, wie sich
aus dem, was die Menschen dieser letzten Jahrhunderte tun,
ein Gewebe zusammenspinnt, das wir nur zu gut kennen: das
Gewebe unseres eigenen Schicksals. Jede richtige Erkenntnis
, die da gefunden wird, jede gute, tapfere und gehorsame
Tat, die da geschieht, spüren wir als eine Kraft in uns selbst.
Und umgekehrt: jedes Versäumnis, jeder Irrtum, jede Fehlentwicklung
, die wir in der Geschichte beobachten, brennt
uns als eine Wunde am eigenen Körper, lastet auf uns als unser
Fluch, lähmt uns in unserem Werk. Es verwandeln sich allmählich
die Gesichter der Menschen, die da in der Geschichte
handeln. Sie kommen uns immer bekannter vor; sie nehmen
immer mehr unsere eigenen Züge an; schließlich, am Endpunkt
, sind sie wir selbst. Wir meinten, durch ein Fenster in
eine fremde Welt hinauszublicken, und nun merken wir plötzlich
: Es ist gar kein Fenster, es ist ein Spiegel, in den wir
hineinsehen, der große Spiegel der Geschichte, an dem niemand
vorübergehen darf, dem es ernst ist um das „Erkenne
dich selbst!"

Mit alledem werden gerade am Studium der neuen Zeit
einige wichtige Züge im Wesen aller rechten Geschichtsbetrachtung
deutlich. Wem es nirgendwo klarzumachen ist,
der sollte es hier lernen können, daß Geschichte treiben heißt:
einen notwendigen Akt menschlicher Selbstbesinnung vollziehen
. Die geschichtliche Erkenntnis fällt zusammen mit dem
Offenbarwerden der verborgenen Gegenwärtigkeit alles Vergangenen
, und die Beschäftigung mit der Geschichte ist keine
beschauliche, sondern eine sehr aufregende Sache. Sie wird
fruchtbar in demselben Maß, wie sie durch Entscheidungen
hindurchgeht, feste Positionen in den geistigen Kämpfen der
Gegenwart bezieht und Verantwortung zu tragen bereit ist.

Allein es ist wie überall in dieser gebrechliehen Welt: Wo
viel Licht ist, da ist auch viel Schatten, und mit Erkenntnissen
sind immer zugleich Versuchungen verkoppelt. Die
Aktualität, die der Thematik der Neuzeit innewohnt, feit
unsere Geschichtsbetrachtung gegen die Gefahr eines historischen
Objektivismus. Aber zugleich führt sie die Gefahr des
anderen Extrems herauf: die Gefahr einer subjektivistischen
Mythologisierung der Geschichte.

Es bleibt dabei: die Gegenwartsbezogenheit ist eine Seite
am Wesen der Geschichte, und wem sie sich nicht erschließt,
dem bleibt — um ein Wort F. Chr. Baurs abzuwandeln — die
Geschichte ewig tot und stumm und die Beschäftigung mit
ihr ein im tiefsten unfruchtbarer geistiger Luxus. Aber es gibt
eine Verkürzung und Aufhebung des historischen Abstandes,
eine Art von Vergegenwärtigung des Vergangenen, die ihrerseits
auch wieder gegen ein Grundgesetz des Verhältnisses zur
Geschichte sündigt und die ebenfalls gerade die feinsten und
aufschlußreichsten Stimmen, die aus der Vergangenheit an
unser Ohr dringen wollen, unweigerlich zum Schweigen bringt
Wenn wir feststellen, daß die Menschen der Geschichte uns
immer ähnlicher werden, je näher sie uns zeitlich rücken, so
bleibt doch diese Aussage relativ und schließt immer noch den
Hinweis auf ihre — ebenso relative — Andersartigkeit in sich
ein. Gewiß fühlen wir uns mit den Menschen etwa der Zeit
um 1900 wesentlich näher verwandt als mit denen des Reformation
» j ahrhunderts. Aber um zu ermessen, wie tief wir auch
von ihnen noch geschieden sind, brauchen wir uns nur vorzustellen
, daß einer von uns unter ihnen oder einer von ihnen
unter uns leben müßte, und die zeitlose Problematik des
Vater-Sohn-Verhältnisses erinnert uns daran, welche Schwierigkeiten
sich schon und gerade dem Verständnis zwischen
zwei unmittelbar aufeinander folgenden Generationen entgegenstellen
. So kommt der Prozeß der Angleichung niemals
zu einem Abschluß, solange er wirklich in der Geschichte
spielt, und der Augenblick, wo er sich vollendet, wo die handelnden
Personen wirklich wir selbst sind, ist zugleich der
Augenblick, in dem die Geschichte für uns aufhört — worin
es begründet liegt, daß niemand die Geschichte seiner eigenen
Zeit schreiben kann.

Bedingung der geschichtlichen Erkenntnis ist also nicht
nur das Einsichtigwerden der Gegenwärtigkeit alles Vergangenen
, sondern ebenso sehr auch das Wissen um sein unwiderrufliches
Vergangensein. Jener erkältende Hauch der Be-
fremdung, von dem wir sagten, daß er uns aus den alten Zeiten
anwehe und uns die Möglichkeit des Verstehens manchmal
zweifelhaft mache, gehört wesensmäßig zum Erlebnis der Ge-