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Ausgabe:

1948 Nr. 11

Spalte:

665-670

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barth, Markus

Titel/Untertitel:

Der Augenzeuge 1948

Rezensent:

Käsemann, Ernst

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 11

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12 ff. und 1. Kr. 15, 12 ff. nicht die des gnostischen Denkens,
verständlich nur aus der Urmenschenidee ?

3. Da in der Tat die Ewigkeit im neutestamentlichen
Denken als fortlaufende Zeit vorgestellt ist, kann der Verf.
mit Recht Christus als die Mitte der Zeitlinie bezeichnen, —
nicht aber als die Mitte der Geschichte oder Heilsgeschichte.
Nach urchristlichem Denken ist Christus vielmehr das Ende
der Geschichte und Heilsgeschichte. Die Erscheinung
Jesu, „als die Zeit erfüllt war" (Gl. 4, 4), bedeutet das eschato-
logische Ereignis, das dem alten Äon ein Ende setzt. Hinfort
kann es keine Geschichte mehr geben, auch keine Heilsgeschichte
, welche eben in ihm ihr Ziel erreicht hat. Freilich
steht das letzte Drama, in dem die eschatologischen Ereignisse
der Sendung bzw. des Kommens Jesu, seines Todes und
seiner Auferstehung ihren Abschluß finden werden, noch be-
yor. — abgesehen von Joh., für den auch jenes Drama, nämlich
die Parusie, die Totenauferstehung und das Gericht, schon
geschehen ist und geschieht. Durchweg wird sonst die Parusie
und was mit ihr zusammenhängt als in nächster Zeit sich ereignend
erwartet, und aus dem Ausbleiben der Parusie
erwächst für das Urchristentum, zumal das aus der jüdischen
Tradition genährte, ein drückendes Problem, dessen Gewicht
Alb. Schwätzer und M. Werner wie Fr. Buri mit Recht
stark empfunden haben, während der Verf.es zu bagatellisieren
sich bemüht. Er versucht es mit Hilfe eines Vergleichs:
wie die Entscheidungsschlacht in einer relativ frühen Phase
eines Krieges schon geschlagen sein kann und doch der Krieg,
wenngleich schon entschieden, noch weitergehen kann, so ist
durch das Christusgeschehen schon alles entschieden, und es
liegt nichts daran, wie lange die Vollendung noch aussteht
(72 f.). Aber ist dieser Vergleich überzeugend, wenn die von
Paulus zu seinen Lebzeiten erwartete Parusie sich nun schon
um etwa 1900 Jahre verzögert hat ? Jedenfalls hat das Urchristentum
nicht so gedacht.

Ich sehe nicht, daß irgendwo im NT Kreuz und Auferstehung
Christi als „Mittelpunkt und Sinn alles Geschehens",
als „zunächst rem temporaler, dann aber auch als orientierender
, d. h. sinngebender Mittelpunkt des ganzen zeitlich
sich abwickelnden Geschehens" (74) aufgefaßt worden sei. Vielmehr
ist über den Sinn des fortlaufenden Geschehens überhaupt
nicht reflektiert worden, auch nicht bei Joh.,für den sich Parusie,
Totenauferstehung und Gericht schon ereignet haben, und für
den der weitere Zeitlauf nur der Weitervollzug solchen eschatologischen
Geschehens, aber keine „Heilsgeschichte" mehr sein
kann. Daß das Wesentliche des tyyixev 1) ßamkeia freilich die
Chronologie betreffe, jedoch nicht in dem Sinne, daß die Nähe
des Endes betont sei, sondern daß eine neue Zeiteinteilung
proklamiert werde (75 f.), ist doch eine gequälte Verlegenheits-
auskunft. Daß die Frage nach dem Wann der Parusie im Urchristentum
ihr Gewicht allmählich verliert, ist im Blick auf
die späteren Schriften des NT, wie die Past. und Act., gewiß

1-----n„„i,t- türmte mau die Kon-

fernung von Job. erweist sich dadurch. Und nicht die konsequente
Ausbildung des hcilsgeschichtlichen Denkens, sondern
vielmehr sein Nachlassen tut sich darin kund. Man darf gewiß
, der johanneischen Interpretation der Eschatologie folgend
, sagen, daß die Frage nach dem Wann der Parusie für
konsequent gläubiges Denken ihre Berechtigung verloren hat;
aber man darf doch nicht das für das Urchristentum bestehende
Problem eliminieren und verkennen, daß die Konsequenz
erst bei Joh., wenngleich vorbereitet durch Paulus, gezogen
worden ist.

4. Da der Verf. die aus dem Ausbleiben der Parusie erwachsende
Problematik eliminiert, tritt ein damit zusammenhängendes
, im Grunde weit wichtigeres Problem kaum in
seinen Blick, nämlich das der Zeitlichkeit des christlichen
Seins. Die Glaubenden, die durch Christus von der Welt und
ihren Mächten Befreiten, die Gerechtfertigten und mit ihm
zu einem Leibe Verbundenen sind ja xmfrj xzims; sie sind ent-
weltlicht und als die äywi in die eschatologische Seinsweise
versetzt. Wie kann ihr eschatologisches Sein noch als zeitliches
Sem verstanden werden ? Die Antwort darauf ist nicht etwa
schon damit gegeben, daß doch die Ewigkeit des neuen Äon
auch als Zeitlinie vorgestellt werde; daraus würde ja nur
folgen, daß das eschatologische Sein ein innerzeitliches ist.
Aber ein Dasein innerhalb der Zeit ist etwas anderes als die
Zeitlichkeit des Seins selbst. Also: wie ist Zeitlichkeit des
eschatologischen Seins überhaupt vorstellbar ? Und diese
Frage ist ja dringend gestellt, da die Zeit noch weiterläuft und
die Parusie ausgeblieben ist! Die zeitliche Existenz bedeutet
doch Existieren in jeweils neuen Entscheidungen, in jeweils
neuen Begegnungen, sei es von Menschen, sei es von Schicksal!
Wie kann es das geben für den, für den die Entscheidung
schon ein für allemal gefallen ist ? Wie kann es Schicksal und
Anfechtung durch Leiden und Tod geben für den, der mit
Christus gestorben und auferstanden ist ? Wie Versuchung
durch die Welt (oder durch den Satan) für die Entweltlichten ?
Wie einen ethischen Imperativ für den, für den das Gesetz
ein Ende hat ? — Allein die letzte Frage ist im letzten Teile
des Buches wenigstens anvisiert, ohne daß jedoch die Problematik
in ihrer Tiefe zur Darstellung käme. Zur Lösung könnte
sie doch nur geführt werden, wenn der Begriff des Glaubens
und das Verhältnis des Glaubensaktes zur Lebenshaltung
analysiert würden, und wenn der Begriff des Geistes, der als
supranaturale Macht vom Verf. freilich zur Hilfe aufgeboten
wird, genau bestimmt würde.

Ich darf hinzufügen, daß der Verf. mir schwerlich die Ansicht
untergeschoben haben würde, ich wolle durch die entmythologisierende
Exegese „das Zeitliche und Geschichtliche
als mythologische Einkleidung" eliminieren (25), wenn er das
Problem der Zeitlichkeit des eschatologischen Seins in den
Blick gefaßt hätte. Daß er dieses Problem, das Gerh. Delling
in seinem Buche „Das Zeitverständnis des NT" (1940) wenigst
spateren ouauwu könnte man die Kon- stens empfunden hat, nicht aufgegriffen hat, ist für mein Ge

nichtig, und mit einem gewissen R^111 Äfend anerkennen. fühl der schmerzlichste Mangel au diesem inhaltreichen un
•truktion des Veif.s als tur Act. ais wuoia .klupen Nnrli

Ihre zeitliche Entfernung von Paulus und ihre sachliche Ent- klugen Buch.

NEUES TESTAMENT

Barth, Markus, Pfarrer: Der Augenzeuge. Eine Untersuchung über die
Wahrnehmung des Menschensohnes durch die Apostel. Zollikon-Zürich:
Evangelischer Verlag 1946. XVI, 368 S. gr. 8».

Eine sehr handfeste Theologie wird hier dargeboten. Daß
die Leiblichkeit das Ziel aller Gotteswege sei, wird dem Leser
fast auf jeder Seite eingehämmert. 1. Joh. 1, 1 ist nicht umsonst
als Motto der Untersuchung vorangestellt, deren Aufriß
•geh durch diese Stelle bestimmt wird. Entfaltet B. doch die
Wahrnehmung des Menschensohnes durch die Apostel in den
drei sehr ungleichen Teilen: 1. das Zusammensein der Apostel
Wt Jesus Christus, 2. das Hören, Sehen und Betasten der
Apostel, 3. die Augenzeugenschaft und das Zeugnis der
Apostel. Der erste umfaßt 34, der dritte 15, der zweite
236 Seiten, wobei wiederum dem Hören nur 15, dem Sehen
J43 und dem Betasten 70 Seiten gewidmet werden. Schon
Solche Statistik verrät eindeutig den Schwerpunkt der Abwandlung
und das Interesse des Verf.s.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß der Apostel nicht
nur und zuerst zur Aussendung bestimmt ist, sondern dazu, „in
«•eroeinachaft mit Jesus zu sein, handgreiflich zu hören, zu
sehen, sogar zu betasten". Der Schluß greift auf diesen Anlang
zurück und begründet seine Notwendigkeit: Vereinen
**eh im Apostel und nur in ihm die drei neutestamentlichen
■^edeutniigen des Begriffes Zeuge, nämlich Tatsachenzeuge,
"•kennender und leidender Zeuge, und kommt apostolischem

Leiden in der Kirche auch ein besonderer Sinn zu, so liegt das
Gewicht unverkennbar auf dem ersten Moment. Nur in seiner
Eigenschaft als Tatsachenzeuge kann der Apostel historisch
legitimierte Wahrheit verkündigen und in Verfolg dessen auch
leidender Zeuge werden. Nur in dieser Eigenschaft garantiert
der Apostel darüber hinaus alle christliche Verkündigung, und
das in rechtlichem Sinne, wie er in dieser Bedeutung denn auch
unlöslich zur Fleischwerdung Jesu Christi selbst hinzugehört
und nicht bloß Repräsentant der Kirche, sondern zugleich der
des Christus für die Kirche ist (S. 275 Anm. 357).

Man wird diese These m. E. für die lukanischen Schriften
gelten lassen müssen. Der ganze frühkatholische Kirchen-
begriff der Akta mit seiner Traditions- und Sukzessionstheorie
steht und fällt mit diesem Begriff vom Apostolat als Garanten
christlicher Botschaft. Denn wie bei B. wird in Akta der
Apostel nicht mehr allein — urchristlich! — als Zeuge der
Auferstehung, sondern erweitert Zeuge des gesamten Christusgeschehens
genannt, und zwar um auf diese Weise die Überlieferung
der Worte und Taten Jesu als historisch verbürgt
weitergeben zu können. Man wird sogar der Meinung sein dürfen
, daß B. in der Herausarbeitung dieser Aktatendenz des
Guten eher zu wenig als zu viel tue. Wenn die auch von B.
vielberufenen 40 Tage Akt. 1, 3 zwar vielleicht spätere Interpolation
darstellen, so dienen sie zweifellos der gleichen Tendenz
, die für den Frühkatholizismus charakteristisch ist. B.
hat diese richtige Erkenntnis allerdings nicht kritisch ausgewertet
. Das würde seiner Methodik widersprechen.