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Ausgabe:

1948 Nr. 9

Spalte:

525-530

Autor/Hrsg.:

Micklem, Nathaniel

Titel/Untertitel:

Die Lehre der Reformation von der Erlösung im Verständnis des englischen Protestantismus 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 9

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not zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß allenthalben
gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt
, gehalten werden" (Confessio Augustana, Art. 7).

Es ist die Aufgabe der Lutherischen Kirche, in der ökumenischen
Arbeit auf das Zentrum hinzuzeigen, und gleichzeitig
auf die Einheit, die nicht wir hervorzubringen haben, sondern
die uns geschenkt worden ist, weil die Kirche der Leib Christi
ist und im Evangelium von ihm eine einheitliche Botschaft
besitzt. Dadurch leistet die lutherische Kirche dem ökumenischen
Einheitswerk den größten Dienst. Denn wenn die Einheit
an anderen Punkten gesucht wird, wird sie eben gefährdet
. Weil aber das Evangelium der wahre Schatz der
Kirche ist, weil die Botschaft von der Tat Gottes in Christo ihre
konstitutive Aufgabe ist, muß die Einheit der Kirche in demselben
Maße wachsen, wie sie sich in den Inhalt dieser Botschaft
vertieft. Nur durch das Evangelium und durch das
Verständins des Evangeliums geht der Weg zur Einheit der
Christenheit.

Die Lehre der Reformation von der Erlösung im Verständnis des englischen Protestantismus

Von Nathaniel Mi eklem, Oxford

Die protestantische Reformation kann unter vielen Gesichtswinkeln
betrachtet werden, als eine große Vereinfachung
der Theologie, als eine ethische Reform der Verderbtheiten in der
Kirche, als ein Schisma innerhalb der Kirche, als spiritualer
Aufschwung der nordischen Völker, als der religiöse Ausdruck
des neuen Nationalismus. Oder wiederum, die Reformation
kann in den ihr unterstellten Folgen betrachtet werden, dem
Aufkommen des Kapitalismus, der Zerreißung des mittelalterlichen
Christentums, dem Moralismus und der intellektuellen
Trockenheit, in die sie zu gewissen Zeiten fiel; tatsächlich wird
der Protestantismus manchmal als verantwortlich hingestellt
für das Chaos der modernen Welt, für den Krieg und sogar
für Adolf Hitler.

I.

Es ist hier nicht der Ort, den Protestantismus zu verteidigen
, aber sogar seine Feinde müssen zugeben, daß er eine
tiefe religiöse Auffassung darstellt (obgleich er zu oft verfehlt
, sie zu verkörpern). Es ist von Luther oft gesagt worden,
daß er in dem einen Sinne ein Häretiker war, daß er eine
Seite des katholischen Glaubens mit solcher Hartnäckigkeit
aufgriff und sie in so blendendem Lichte sah, daß er blind
wurde für jede andere Seite der Wahrheit. Die eine Wahrheit
, welche Luther aufgriff, war unmittelbar mit der Lehre
von der Erlösung verbunden.

Die Väter der mittelalterlichen westlichen Kirche hatten
großen Nachdruck auf die Notwendigkeit der Buße als Ergänzung
zu dem Werk Christi in unserer Erlösung gelegt.
Der Glaube an das Heilswerk Christi und die Kraft der Sakramente
mußten durch Selbstdisziplin und gute Werke ergänzt
werden. Die Episteln von St. Paulus dürfen nicht besonders
v«n der Epistel von St. Jacobus ausgelegt werden. Bis zu
einem gewissen Grade wurde deshalb gelehrt, daß der Mensch
nicht nur seine eigene Errettung ,,ausführen" müsse, sondern
sogar wenigstens teilweise vollenden. Darüber hinaus war die
Kirche im 16. Jahrhundert abstoßend verderbt. Eine anstößige
teilweise Illustration dafür war das Hausieren mit Bescheinigungen
, deren Erwerb, wie behauptet wurde, den Eigentümer
von entsprechend viel Qualen im Fegefeuer nach diesem
Leben erretten würde. Diese sog. Ablässe, die eine wichtige
Einnahmequelle des Papsttums waren, waren eine Beleidigung
[ür jeden geistlich gesonnenen Menschen. Diese Ablässe, verbunden
mit dem Dringen auf Werke als heilsnotwendig und
mit einem oft abergläubigen Vertrauen in die unwiderstehliche
Wirksamkeit der Sakramente verdunkelten die evangelischen
Verheißungen von der göttlichen Vergebung und von der
Natur der Erlösung als emer persönlichen Versöhnung des
Sünders mit Gott.

Die Ablässe waren eine Beleidigung für anständiges Empfinden
, aber, tiefer als das, Luther hatte in eigener qualvoller
Erfahrung entdeckt, wie unmöglich es für den Menschen ist,
versuche er, was er wolle, seine eigene Gerechtigkeit vor Gott
Aufzustellen. Eine in seiner Zeit allgemein übliche klöster-
bche Absolutionsformel lautete, wie er uns erzählt, folgendermaßen
: „Gott vergebe dir, mein Bruder. Das Verdienst der
Passion unseres Herrn Jesu Christi und der gesegneten allzeit
Jungfräulichen heiligen Maria und aller Heiligen: das Verdienst
deines geordneten Lebens, die Strenge deiner religiösen
^ngabe, die Demut deiner Beichte, die Zerknirschung deines
^erzens, die guten Werke, die du getan hast und tun sollst
!ür die Liebe unseres Herrn Jesu Christi, stehe für dich ein zur
Vergebung deiner Sünden, zum Wachstum deines Lohnes und
deiner Gnade, und zum Lohne des ewigen Lebens. Amen."
, Es würde unrecht sein, diese Formel als sorgfältige theo-
logische Äußerung zu nehmen, aber die Ausdrucksweise gibt
genau die kirchliche Anschauung jener Zeit wieder. Das erbende
Werk Christi wird nicht verleugnet, aber seine Passion
?«d mehr in unpersönlichen Begriffen des Verdienstes anstatt
111 Gegriffen rufender Liebe ausgedrückt, und die Errettung

wird glatt dazu verfälscht, wenigstens zum Teil vom Menschen
selbst und seinen eigenen Anstrengungen abzuhängen. Aber
was geschieht dann mit einem Mann, der ungeachtet aller seiner
Anstrengungen nicht sich selbst, geschweige denn Gott genug
tun konnte ? Von den Regeln und Ordnungen, die die Kirche
aufgestellt hatte, sagt Luther: „Ich bemühte mich, sie selbst
zu beobachten und zu halten, so sehr es mir möglich war; ich
kasteite meinen armen Leib mit Fasten, Wachen, Beten und
anderen Übungen mehr als alle, die heute mich so bitter hassen
und verfolgen". Der Teufel, sagte er, war sein bester Lehrer
in der Frömmigkeit, denn es war der Teufel, der ihn die Sündigkeit
und Ohnmacht des Menschen lehrte und ihn zurückwarf
auf die Gnade Christi allein. Die Gnade Christi bringt Friede
dem verwirrten Herzen:

Diese beiden Worte, Gnade und Friede (er schreibt über Qaiater 1,3)
enthalten In sich die ganze Summe des Christentums. Gnade enthält in sich
die Vergebung der Sünden, Frieden, ein ruhiges und fröhliches Gewissen. Aber
Friede des Gewissens kann nie da sein, ohne daß die Sünde vorher vergeben
ist. Aber die Sünde wird nicht vergeben für die Erfüllung des Gesetzes; denn
kein Mensch ist Imstande, dem Gesetz genug zu tun. Aber das Gesetz zeigt
vielmehr die Sünde, klagt an und schreckt das Gewissen, verkündet den Zorn
Gottes und treibt zur Verzweiflung. Viel weniger wird die Sünde weggenommen
durch Erfindungen der Menschen .. . aber wenn die Gnade und der
Friede Gottes im Herzen sind, dann ist der Mensch stark, so daß er weder durch
Widerwärtigkeit niedergeworfen werden, noch durch Wohlergehen übermütig
gemacht werden kann, sondern stracks seines Weges geht und nicht von der
Straße abirrt. Denn er faßt Herz und Mut auf den Sieg von Christi Tod; und
so beginnt die Zuversicht in seinem Gewissen über Sünde und Tod zu regieren,
weil er durch ihn Vergebung der Sünden vergewissert bekommen hat; nachdem
er sie einmal erhalten hat, hat sein Gewissen Ruhe, und ist durch das
Wort der Gnade getröstet.

Der Protestantismus ist eine Wiederbelebung des Augustinismus
nach seiner evangelischen Seite. Luthers Erfahrung
glich der St. Augustins; denn für beide ist die Gnade Christi
für den Sünder das Herz des Evangeliums. Wir können Luther
nur verstehen, insofern wir selbst einigermaßen die Verzweiflung
des Versuchs kennen gelernt haben, uns selbst gut zu
machen und uns .so selbst Gott zu empfehlen. Wir müssen
Vergebung und Versöhnung mit Gott empfangen haben als
Beginn des Lebens in Christus. Die oben zitierte Absolutionsformel
besagt, daß, wenn wir uns durch unser Betragen Gott
empfehlen können, wir dann in Kraft des Todes Christi auf
den Himmel nach dieser Zeit hoffen dürfen. Luther sagt im
Gegenteil, wenn wir auf Christus trauen, dann wissen wir, daß
wir nun Vergebung der Sünden erlangt haben, und unsere
Errettung hängt von Christus alleine ab, in keiner Weise aber
von unserer Selbstempfehlung an Gott. Selbstverständlich
meint Luther nicht, daß unsere Lebensführung und moralische
Anstrengung unwichtig wäre; aber das christliche Leben entspringt
der Vergebung; es ist nicht die Bedingung für unsere
Vergebung.

Indem er die Worte kommentiert: „der sich selbst gab
für unsere Sünden", sagt Luther:

Erwäge gewissenhaft jedes Wort Pauli und achte besonders gut auf dies
Fürwort unser; denn um zum rechten Ziel zu kommen, muß man besonders
die Fürwörter recht anwenden, die wir sehr oft in den Schriften finden - auch
da ist immer irgendeine Macht und Kraft darin . . . Ohne das Fürwort Ist es
leicht, das Verdienst Christi groß und breit zu machen, besonders daß Christus
für unsere Sünden gegeben wurde, aber für anderer Menschen Sünden, welche
es wert sind. Aber wenn das Für-Wort unser dazugesetzt wird, da schrickt
unsere weiche Natur und Vernunft zurück und wagt nicht Gott nahe zu
kommen noch sich selber zu versprechen, daß ein so großer Schatz ihr umsonst
gegeben werden solle, und deswegen will sie nichts mit Gott zu tun haben,
ohne vorher rein und sündlos zu sein; darum, obwohl sie den Satz hört oder
liest: „der sich selbst gab für unsere Sünden" oder dergleichen, so wendet sie
doch dies Fürwort unser nicht auf sich selber an, sondern auf andere, welche
würdig und heilig sind; sie selbst aber will warten, bis sie durch ihre eigenen
Werke würdig geworden ist . . . Ich sage das nicht ohne Orund, denn ich habe