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Ausgabe:

1948 Nr. 9

Spalte:

519-524

Autor/Hrsg.:

Niemöller, Martin

Titel/Untertitel:

Das christliche Zeugnis in der Welt 1948

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519

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 9

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Material wohl annehmen, daß ich Vielen von Ihnen nicht eben
aus dem Herzen gesprochen habe. Vielleicht haben Sie dennoch
bemerkt, daß ich mich wirklich von keiner Mühe, die an
unser Thema gewendet worden ist und noch gewendet werden
soll, distanzieren wollte. Ich wollte nicht niederreißen, sondern
aufbauen. Ich wollte nicht zerstreuen, sondern sammeln. Ich
wollte nicht Nein, sondern Ja sagen. Ich habe es aber nach

meiner Einsicht nur in der Form sagen können, daß ich an
das Wort erinnerte, das die Kirche als die Gemeinde Jesu
Christi immer zuerst als an sich selbst gerichtet hören
muß: „Beschließet einen Rat und es wird nichts daraus; denn
hier ist Immanuel!" Wir haben es nach meiner Einsicht nötig,
mit einem sehr vertrauensvollen, aber auch sehr aufrichtigen:
„Herr, erbarme dich unser!" an unsere Arbeit heranzutreten.

Der 23. August 1948 wird sobald nicht wieder in der Christenheit
in Vergessenheit geraten. Mit der Begründung und Konstituierung
des Ökumenischen Rates der Kirchen ist ein langerstrebtes
Ziel verwirklicht worden, und ungezählte Christenmenschen
in aller Welt teilen unsere Dankbarkeit und Freude
darüber, daß nun endlich ein weithin sichtbares Zeichen brüderlicher
Verbundenheit aufgerichtet ist.

Wir haben uns aber bei diesem Ereignis, so wichtig es sein
und werden mag, nicht aufhalten können: unser Entschluß ist
kein Selbstzweck, sondern nur ein Schritt auf dem Wege, ein
Mittel, um unseren Auftrag besser erfüllen zu können; und
dieser unser Auftrag bleibt — auch in diesen Tagen von Amsterdam
— das Maßgebliche und Entscheidende. — Uns treibt
eine Not; und sie treibt uns zueinander, weil wir sie als eine
gemeinsame und uns alle verpflichtende Not empfinden.

Die Welt, in der wir leben und wirken, ist aus den Fugen
geraten, nicht hier und da, sondern überall und in beängstigend
zunehmendem Maße. Vielfach und zumal in der „alten Welt"
macht sich eine lähmende Untergangsstimmung breit. Wir
wissen nicht, wie die vor uns liegenden Schwierigkeiten überwunden
werden können. Dieser Zweifel geht sogar noch weiter;
wir reden bereits von einem „nachchristlichen Zeitalter", in
dem wir stehen, und sehen den Untergang auf die christliche
Kirche selber zukommen.

Es ist deutlich, daß hier im Grunde etwas nicht stimmt,
daß bei uns selber in der Christenheit etwas aus den Fugen
ist. Wenn wir schlicht und einfältig mit der alten Kirche wirklich
gebetet hätten: „es vergehe diese Welt und es komme
Dein Reich!", dann würden wir auch heute, angesichts dieser
Weltlage beten können: „Ja, komm Herr Jesu!", und wir
würden ein offenes Ohr haben für den Trost und Zuspruch
seines Wortes: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so
sehet auf und erhebet Eure Häupter, darum daß sich Eure
Erlösung naht!" —

Daß wir dies offene Ohr nicht haben, das ist unsere gemeinsame
Not; daß wir mit hineingeflochten sind in den
Zweifel und die Verzweiflung um uns her, das ist unsere Last;
daß wir nicht einfach sagen können: „Die Welt erntet, was
sie gesät hat", daß wir vielmehr zugeben müssen, daß wir
selber, wir Christen, wir die Christenheit, jetzt miternten, was
wir mitgesät haben, das zeigt unsere Mitverantwortung an
für das Chaos, in dem wir uns heute mit der gesamten Menschenwelt
befinden.

Wenn heute „auf Erden den Leuten bange ist" und „die
Menschen verschmachten vor Furcht und Warten der Dinge,
die kommen sollen", dann stehen wir als Kirche und Christenheit
nicht daneben und gar darüber, sondern mitten darin.

Dieser Tatbestand ist uns Christenmenschen in meiner
deutschen Heimat während der letzten anderthalb Jahrzehnte
in zunehmendem Maße zum Bewußtsein gebracht worden, bis
wir schließlich — vor drei Jahren — unser Bekenntnis zur
„Solidarität der Schuld" mit klaren Worten haben aussprechen
müssen. In jener „Stuttgarter Erklärung" haben
wir uns als Kirche selber vor Gott und der Welt angeklagt,
daß „wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht
fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben". Wir
haben damit unsere Verantwortung für den Weg und Zustand
unseres Volkes wie zugleich unsere Schuld an der Unordnung
und dem Chaos in der heutigen Menschenwelt klarstellen
wollen. —

Dieses Zeugnis ist weithin gehört worden und hat vielerorts
ein Echo gefunden. Und wenn wir hier nun beisammen
sind, Vertreter der Christenheit aus aller Welt, und fragen
miteinander nach einem Weg inmitten der „Unordnung der
Welt", dann tun wir das nicht, um neben die vielen Pläne
zur Rettung der Welt, wie sie heute erwogen und aufgestellt
und propagiert werden, noch einen neuen Plan zu stellen, den
wir dann als unseren „christlichen" Plan propagieren wollten.

Das christliche Zeugnis in der Weh

Von Martin Niemöller, Wiesbaden

Wenn wir vielmehr nach dem „Heilsplan Gottes" fragen und
suchen, dann besteht unter uns von vornherein eine weitgehende
Übereinstimmung insofern, als wir uns als Christenheit
mit hineingestellt sehen in das Zagen und in die Furcht
und in das Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden.
Wir stehen selber unter dem Gericht Gottes, das in unseren
Tagen offenbar wird über der Menschenwelt; und mir dann
kann und wird es uns geschenkt werden, hier ein klares christliches
Zeugnis laut werden zu lassen, wenn wir dies Gericht
Gottes über uns erkennen und als gerecht anerkennen wie
der Schächer im Evangelium: „Wir sind in der gleichen Verdammnis
, und wir sind billig darin"!

Wir stehen heute als Christenheit mit der gesamten
Menschenwelt in der „Solidarität der Ratlosigkeit". Wir sind
es gewiß nicht, die einer sterbenden Welt neues Leben einhauchen
könnten, und wir verfügen nicht über ein wirksames
Rezept, das einer kranken Menschheit die Gesundung verbürgt
.

Jene „christliche" Welt, die da meinte, mit der Gelten«
machung und Durchsetzung christlicher Grundsätze die übrige
Welt christlich imprägnieren und gegen die Gerichte Gottes
feuerfest machen zu können, ist bei uns bankrott; das Feuef
des göttlichen Gerichts hat das Haus Gottes selbst ergriffen,
und die Tragbalken unserer christlichen Prinzipien sind i'1
dieser Glut zusammengekracht. — Wir Christenmenschen im
zentraleuropäischen Raum stehen in besonderer Weise unter
der Auswirkung und unter dem Eindruck dieses Gerichtes und
haben damit eine besondere Verantwortung, dies Gericht
Gottes hier den Brüdern aus aller Welt zu bezeugen; den!'
bei uns ist seit einem Jahrtausend und länger der grandiose
Versuch unternommen worden, die „christliche Welt" zu ge'
stalten in der Politik des einen heiligen römischen Reiches,
in der Gesellschaftsordnung der „christlichen" Stände, in der
verpflichtenden Sitte kirchlicher Moral und in dem festen
Weltanschauungsgefüge einer einheitlichen religiösen Dok-
trin. — Diese Stützen sind eine nach der anderen brüchig geworden
; und wenn auch unsere Väter und wir selbst viel Mühe
daran gewandt haben, sie zu flicken und wiederherzustellen,
die letzten hundert Jahre und endlich die beiden Weltkriege
haben auch die letzte schwache Hoffnung, daß es gelinge"
könnte, weggeblasen. Der Zusammenbruch ist total; und wef
darangehen wollte, diese Trümmer wieder aufzubauen, würde
dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen.

Und doch können wir uns nicht einfach abwenden und
etwas anderes beginnen. Wo hätten wir denn noch etwas
„anderes"? — Wir leben in der Welt; und wenn diese Welt
im Chaos versinkt, wie das vor unseren Augen geschieht, da»11
greift das an unser Leben. Und wir leben als Menschen 1"
dieser Welt; und wenn der Mensch sein Menschentum, seine
besondere menschliche Würde verliert, wie es bei uns am Tage
ist, dann sinken wir selber ins Chaos zurück, in die Sinnlosig'
keit, in der es kein Gut und Böse, kein Vorwärts und Rück'
wärts, kein Oben und Unten mehr gibt. — Wir sollten öfl
keinen Illusionen mehr hingeben: dieser Nihilismus als Krankheit
zum Tode ist heute da und wirksam, und wir haben kwl
Mittel, ihm Einhalt zu gebieten; denn wir verfügen weder
über die Möglichkeit, diese chaotisch gewordene Welt wiede
in Ordnung zu bringen, noch auch die geschändete Würde de»
Menschen wiederherzustellen. —

Gerade wir Christen können und dürfen uns dieser ,,S°n'
darität der Ratlosigkeit" nicht entziehen und damit falsch
Hoffnungen wecken. — Es ist unverantwortlich und nicht W
ertragen, wenn man bei uns in Europa, ja bei uns in Deutsch'
land noch Stimmen hören kann, die besagen: Hättet ihr m1
auf uns, auf die christliche Kirche gehört, dann wäre das g"ilZ,
Unheil nicht gekommen! Und dabei stehen wir als Kirche u'j
Christenheit selber unter Gottes Gericht: „Wehe eiic'1^
Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehnte
die Minze, Dill und Kümmel, und lasset dahinten das Schwerst