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Ausgabe:

1948 Nr. 8

Spalte:

493-494

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Noll, Balduin

Titel/Untertitel:

Das Gestaltproblem in der Erkenntnistheorie Kants 1948

Rezensent:

Menzer, Paul

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4Ö3

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 8

494

richtig wird anerkannt, was allgemein gültig und notwendig
ist. „Allgemein gültig" heißt: „Jeder kommt zu demselben
Ergebnis". „Notwendig" ist ein Vorgang, der sich aus einem
frül leren durch die allgemein gültigen Naturgesetze ergibt.
Wenn man sagt, ein Urteil sei wahr, so meint man damit,
daß es auf irgendeine Weise den objektiven Sachverhalt
decke.

Um die zweite Frage: „Woran erkennen wir, ob etwas
wahr ist?" zu beantworten, muß zuerst untersucht werden,
ob es überhaupt ein allgemeines Kriterium dafür gibt. Das
Ziel der Naturwissenschaft liegt in zwei Richtungen. Erstens
will sie ein System gewinnen, das alle allgemeinen (essentiellen
) Urteile umfaßt, so daß sich alle besonderen Naturgesetze
aus bestimmten, einfachsten, grundlegenden Sätzen
herleiten lassen. Dingler nennt dieses System den „theoretischen
Urbau". Und zweitens sollen sich alle einzelnen
(existentiellen) Urteile an Hand der allgemeinen Sätze als
Folgen solcher Sachverhalte ergeben, die zeitlich weiter zurückliegen
. Die Gesamtheit der auf das hic et nunc, ibi et
tunc bezüglichen Sätze heißt der „historische Urbau". Das
Ziel der Naturwissenschaft ist also, diese beiden Urbauten zu
erstellen. Die naturwissenschaftlichen Urteile beziehen den
Grund ihrer Geltung und das Zutrauen in diese Geltung
letzten Endes aus dem Umstand, daß ihre Gesetze sich im
Laufe der Zeit immer besser und vollständiger zu einem in
sich geschlossenen widerspruchsfreien logischen System zusammenfügen
. Diese Tatsache bezeichnet der Verf. als das
,,Konvergenzprinzip". Wenn es auch kein absolutes Kriterium
gibt, nach welchem a priori entschieden werden könnte,
wieviel und was an jedem einzelnen Satze der Naturwissenschaft
wahr ist, so gibt es doch eines für das Gesamtsystem,
nämlich das Kriterium der Konvergenz der Teilergebnisse.
Wahr ist in der Naturwissenschaft das, was sich in das Gesamtsystem
der Erkenntnisse harmonisch einfügt.

Die Wissenschaft ist wohl das einzige Geistesgebiet, in
Welchem sich jeder unbedingt auf die bona fides des anderen
Verläßt und auch verlassen kann. Die wenigen Fälle, in denen
einmal bewußte Entstellungen wissenschaftlicher Ergebnisse
vorkommen, sind derartige Ausnahmen, daß im großen und
ganzen kein Forscher damit rechnet. So erweist sich die
Wissenschaft, und zwar in erster Linie die Naturwissenschaft,
als eine der größten Erzieherinnen des Menschengeschlechtes,
indem sie die sich ihr widmenden Menschen zu ruhigem und
sachlichem Denken erzieht. Aber sie wirkt nicht nur in diesem
Sinne als eine starke ethische Kraft. Der moderne europäische
Mensch, und besonders der junge deutsche Mensch, ringt um
die Frage, ob es einen Sinn hat, an die objektive Existenz
eines Wahren, eines Guten, eines Schönen, eines Heiligen an
sich zu glauben. Hier kann uns die Wissenschaft, insonderheit
die Naturwissenschaft, einen großen Dienst leisten. Sie kann
das Vertrauen der Menschheit fest begründen, daß es allem
Irrtum zum Trotz ein wirkliches Fortschreiten auf dem Wege
z"r Wahrheit gibt. Ja, sie kann sogar dem Menschen die
sichere Gewißheit schenken, daß es eine objektive Wahrheit
gibt, bevor der Mensch sich um sie bemüht, und unabhängig
davon, ob er dies überhaupt tut. Was die Wissenschaft bisher
gefunden hat, das garantiert ausreichend, daß wir auf
dem richtigen Wege sind. Denn es paßt alles so überwältigend
fcttt zusammen, daß das unmöglich bloßer Zufall sein kann. So
wird das Wissen aus einem Feind des Glaubens, als der es so
?«t erschienen ist, zu seinem Freund und zu seiner willkommenen
Stütze. Es kann dem an allem verzweifelnden
Mensehengeiste den Mut zum Glauben an objektive Werte
überhaupt wiedergeben.

Freibiirg i. Br. Gustav Mie

"oll, Balduin: Das GestaltprobUm in der Erkenntnistheorie Kants.

ßonn: Bouvicr & Co. 1946. 27 S. 8°. HM 1.80.
, Die Schrift gibt zuerst eine Kritik der Kantischen Erkenntnistheorie
und zieht aus deren Ergebnis Folgerungen,
die auf weitreichende Probleme hinweisen. Angegriffen wird
^ants Unterscheidung der zwei Quellen der Erkenntnis, der
S*ttchauung und des Verstandes, und die damit verbundene
£olgerung, daß der letztere ohne jene keinen Gegenstand ernennen
könne. Verf. weist dann auf einen Widerspruch hin,
"sofern Kant einmal die Gestalt der Gegenstände innerhalb
Anschauung gegeben vorstellt, während er an anderer
*telle sie als durch den Verstand gedacht behauptet. Es ist
•""leugbar, daß hier ein Widerspruch vorliegt, es ist aber nicht
""möglich, daß Kant ihn selbst empfunden hat, denn in der
Reiten Auflage der Kritik d. r. V. findet er sich nicht. Auf
F«jie endgültige Fassung der transzendentalen Deduktion
atte zurückgegangen werden müssen, ebenso auf die Kritik
er teleologischen Urteilskraft. So darf gefragt werden, ob die

Formulierung des Themas nicht Erwartungen erwecken muß,
die dann nicht erfüllt werden.

Nach diesem „NachVollzug des Gestaltphänomens" glaubt
Verf. zu der Folgerung berechtigt zu sein, „daß wir alle Seins-
werdung von vorgestelltem Seienden idealistisch, d.h. aus
dem inneren Wesen des Geistigen deuten müssen" (24). Er
beruft sich dabei auf die moderne Physik, deren Probleme alle
nur noch „denkmäßig" zu bearbeiten seien. Das ist sowohl
in bezug auf den Ausgangspunkt wie auf die Methode der
Forschung eine etwas unbestimmte Formulierung.

Mit diesen Einwänden soll aber nun keineswegs die von
Kant zwischen Sinnlichkeit und Verstand gezogene Grenze
als richtig liegend behauptet werden. Wie weit er aber ein
Hinausgehen über die von der Sinnlichkeit gezogenen Grenzen
durch Verstand und Vernunft für möglich hielt, könnte nur in
einer umfassenden Untersuchung, besonders des Ideenbegriffes
, klargestellt werden.

Halle/S. P. Menzer

Stier, Hans Erich: Die geistigen Grundlagen der abendländischen Kultur
. Gütersloh: Bertelsmann 11047]. 93 S. kl. 8». Kart. RM 1.80.

Das kleine Buch will der kranken Gegenwart ein Heilmittel
verschreiben und beginnt damit, das Leiden festzustellen
, das wohl niemand bestreite; die letzten Kriege hätten
die Kulturkrise nur gesteigert und sichtbar gemacht, indem
sie Werke und Mittelpunkte abendländischer Bildung zerstörten
. Daher die Frage, ob man die zuletzt beschrittenen
Wege der Technik mit allen Gefahren und Verhängnissen
weitergehen solle oder ob von der Besinnung auf die Grund
lagen europäischer Gesittung Hilfe zu erwarten sei. „Entscheidend
für die Meisterung der Kulturkrise ist unter allen
Umständen das Wissen", sagt der Verf. und setzt seine Hoff
nung auf die Wissenschaft, auf die Lehren der Geschichte.
Daß die Ursachen der heutigen Weltnot tiefer liegen, daß
es um Erkenntnis und Gefühl von Recht und Unrecht und
auf der anderen Seite um eine entscheidende Wendung geht,
scheint er nicht für so wesentlich zu halten.

Er beginnt mit einem kurzen Gang durch die „Hoch-
kulturen" des Alten Orients; das leidige Wort gehört zu den
sinnarmen Uberworten der Gegenwart. Was Ägypten und
Babylonien geschaffen haben, ist durchdrungen von der „Idee
der Ordnung", die auch beim Bau der Pyramiden „in den
Seelen jener frühen bäuerlichen Menschheit lebendig war und
sie zu solchen Werken befähigte"; ob wirklich die Vorfahren
der heutigen Fellachen so dachten und fühlten, als sie jene
lebenslange Fron leisteten, möchte ich bezweifeln. Schließlich
endet diese Kultur in Erstarrung und Verfall, und a.i
diesem ungünstigen Urteile über das Morgenland hält der Verf.
auch weiterhin fest, wenn er z. B. „zwischen Germanentum
und Orientalismus eine zweifellose Affinität findet", weil verwandte
Formen im Kunstgewerbe begegnen und die Staaten
der Germanen monarchisch sind; sogar die strengen Staatsgebilde
der Normannen werden in diese Betrachtung hineingezogen
, und noch erstaunlicher die Neigung der Germanen
zum arianischen Bekenntnis, wie denn überhaupt die Dogma-
tik des 4. und 5. Jahrhunderts, eine der wichtigsten Leistungen
griechischen Geistes, hier als ein Irrtum der Geschichte erscheint
. Daß der Islam unter das allgemeine Urteil über den
Orient fällt, versteht sich nun von selbst.

Gegenüber die „Idee der Freiheit", d. h. Hellas und
Rom. Damit gewinnt der Verf. Grund und Richtung seiner
geschichtlichen Schau. Aller Glanz fällt auf diese Seite: Fortschritt
, Humanitas, Persönlichkeit und noch mehr solche
Ehrenworte werden einer Kultur zuteil, deren Wachstum,
Blüte und Kraft über jedem Zweifel steht. Wenn freilich der
Verf. sich bemüht, auch das Römische Weltreich vor und nach
Augustus in der Idee der Freiheit leuchten zu lassen — um die
Idee der Freiheit zu wahren, habe Rom erst spät die Weltherrschaft
zum Weltreiche gestaltet —, so muß er sich eben
bemühen. Er gibt aber zu, daß auch die strahlende Antike
schließlich niedergegangen sei, und zwar aus sich heraus: die
Ratio, der kühle Verstand triumphierte über die Seele, nich 1
ohne Wirkung des angeblich so starren Orients.

Der Versuch, eine unendlich reiche Entwicklung von Anlagen
und Leistungen der Menschen unter bestimmten
irdischen Voraussetzungen, mit Schlagworten wie Ordnung
und Freiheit zu erfassen und zu deuten, bleibt nicht nur hinter
der Wirklichkeit zurück, sondern führt in die Irre; zum Glück
fügen sich die lebendigen Kräfte solchem Zwange nicht. Die
Kultur des Abendlandes sei aus Verfall und morgenländischer
Umstrickung durch das Christentum gerettet worden, durch
das westliche Christentum, während seine östliche Gestalt,
und damit seine Dogmatik, als „morgenländische Verbiegung"
abgelehnt wird. Dies Christentum, wie es der Verf. meint,