Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948 Nr. 7

Spalte:

431-433

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Aus Theologie und Kirche 1948

Rezensent:

Gloege, Gerhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

431

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 7

432

römische Recht nur noch primus inter pares ist — womit die
Gefahr entsteht, daß infolge allzu großer Spezialisierung die
verbindenden, allgemein anerkannten Werte sich verflüchtigen
. Das Buch K.s klingt aus in eine Betrachtung der
heutigen Lage des romanistischen Rechtsstudiums und der
ihm verbliebenen Zukunftsmöglichkeiten. K. tritt für eine auf
umfassende historische Erfahrung gegründete international
gerichtete Prinzipienwissensehaft ein, für ein „relatives Naturrecht
" auf romanistischer Basis. In dem Wunsche, daß
Deutschland In dieser Wissenschaft seine traditionelle Stellung
zu wahren vermöge, wird sich jeder mit ihm einig wissen. Vorbedingung
dafür scheint mir zu sein, daß der verjährte, dem
Auslande meistens ganz unverständliche Gegensatz zwischen
„Romanisten" und „Germanisten" nun endlich und endgültig
begraben werde.

Diese wenigen Zeilen konnten nur einen schwachen Begriff
von dem Reichtum geben, den K.s Buch enthält. Es
wäre Beckmesserei, geringfügige Versehen monieren zu wollen
(so z. B. daß Wiclif auf S. 70 und 123 ins J5. Jahrhundert versetzt
ist). Eher könnte man fragen, ob der nach 1933 entstandenen
Literatur nicht zu viel Ehre erwiesen wird, wenn
man sie jetzt noch in aller Breite anführt und widerlegt, wenn
Namen genannt werden, die nur verdienter Vergessenheit anheimzufallen
hätten. Zur Ehre der deutschen Wissenschaft,
auch der rechtshistorischen, muß gesagt werden, daß sie im
ganzen doch die Linie strenger Sachlichkeit und Werktreue
eingehalten hat. Andrerseits hat jene Literatur Begriffe, die
schon zum festen Bestände der Wissenschaft gehörten, manchmal
propagandistisch verzerrt — so etwa die germanischen
Einschläge im Christentum, in den Rechten der europäischen
Nationen, oder den Reichsgedanken. Trotzdem dürfen wir sie
nicht aufgeben; sie müssen aufs neue kritisch durchdacht und
in ihrer Reinheit wiederhergestellt werden. Daß K. dazu vielfach
angeregt hat, verpflichtet uns zu besonderem Danke.

Berlin H. Mitteis

Aus Theologie und Kirche. Beiträge ktirhessischer Pfarrer als Festgabe
zum 60. Geburtstag von Professor D. Hans Freiherr von Soden. Hrsg. v.
Bernhard Heppe. München: Lempp (Kaiser) 1941. 148 S. 8° » Beitr. z
Ev. Theologie. Theol. Abhandlungen, hrsg. v. E. Wolf. Bd. 6. RM 4.—
Die kleine Festgabe, die fünf kurhessische Pfarrer ihrem —
inzwischen allzufrüh heimgegangenen — theologischen Lehrer
darbringen, darf als Ausdruck einer lebensvollen Begegnung
von Theologie und Kirche bezeichnet werden. Abgesehen von
dem ersten Beitrag (s. u.), stellen die z. T. aus jahrelanger
Forschung erwachsenen Studien wissenschaftlich bedeutsame
Leistungen dar. Das gilt zunächst von der Untersuchung, die
Bernhard Heppe über „Kirchenzucht" (20—72) unter
den Leitworten „Auftrag" (I), „Erbe" (II), „Verantwortung"
(III) durchführt. I: In sorgfältiger Interpretation der Texte
Mt. 16, 13—20, Jh. 20, 21—23, Mt. 18, 15—35 wird zuerst der
Begriff „Schlüsselgewalt" geklärt. Sie geschieht in der Glaubensverbundenheit
mit dem gegenwärtigen Christus. „Binden"
und „lösen" entsprechen dem göttlichen Walten in Gericht
und Gnade. Beide Worte haben bei Jesus eschatologischen
Klang. Paulus baut die Handhabung der eiovoia aus in Richtung
wirksamer Einzelseelsorge innerhalb der Gesamtgemeinde
. „Ein erster Zusammenhang zwischen Zucht und
Buße taucht auf, immer in bezug auf das Heil. So führt Paulus
die Vollmacht der Schlüssel in Form der Gemeindezucht ein
in die werdende Kirche. Von da ab kann man erst von einer
Geschichte der Kirchenzucht im eigentlichen Sinne reden"
(32). II: Der Rückgriff der Reformatoren auf den neutesta-
mentlichen Anspruch ist von dem zentralen Anliegen getragen,
eine neue Kirchenzucht zu gestalten. Die Gegenüberstellung
von Luther und Butzer (auf dessen Schultern in allen wesentlichen
Gedanken Calvin steht) zeigt, wie sich der Reichtum
evangelischer Gestaltung von zwei völlig andersartigen Ansätzen
auswirkt. Bei Luther geschieht die Handhabung der
Schlüssel auf der „inneren Linie", im Akt der Predigt und der
Sakramentsspendung, und entsprechend dem Doppelcharakter
der Verkündigung (Evangelium — Gesetz): die Gnade weckt
(„lösend"), die Furcht reinigt („bindend") den Glauben. Die
„potestas clavium" dient, auch in der Sonderform von Beichte
und Bann, allein der Seelsorge als der „Befreiung zum Glauben
" (39). Luther sieht von jeder „gesetzlichen" Konkretisierungin
besonderen kirchlichen Handlungen ab. Bei Butzer
tritt das Lösen und Binden in den Dienst einer großen kirchlichen
Ordnung. Die „disciplina" entspringt hier dem „Geist",
der außer in dem „theozentrischen, personellen Akt der Erwählung
" lebendig ist „durch die in der sozialen Sphäre wirksame
Macht der Liebe" (36). Gemäß der „synergistischen
Theorie der Praxis" neben „theozentrischer Theologie" ordnet
die Zucht die Querverbindung von Bruder zu Bruder neben

der Gottesbeziehung. Die nach Analogie des „Reiches Gottes"
gesehene Kirche erfährt ihren Aufbau nach dem rationalen
Prinzip ihrer größtmöglichen Wirksamkeit: als tätige, werbende
, angriffsfreudige Bruderschaft, in der das Motiv das
Quietiv überwiegt. Treffend charakterisiert der Verf. die
völlig verschiedene Struktur des Zuchtgedankens bei Luther
und fiutzer mit den Bezeichnungen „Heilszucht" bzw.
„Erlösungszucht" (39, Anm. 9) und „Ordnungszucht" (40).
Bei Butzer „rangiert die Zucht als konstitutionelles Hauptelement
für die Kirche noch vor Wort und Sakrament" und
„wird zu einer Heilspädagogik großen Stils". Der historische
Rückblick schließt mit dem Nachweis, wie die auf Butzer zurückgehende
hessische Kirchenzucht-Praxis von vornherein
mit staatlicher Zwangsgewalt belastet war: hinsichtlich des
Anlasses ihres Inkrafttretens, der Art ihrer, Durchführung,
der ausübenden Instanzen; wie aber trotz unfreier Entwicklung
bleibende Erfolge aufweisbar sind: Bildung starker öffentlicher
Meinung und alteingewurzelter Volkssitte. III: In
einem ausführlichen Schlußteil wird der heutigen Kirche die
Wiedererweckung eines verbindlich geübten Zuchtamtes aufgegeben
. Der urchristlich-reformatorische Ernst ist vom Bewußtsein
der lebendigen Gegenwart Christi inmitten seiiier
Kirche wiederzugewinnen. Die Frage, ob dabei Luther oder
Butzer zu folgen sei, wird dahin beantwortet,daß heute mehr
denn je beide Gestaltungsprinzipiell erforderlich seien. Gerade
eine seelsorgerlich verstandene, im Gebet geübte Kirchen-
zucht hat um das rechte Verhältnis von Heilszucht und Ordnungszucht
zu ringen. Im Blick auf das Zueinander von
„innerer" und „äußerer" Ordnung wird manch fruchtbarer
Gedanke geäußert (etwa S. 62: „Die Wortverkündigung als
solche müßte die Kraft haben, Kirchenaustritte und Wiedereintritte
zu bewirken"). Abschließend verdeutlicht der Verf.
die Grundthese: „Die Schlüssel werden allein wirksam im
Wort" durch Hinweise auf ihre praktische Anwendung in
Predigt, Sakramentsvollzug, Einzelseelsorge, Beichte und
„Bann" (der schwierigsten Maßnahme echter Kirchenzucht!).
Der besonnenen Art, in der hier im einzelnen theologisch
legitim geurteilt wird, wird man ebenso zustimmen wie der
Erkenntnis, daß mit derGestaltung der Kirchenzucht die Glaubwürdigkeit
des Kerygmas verknüpft ist. In der Tat: „Wo die
Kirche nicht mehr wagt, im Namen ihres Herrn das Gerichtswort
zu sprechen über öffentliche Verstöße gegen Gottes Gebot
, ist auch ihr Trost im Namen des gleichen Herrn schwach
iiiul kraftlos geworden" (51).

Karl Scheig liefert in seiner historischen Studie „Die
Wetterauer Inspirantenbewegung" (73—106) einen beachtlichen
Sonderbeitrag zur Geschichte des Pietismus im 18.
und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung
wird nach Herkunft, Umfang, Literatur beschrieben. Verschiedenste
Einflüsse mischen sich: u.a. württembergische,
französische (Camisarden), herrnhutische. Zur täglichen Lektüre
der vorwiegend schlichten Leute gehören: mittelalterliche
Mystiker, Gottfried Arnold, Seb. Frank, Jakob Böhme,
Madame Guyon, die „Berleburger Bibel". Nach phänomeno-
logisch-psychologischer Darstellung versucht der Verf. die Erscheinungen
typologisch zu erfassen und sie auf ihre theologische
Bedeutung hin zu bewerten: das Intuitive und Irrationale
wird betont, die dogmatische Formulierung gemieden,
im Hang zum Subjektivismus das Objektive (Kirche und
Schrift) mißachtet. Die radikale Entwicklung trägt zur „Ent-
kirchlichung" der Religion bei und macht die Bewegung „zu
einem kleinen Vorboten der Grundtatsache des modernen Protestautismus
" (102). Die Theorie vom „inneren Wort", vom
geisterfüllten Herzen als „zweiter Offenbarungsquelle", der
mystische Drang nach Gottes Unmittelbarkeit führt zur Ignorierung
der Gnadenmittel. Geistesgeschichtlich gehören die
Inspiranten zu den „Täufern und Spiritualisten". Es deuten
sich „die modernen Probleme des unkonfessionellen, un-
dogmatischen, kirchenfreien Erlebnis- und Geistchristentums"
an (105). Damit wird uns das Problem der „protestantischen
Gestaltung" in ganzer Radikalität gestellt.

Wilhelm Wibbeling analysiert unter dem Titel „Um
die Freiheit des geistlichen Kirchenregiments"
(107—148) das Memorandum der Jesberger Konferenz von
1849, dessen Hauptverfasser der Jurist Elvers und der Theologe
Vilmar sind. Das Memorandum geht von der Einsicht
aus, daß das von der Frankfurter Nationalversammlung geschaffene
Reichsgesetz, die Grundrechte des Deutschen Volkes
betreffend (27. 12. 1848), die grundsätzliche Ablösung des
christlichen Staates durch den religionslosen Staat bedeute.
Es zieht daraus die Folgerung, daß das landesherrliche KR
( = Kirchenregiment) — auch hinsichtlich der Person des
Staatsoberhauptes — aufzuheben und nach lutherischer Lehre
(CA XXVIII) das alte bischöfliche KR in evangelischer Frei-