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Ausgabe:

1948 Nr. 7

Spalte:

393-398

Autor/Hrsg.:

Heussi, Karl

Titel/Untertitel:

Schriften zur Geschichtslogik und zur Geschichtstheologie, II. 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 7

394

der Bibel, der Religionswissenschaft, des Angriffs Nietzsches
auf die christliche Ethik, des Sozialismus und der Rassentheorie
. Zu den Gegenbewegungen gehört auch der Kampf
nicht gegen das Christentum, sondern gegen die Christenheit,
wie er von Nietzsche und Kierkegaard geführt wurde. Mit
Kierkegaard stimmte David Friedrich Strauß darin überein,
daß er die Frage: Sind wir noch Christen ? ehrlich verneinte,
„wenigstens für sich und seinesgleichen, weiterhin aber für
alle neuzeitlich gebildeten und modern denkenden Menschen".

Zum Schluß wird die ,,Bilanz des Christentums" gezogen
, die in der Aufdeckung des inneren Zwiespalts in der
Theorie und Praxis und dem Rat an die Kirchen besteht, die
Ethik vom Dogma zu trennen und sie in die Sphäre des rein
Menschlichen zu versetzen. „Was insbesondere uns Deutschen
nottut, ist, daß wir endlich das Humanitätsevangelium
unserer großen Dichter und Denker ernst nehmen, das nicht
dazu da ist, nur als klassische Reliquie verehrt, sondern um
verwirklicht zu werden, das uns aus einer erträumten übernatürlichen
Wunderwelt zurück in die natürliche Menschenwelt
, aus der Enge des Nur-Religiösen in die Weite jeder Art
von menschlicher Geistesbetätigung und aus den Niederungen
des Alltags auf die Höhe echter Menschenwürde führt."

Das alles entspricht durchaus der ganzen geistigen Verfassung
, der „Mentalität" des „neuzeitlich gebildeten und
modern denkenden Menschen". Die Kirchen und die Theologen
wissen das alles; es ist ihr Beruf darum zu wissen, und
sie selbst sind durch diese Geistigkeit hindurchgegangen oder
noch von ihr befallen und in ihr befangen. Und hier fehlt nun
bei Nestle die Darstellung und Prüfung der Gegenbewegung,
die sich gerade gegen diesen Typus des modernen Menschen
erhoben hat, der gar nicht mehr so modern ist und heute noch
dieselben Züge trägt, die ihm David Friedrich Strauß in seinem
Buche über den alten und den neuen Glauben gegeben hatte.
Nestle beruft sich mehrfach auf dieses Werk und hat von der
Kritik, die der junge noch gesunde Nietzsche einst an seinem
Verfasser geübt hatte, nur zu sagen, daß er ihn „einst in jugendlicher
Überheblichkeit blindwütig angebellt hatte, statt ihm
die Hand zu reichen".

Bei der Kritik des jungen Nietzsche an dem modernen
Menschen, von der er noch im Ecce Homo sagte: „Bis heute
ist mir nichts fremder und unverwandter als die ganze euro-
äische und amerikanische Spezies von libres peuseurs", aber
audelt es sich gerade auch um das, was Nestle so sehr am
Herzen liegt, um den religiösen Mythos, von dessen Verdichtung
zum Dogma er an einer Stelle seines Buches sagt: „Das
Schlimmste hierbei ist nicht die Mythenbildung als solche,
sondern ihre Verkennuug und Materialisieruug. Der Mythos
ist nicht sinnlos, sondern besitzt eine innere Wahrheit."

Es wäre nun leicht zu zeigen, daß die Christen aller
Zeiten von dieser inneren Wahrheit der Mythen und nicht von
den Dogmen gelebt haben, und daß das, was dem modernen
Menschen verloren ging, gerade das Verständnis dieser inneren
Wahrheiten ist, für das Nietzsche so eindrucksvoll geworben
hat: „Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd,
unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend
nach Wurzeln, sei es, daß er auch in den entlegensten Altertümern
nach ihnen graben müßte. — Die Geschichte wird euch

nur die Bekenntnisse machen, die eurer würdig sind. Die Welt
ist zu allen Zeiten voll von Trivialitäten und Nichtigkeiten gewesen
: eurem historischen Gelüst entschleiern sich eben diese
und gerade nur diese. Ihr könnt zu Tausenden über eine
Epoche herfallen — ihr werdet nachher hungern wie nie zuvor
und euch eurer Art ausgehungerter Gesundheit rühmen
dürfen."

Nietzsches und Kierkegaards Kritik an der Christenheit
ist Kritik an diesem neuzeitlich gebildeten und modern denkenden
Menschen. Während Nietzsche diesen Menschen vom säkularisierten
Christentum, von dem er seelisch immer noch lebt,
trotz aller Aufklärung, völlig befreien und dadurch in die Krisis
hineinzwingen will, hat Kierkegaard die tiefsten Fundamente
der christlichen Existenz bloßgelegt und das eigentliche Wesen
des Christentums mit solcher Schärfe herausgearbeitet, daß
die ernsten Probleme, um die es sich hier handelt, nicht mehr
verdeckt und banalisiert werden können.

Das Verständnis hierfür erwachte erst nach den Erfahrungen
des ersten Weltkrieges, denen der modern denkende
Mensch hilflos gegenüberstand. Man bemühte sich nunmehr
ernstlich um ein tieferes Verstehen aller der Dinge, die dem
neuzeitlich denkenden Menschen nicht ohne weiteres zugänglich
sind, ein Bemühen, das sich nach den Leiden unter dem
totalen Staate und den Schrecken des zweiten Weltkrieges
derart verstärkte, daß es die weitesten Kreise ergriff. Es kann
hier nur andeutend hingewiesen werden auf die Kritik am
Historismus, an Technik und Wirtschaft, auf den Wandel in
der Religionswissenschaft, die tiefere Grundlegung der Ethik,
die es nicht mehr erlaubt, eine spezielle christliche Ethik von
der Ethik als solcher zu scheiden, an die philosophische und
theologische Anthropologie, die sich um das rätselhafte Wesen
des Menschen bemüht, an die neue Ontologie, die Existenz-
philosophie und manches andere, was zum Umdenken und
Umlernen zwingt und eine Atmosphäre schafft, in der auch das
Religiöse wieder leben und von innen heraus verstanden
werden kann.

Die Krisis des Christentums sieht heute jedenfalls ganz
anders aus, als es nach der Darstellung Nestles scheinen
möchte, die an das alles, was uns heute bewegt, gar nicht
rührt und sich mit Problemen befaßt, die in den letzten
schweren Jahren hinter weit Wesentlicherem zurückgetreten
sind. Nur darin hat er zweifellos recht, daß diese Probleme
nur in den Hintergrund gedrängt, aber noch lange nicht gelöst
sind. Aber die Lösungsversuche dürften sich nach alle dem,
was sich inzwischen im geistigen und im realen Leben ereignet
hat, von dem einfachen und seit den Tagen der Aufklärung
immer wieder angepriesenen Rezept prinzipiell unterscheiden.

Uns fehlt noch ein Werk, das in die „Bilanz des Christentums
" diese prinzipielle Wandlung auf allen Gebieten des
Lebens und der Wissenschaft einbezieht und dadurch die
gegenwärtige Situation in der Tiefe trifft, aus der heraus sie
verstanden sein will. Es hilft nichts mehr, an sie von außen
heranzutreten und sie nach Maßstäben zu beurteilen, die nicht
ihr selbst entnommen sind; sie will von innen her und aus der
Innerlichkeit des Menschen, die in ihr leben, heraus verstanden
und beurteilt sein. ■

i;

Schriften zur Geschichtslogik und zur Geschichtstheologie. II.

Von Karl Heussi, Jena

Fustel de Coulanges (1830—1889) pflegte zu sagen:
Es gibt eine Philosophie und es gibt eine Geschichte, aber es
gibt keine Philosophie der Geschichte. Diese Auffassung wird
sich heute kaum noch jemand zu eigen machen. Im 20. Jahrhundert
ist die Erörterung der Probleme der formalen und der
materialen Geschichtsphilosophie sehr beliebt geworden. Die
schweren Katastrophen unserer Zeit gaben dem Nachdenken
über Sinn und Nicht-Sinn der Geschichte, über das Wesen des
geschichtlichen Verlaufs, über die historische Periodisierung,
über Masse und Individuum, über Materie und Idee usw.
immer neue Anregung. Nachdem m. W. zuerst Gustav
Droysen von einer „Theologie der Geschichte" gesprochen
hatte (zuerst als Vorwort zur Geschichte des Hellenismus
Bd. II, 1843; abgedruckt in Droysens Historik, hrsg. von
Rudolf Hübner 1937, S. 369 ff.), ist im 20. Jahrhundert auch
die „Geschichtstheologie" in Aufnahme gekommen und ge-
schichtstheologische und geschichtsphilosophische Betrachtungsweisen
sind in einen charakteristischen Wettkampf getreten
, ohne daß es bisher zu einer klaren Abgrenzung zwischen
beiden gekommen wäre, geschweige denn zu irgendwie abschließender
Behandlung der Probleme. Diese sind noch völlig
im Fluß. Die geschichtstheologische Betrachtung ist einerseits
von den vornehmlich von Kierkegaard und dem Problem
der „Existenz" bewegten theologischen Schichten geübt
worden, andererseits von Erich Seeberg (gest. 1945) und
seinem Anhängerkreise. Die im folgenden gebotene Literaturauswahl
ist durch die Zufälligkeit des Eingangs der Schriften
bei der Redaktion bedingt, ebenso wie die in meinem ersten
Artikel (ThLZ 1948,5).

In eine jy ohltuend reine Atmosphäre treten wir, wenn wir
uns den ebenSb knapp wie klar geschriebenen Darlegungen von
Gerhard Hennemann „Zum Problem der Voraussetzungs-
losigkeit und Objektivität in der Wissenschaft" zuwenden1.
Der Hauptteil klärt die Begriffe „Voraussetzung" und „Objektivität
" durch Analyse der naturwissenschaftlichen und der
geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Der Verf. vertritt die

') Hennemann, Gerhard, Dr.: Zum Problem der Voraussetzungs-
losigkeit und Objektivität in der Wissenschaft. Bonn: h. Bouvier&co.

1947. 35 s. 8". rm 1.80.