Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948

Spalte:

391-394

Autor/Hrsg.:

Leisegang, Hans

Titel/Untertitel:

Krisis des Christentums? 1948

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

391

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 7

kommen; damals jedenfalls bestand Veranlassung, die Bibel
nach Aussagen zu durchsuchen, die für das geistliche und auch
für das staatliche „Amt" von Bedeutung sein konnten.

In Wirklichkeit handelt es sich Joh. 19,11, wie wir gezeigt
zu haben hoffen, um nichts derartiges. Selbstverständlich ist
Pilatus als Vertreter des Kaisers und der staatlichen Gewalt
gesehen — aber es geht dem Evangelisten trotzdem nicht um
dessen „Amt" als solches, und alle grundsätzlichen Fragen,
die hier entstehen müssen, läßt er beiseite. "Das Imperium ist
für ihn einfach die Macht der Welt, die sich gegen Christus

stellt *Es gibt innerhalb dieses Imperiums für die Christen
keinen Beruf und keine positiven „politischen Pflichten". Die
innere Ferne zur „Welt , der tiefe Pessimismus gegenüber all
ihrem Wollen und Vermögen bestimmen im Johannesevange-
lium auch die Auffassung des Staats. Ohne die Kraßheit und
die dämonensichtige Erregtheit der Apokalypse steht es ihr insofern
doch weit näher als dem Paulus des Römerbriefs — und
das zeigt sich gerade in dem scheinbar unpolitischen wie aus
weiter Ferne kommenden Urteil, das es über die Politik
fällt.

Krisis des Christentums ?
Zu Wilhelm Nestles Buch: „Die Krisis des Christentums'

Von Hans Leisegang, Jena

Der Verfasser sagt selbst, daß dieses Buch von einem Laien
für Laien geschrieben ist und daß es dem Theologen nichts
Neues zu bringen habe. Er versteht unter der Krisis des
Christentums eine innere Zwiespältigkeit, die sich in der
Theorie und in der Praxis äußert. Der Zwiespalt in der Theorie
besteht darin, daß sich die christlichen Vorstellungen und
Lehren, insbesondere die Wunder, die nicht als Mythos, sondern
als Glaubenswahrheit verstandene Christologie und
Eschatologie, die Dogmen vom dreieinigen Gott, der Erbsünde
und der Prädestination zur wissenschaftlichen Erkenntnis
der Natur und der Menschheitsgeschichte in einen Widerspruch
von zunehmender Schärfe setzten. Der Zwiespalt in
der Praxis wird darin gefunden, daß die Lebensführung den
Anforderungen, die von der christlichen Ethik an sie gestellt
wurden, immer weniger entsprechen konnte, zumal da diese
Ethik mit der Rechtgläubigkeit verbunden, vom Glauben an
Unglaubliches abhängig gemacht und dadurch in ihrer Auswirkung
aufs schwerste beeinträchtigt wurde, so daß die
Kirche, die nur der äußere Spiegel dieser inneren Zustände
ist, heute großenteils von der Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit
ihrer Mitglieder lebt, bestenfalls von einem Gewohnheitschristentum
, das kein Glaube im Sinne einer lebendigen
Uberzeugung mehr ist.

Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben auf
theoretischem, zwischen Humanismus und christlicher Ethik
auf dem Gebiete der praktischen Lebensführung kann von
Seiten der Kirche nur durch die „Wendung von der Dogmatik
zur Ethik" gelöst werden. „Sie höre endlich auf, die Rechtgläubigkeit
als die unerläßliche Bedingung der Zugehörigkeit
zur christlichen Kirche zu verlangen und predige statt des
Glaubens die Liebe. Dann kann sie mit keiner Wissenschaft
mehr in Konflikt kommen. Dies würde allerdings die Preisgabe
des ganzen Paulinismus mit seiner Erlösungslehre und ein Zurückgreifen
auf das Evangelium selbst bedeuten. Dann wäre
intellektuelle Redlichkeit Geistlichen und Laien, die sich die
Erkenntnisse und die geistigen Werte der neuen Zeit zu eigen
gemacht haben, innerhalb der Kirche gewährleistet. Wir
werden allerdings noch einen Schritt weitergehen müssen: die
bis jetzt noch bestehende, auch im Neuen Testament vorliegende
Verzahnung von Dogmatik und Ethik muß beseitigt
werden." Das „ethische Ziel liegt ganz in der Sphäre des
Menschlichen".

Dies alles ist nichts Neues, nicht nur für den Theologen,
sondern auch für den Kenner der europäischen Geistesgeschichte
. Schon der bekannte Aufklärer Dietrich von Holbach,
der in seinem „System der Natur" einst das Handbuch des
Materialismus und Atheismus geschrieben hat, gab in seinem
vor 175 Jahren erschienenen „Systeme social" den guten Rat:
„Wenn man fragt, wie man es ermöglichen könnte, dem Volke
die Pflichten der Moral fühlbar zu machen und ihm eine Erziehung
zu geben, so werden wir antworten, daß es viel leichter
sein würde, es die klaren und einfachen Prinzipien einer natürlichen
Moral als die abstrakten Prinzipien einer religiösen und
übernatürlichen Moral zu lehren, die niemand zu begreifen
vermag. — Die Priester sind in jedem Lande die einzigen
Seelenärzte, die einzigen Moralisten des Volkes. Was für nützliche
Früchte würde man nicht aus ihrem Unterricht entstehen
sehen, wenn diese Seelenhirten die finsteren Dogmen,
die Mysterien und die Wunder, mit denen der Geist der noch
ungebildeten Menschen so lange gefüttert wurde, beiseite
ließen und sich endlich dazu bereit erklärten, ihren Herden
eine gesündere und nützlichere Nahrung zu geben."

') Nestle, Wilhelm: Die Krisis des Christentums. Ihre Ursachen,

ihr Werden und ihre Bedeutung. Stuttgart: Heinrich F. C. Hannsmann
1947. VIII, 575 S. gr. 8». Hlw. RM. 16.—.

Nestle tut nun dasselbe, womit einst die Aufklärer begannen
, nur jetzt mit Hilfe der Forschungsmethoden und der
Forschungsergebnisse, die von der Aufklärung bis zur Gegenwart
von den wissenschaftlich arbeitenden Theologen selbst
ausgebildet und erarbeitet wurden. Er schreibt ein Leben
Jesu im Stil und Geiste des Reimarus und arbeitet aus ihm
das Evangelium als eine Lehre Jesu heraus. Der „Kerngedanke
ist das Evangelium von der dreifachen Liebe: der
barmherzigen Vaterliebe Gottes zu den Menschen, der vertrauenden
Kindesliebe der Menschen zu Gott und der hilfsbereiten
Bruderliebe der Menschen zueinander, die im Reiche
Gottes zur Vollendung kommen soll".

Dann wird das Evangelium des Paulus dargestellt, des
„religiösen Fanatikers, Mystikers und Ekstatikers mit pathologischen
Zügen, die auf Epilepsie hinzuweisen scheinen". Es
ist das Evangelium von Jesus, dem Sohne Gottes, mit dem
„der verhängnisvolle Prozeß der Vergottung Jesu beginnt".
Noch weiter geht das Evangelium des Johannes, in dem
„Christus beinahe der auf Erden erschienene Gott selbst ist,
so daß der Einwand der Gegner des Christentums nicht ganz
unberechtigt erscheint, warum denn die Welt nicht aus den
Fugen gegangen sei, solange Gott seinen Thron im Himmel
verlassen habe und auf Erden gewandelt sei". Hiernach ist
man auf jede weitere billige Trivialisierung gefaßt und verfolgt
mit der entsprechenden Andacht die Darstellung des
Prozesses der zunehmenden Mythisierung der geschichtlichen
Gestalt Jesu.

Nach diesem Ansatz kann sich der Theologe alles übrige
selbst sagen und dieses Buch zu Ende schreiben. Es folgt eine
kurze Geschichte der christlichen Dogmen, besonders des
Glaubensbekenntnisses, das im wesentlichen den Christusmythos
enthält, der nun als Geschichte genommen, als Mythos
verkannt und materialisiert wird. Die Verweltlichung der
Kirche, ihre Entwicklung zur reichsten Grundbesitzerin am
Ende des Mittelalters werden beschrieben. Obwohl dann Luther
„einen für seine Zeit neuen Begriff des Glaubens aufstellte,
nämlich den des Vertrauens auf die Gnade Gottes, so war es
doch für die ganze Folgezeit verhängnisvoll, daß er sich dabei
nicht auf Jesus, sondern auf Paulus stützte. Denn dadurch
erneuerte er den paulinischen Sündenpessimismus und die
paulinische Christologie". Die Bibel wird zur alleinigen Norm
des „rechten Glaubens", der „reinen Lehre" und des „lautereu
Evangeliums".

Die unbeugsame Starrheit des kirchlichen Dogmatismus
beider Konfessionen führt zu unerträglichen Grenzüberschreitungen
in das Gebiet der wissenschaftlichen Natur- und Geschichtsforschung
. Wenn man behauptet, daß auf solchen
Spannungen zwischen Religion und wissenschaftlicher Erkenntnis
die Bewegung des geistigen Lebens beruhe, so ist
dagegen zu sagen, daß „diese doppelte Buchführung, in deren
Hintergrund das Bestreben steht, die Absolutheit des Christentums
um jeden Preis zu retten, dieses verschwommene
Sowohl-als auch anstatt eines klaren Entweder-oder die
Wahrheit auf die Dauer nicht erträgt, und man wird sich eben
entscheiden müssen, auf welcher Seite diese liegt".

Es folgt dann eine kurze Kennzeichnung der Stellung des
Christentums zu den Grundproblemen der Welt- und Lebens-
anschauung. Es wird behandelt das Verhältnis des Christentums
zur Erkenntnis, zu Gott, zur Natur, zur Geschichte, zur
Ethik, zum Staat und zum Volkstum.

Den größten Teil des Buches füllt nun die Geschichte der
Gegenbewegungen: der Renaissance, des Humanismus, der
Aufklärung, des neuen deutschen Humanismus, der Philosophie
des deutschen Idealismus, der religiösen Reaktion der
Romantik, des Pessimismus und Positivismus, des Naturalismus
und Historismus, der historisch-kritischen Erforschung