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Ausgabe:

1948 Nr. 7

Spalte:

387-392

Autor/Hrsg.:

Campenhausen, Hans

Titel/Untertitel:

Zum Verständnis von Joh. 19,11 1948

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387

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 7

38S

Zum Verständnis von joh. 19,11

Von H. v. Campen hausen, Heidelberg

Das johanneische Problem und die mancherlei johau-
neischen Probleme wären leichter zu lösen, wenn das Evangelium
nicht an allen konkreten Fragen der Welt und seiner
Umwelt und auch an allen kirchlichen Fragen der bestimmten
Organisation, Lebensführung und Ethik mit einer so befremdlichen
Gleichmütigkeit vorüberginge. Die Botschaft von der
Offenbarung Gottes in seinem Sohn, die Bedeutung und der
Sinn dieses Einen, das alles umschließt, beherrscht alle Aussagen
; dies ist das Thema des Evangeliums, und nur gelegentlich
und ausnahmsweise fällt ein unsicheres Licht auf
die Beurteilung besonderer, innerweltlicher Probleme und
sittlicher „Lebensfragen", die von hier aus bestimmt oder gerichtet
werden. Das gilt auch für die Frage nach der „weltlichen
Obrigkeit" oder, moderner ausgedrückt, nach den
politischen Pflichten und den Rechten des Staatsbürgers und
des Staats. Sie tritt nur einmal im Zusammenhang des Prozesses
Jesu in der Gestalt des Pilatus in den Vordergrund, um
dann wieder zu verschwinden. Ich glaube aber, daß auch bei
diesem berühmten Gegenüber der zwei „Machthaber" über die
Bedeutung des Politischen in Wirklichkeit nicht allzu viel oder
jedenfalls nicht das gesagt wird, was man der Stelle fürgewöhnlich
zu entnehmen pflegt.

Nach der herrschenden Auffassung enthält Jesu letzte
Antwort an den Landpfleger, Joh. ig, n, einen ausdrücklichen
Hinweis auf das obrigkeitliche Amt und dessen höhere, von
Gott gesetzte Bedeutung — ungefähr im Sinne der, wenn
nicht gar in Abhängigkeit von den paulinischen Aussagen über
die Obrigkeit im 13 .Kapitel des Römerbrief s. Darin scheinen sich
nahezu alle Exegeten von KarlB a r t h bis Emanuel Hirsch einig
zu sein. Zuletzt ist diese Auffassung besonders eindringlich
und ausführlich von Rudolf Bult mann in seinem großen
Johanneskommentar entwickelt worden1. Mein juristischer
Kollege Wolfgang Kunkel hat mich jedoch davon überzeugt,
daß diese Interpretation des Textes nicht richtig sein kann,
und ich möchte im folgenden den Versuch machen, dies zu begründen
. Außerdem habe ich für manchen förderlichen Hinweis
Herrn Kollegen Greeven zu danken, der die Diskussion
mit Kunkel wie mit mir energisch fortführte.

Die fraglichen Worte stehen im Zusammenhang des
zweiten Verhörs, das Pilatus mit Jesus unter vier Augen durchzuführen
sucht. Durch die Behauptung der Juden, Jesus habe
sich selbst zu Gottes Sohn gemacht, ist Pilatus unruhig geworden
, er scheut sich, gegen ihn vorzugehen (19, 71.).
„Jesus wird", wie Bultmann (S. 512) sagt, „Pilatus unheimlich
", und so fragt er ihn geradezu: no&tv A av; „Die Frage
hat natürlich den Sinn: stammst du von Menschen ab oder
von Gott? Bist du ein Mensch oder ein göttliches Wesen?"
Als er hierauf keine Antwort erhält, erinnert er drohend daran,
daß Jesus sich in seiner Gewalt befindet und daß es bei ihm
stünde, ihn freizugeben oder ans Kreuz zu bringen: ovx olüas tin
i^oi atav eye} aTtoXvoai os xai e^ovotav t%a> atav^woai ot; Daraufhin
bricht Jesus das Schweigen und erklärt (19, 11): <>ix
tl%te izovotav xar e/uov ovSefiiav el [irj ifv Üedopevov oot avcoü'ev.

Bultmann schreibt hierzu (S. 512 f.): „Seine Worte besagen,
daß die Autorität des Staates nicht aus der Welt stammt,
sondern durch Gott begründet ist (Anm.: ebenso Rom.
13, 1). Nicht erst das Wissen um den Bezug zu Gott
stellt die Autorität her; sie ist mit dem Amte gegeben, und
die l'iovoia des Pilatus stammt von Gott, wie er sie auch anwenden
mag. Aber um sein Amt sachlich gegenüber der Verführung
durch die Welt verwalten zu können, soll er darum
wissen." Vorausgesetzt ist dabei, daß Jesus „nicht mehr wie
18, 36 f. von seiner Person" rede; „er zeigt dem Pilatus einfach
dessen Situation, wie sie ganz abgesehen von dem Anspruch
der Offenbarung ist"!

Bultmann scheint selbst zu fühlen, daß eine solche Wendung
des Gesprächs etwas überraschendes hat. Das parallele
erste Verhör hatte sich ausschließlich um das Königtum Jesu
und nicht um Pilatus gedreht; warum wendet sich der Blick
jetzt plötzlich in eine ganz andere Richtung ? In Wirklichkeit
besteht m. E. gar keine Veranlassung, eiovoia im Sinne eines
staatlichen „Amts" zu verstehen; das Wort bezeichnet einfach

') Rud. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Krit.-exeg. Kommentar
über das NT, begr. von H. A. W. Meyer II, 10. Aufl.) 1941. Ich beschränke
mich im folgenden auf eine Auseinandersetzung mit ihm, ohne die
mancherlei Ausprägungen des Gedankens in den übrigen Kommentaren zu
verfolgen. Meiner Auffassung, die sich mit der einst von Th. Z a h n (Komm,
z. N. T. IV, 1908 1./2.) vertretenen nur äußerlich berührt, kommt nach
einer frdl. Mitteilung von R. Bultmann jetzt R. C. Hoskyns in seinem mir
leider unzugänglichen Kommentar (1947!) nahe.

das Vermögen freier Entscheidung, das Pilatus besitzt1. Jedenfalls
aber ist hier nicht auf die besondere Bedeutung des
Amtes im Sinne von Rom. 13 Bezug genommen. Jesus will
Pilatus nicht an seinen politischen Auftrag und dessen Würde
erinnern; er ironisiert vielmehr das naive Machtgefühl, das der
Landpfleger zur Schau trägt, indem er auf die besondere, geheimnisvolle
Bedeutung seiner Person und des gegenwärtigen
Moments anspielt: Jawohl, Pilatus hat Jesus in seine Gewalt
bekommen, aber nicht deshalb, weil er mit seinen irdischen
Mitteln an und für sich des Gottessohnes mächtig wäre, sondern
weil ihm Jesus jetzt „von oben", d. h. von Gott her
übergeben ist, tlamit er den Kelch des Sterbens trinke (18, 11) *.
Jesus, der nach dem Gebot seines Vaters seinerseits die i£ovoia
besitzt, sein Leben hinzugeben und wiederzunehmen (10, 18),
weiß, daß jetzt seine „Stunde"3 gekommen ist, unel (las, was
er Pilatus sagt, ist nichts anderes als eine den besonderen Umständen
angepaßte Wiederholung eines schon früher (3, 27)
gesprochenen Wortes: ov Övvarai ärfrotoTios Xo.^ißdvuv ovbev iav //ij//
Sidofttvov aviiö ix rov oipavot. Sofern es jetzt auch das Besondere
, Einzigartige der Person Jesu hervorhebt, wird es zur
genauen, wenn auch verhüllten Antwort auf das, was Pilatus
gefragt hat, und ihrem Sinn nach wird die Antwort wieder
zu einer rein christologischen Aussage.

Jesus spricht also noch einmal das Bekenntnis zu seiner
Person aus oder bestätigt — johanneisch ausgedrückt — Gottes
Urteil über seine Person. Er ist Träger einer einzigartigen,
eben der göttlichen i^ovaia, und so, nicht, wie Bultmann
meint, als Erinnerung an seine politischen Pflichten, hat Pilatus
die Worte Jesu in der Tat auch richtig verstanden: er
sucht, von Angst ergriffen, Jesus den Uber-Mächtigen, den
Göttlich-Unheimlichen freizulassen (19, 12). Gerade dabei
stellt sich ihm jetzt aber die Politik, das angebliche politische
Interesse des Kaisers in den Weg: gegen seine religiöse Scheu,
die vor Jesus zurückweichen möchte, erhebt sich das wilde
Geschrei der Juden: täv tovtov &7io).io>,e, oixl (pÜ.oitov Kataapa,
und mit diesem Argument setzten sie sich gegen Pilatus
tatsächlich durch. Auf die Frage, ob die Würde des staatlichen
Amts, ob das Recht und der Name des Kaisers hier
in Wirklichkeit mißbraucht worden sind oder nicht, wird m. E.
überhaupt nicht reflektiert; diese Frage interessiert Johannes
nicht und wird von ihm nicht gestellt. Er reflektiert nur auf
den großen bleibenden Gegensatz zwischen dem König der
Wahrheit und dem irdischen Herrscher, zwischen dem Reich,
das von dieser Welt, und dem, das nicht von dieser Welt ist.
Gewiß droht der irdischen Gewalt kein Angriff von dem
Reich der Christen (18, 36). Aber das kann denen, die auf der
Gegenseite stehen, nicht genügen. Die Juden formulieren den
Gegensatz in ihrer politischen Weise mit aller Schärfe: wer
sich selbst in irgendeinem Sinne zum König macht, der steht
wider den Kaiser (19, 12), und wer zum Kaiser hält, kann
keinen anderen König gebrauchen (19, 15).

Man könnte hiergegen nun allerdings einwenden, daß aus
solchen Worten eben die Juden redeten, die für Johannes die
„Welt" vertreten und deren Glaube und Haltung gerade verworfen
wird. Aber das Verwerfliche ihres Verhaltens liegt nun
doch, zunächst jedenfalls, einfach darin, daß sie Jesus als ihren
König verworfen haben, und es ist damit durchaus nicht gesagt
, daß die Alternative selbst von ihnen nicht etwa ganz
richtig gestellt oder gesehen sein kann.» Im Gegenteil, es wäre
erstaunlich, wenn der Evangelist, der kein anderes als ein
heidnisches, das Bekenntnis Christi verfolgendes Kaisertum
mit höchsten religiösen Ansprüchen kennt, an dieser Stelle
gerade die Vereinbarkeit des kaiserlichen Dienstes mit dem
Christusdienst betont hätte.« Die modernen dialektischen Reflexionen
darüber, wie weit auch der heidnische oder entartete
Staat sein Recht und seine Würde behält und wie seine
„wahre" Aufgabe eigentlich, an sich oder „schöpfungsmäßig"
zu verstehen sei, sind für das gesamte Urchristentum keineswegs
so selbstverständlich und naheliegend, wie wir heute

') Andernfalls wäre schon das „Haben" der i^ovaia eine zum mindesten
auffällige Formulierung; und auch das Neutrum Seio/ihurzeigt, daß der Evangelist
hier mehr auf das persönliche Haben des Pilatus schaut als auf das, was
er hat. Denn in diesem Fall müßte man vielmehr diÖofihr] erwarten
(Greeven; ähnlich Zahn a. a. O. S. G32).

!) Vgl. M.J. Lagrange, Evang. selon S. Jean (1936) 483: il fallalt
une permission, nieme Line volonte speciale de Dieu, pour que Pilate puisse
rendre une sentence efficace au suget du Fils de Dieu. — Darin liegt natürlich
keine besondere Auszeichnung des Pilatus; vgl. Luk. 4, 6; Apk. 13, 6. 7.

■) Im Sinne von Joh. 7, 30; 8,20; 13,1; vgl. Luk. 22, 53 — ein Text,
den schon üaudentius, tract. XII 6 mit Joh. 19, 11 kombiniert hat.